Die Trümmer rauchten. Qualm und Staub waberte in Wolken über die Straße, als der Pickup hielt.
„Ist der Kerl tot?“, fragte Saskia.
Sie war übergewichtig und muskulös, hatte kurzes, blondes Haar und Tattoos, die sich über ihre Schultern und Arme zogen. Mitleidslos starrte sie auf die zerlumpte Gestalt, die vor dem in Trümmern liegenden Gebäude auf der Straße zusammengebrochen war.
Jake sprang von der Ladefläche und trat vor. Seine schwarzen Stiefel knirschten auf den weißen Trümmern, die auf die Straße gerollt waren. Mit dem Maschinengewehr stieß er den leblosen Mann an.
„Hmm“, brummte der Weiße. „Der atmet noch.“
„Dann such nach Geld.“ Saskia hatte den Kopf aus dem Seitenfenster geschoben. „In dem Laden da finden wir ja nix mehr.“
Jake kniete sich nieder. Er begann, die Taschen des Mannes abzuklopfen.
Mit einem Stöhnen kam der Verletzte zu sich. „Finger weg …“
Jake schnaubte belustigt und machte weiter.
Jedenfalls, bis sich dünne, jedoch kräftige Finger um sein Handgelenk schlossen. „Finger weg, Arschloch.“
Jake sprang auf und zog die Waffe vor sich. Der Fremde war schneller, packte das Geweht und richtete den Lauf auf das Auto, als Jake schoss.
Die Kugeln durchschlugen die Windschutzscheibe. Saskia schrie auf. Basti, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, was sofort tot.
Jake starrte entsetzt zum Wagen. „Scheiße …“
Dann traf ihn ein Messer in den Magen. Er ächzte auf und ging in die Knie.
„Du verdammter Scheißkerl!“, brüllte Saskia und suchte nach ihrer Waffe. Unmöglich, die Pistole war zwischen ihr und dem Rücksitz so eingeklemmt, dass sie sie kaum ziehen konnte.
Der Fremde erhob sich schwerfällig. Er taumelte leicht. Putz rieselte von seinen Schultern, vermutlich aus dem eingestürzten Markt hinter ihm. Irgendwie musste er sich aus dem Trümmerhaufen gewühlt haben.
Saskia sah hasserfüllt auf und trat aufs Gas. Der Pickup sprang vorwärts, doch sie hatte zu viel Zeit mit der Suche nach der Pistole vergeudet. Schüsse rissen die Scheibe auch vor ihr auf. Glassplitter regneten auf ihren Leib, als dieser getroffen wurde. Der Wagen holperte von der Seite, an dem Fremden vorbei, den sie eigentlich hatte überfahren wollen, und in ein anderes geparktes Auto.
Mit schweren Schritten trat der Mann zu dem Pickup, der durch den Aufprall gebremst worden war. Er öffnete die Seitentür und zerrte die Fahrerin raus. Saskia röchelte noch, doch wehren konnte sie sich nicht mehr.
Dann beugte der Fremde sich vor und stieß Basti auf der anderen Seite raus. Nur am Rande bemerkte er die Vorräte der Gruppe auf dem Rücksitz. Stöhnend und ächzend stieg er ein, seine Schmerzen ignorierend. Er musste mindestens eine gebrochene Rippe haben.
Aber das war egal. Noch pumpte Adrenalin durch seine Adern. Und er hatte ein Ziel.
Nach einem letzten Blick zu Saskia und Jake, die in wachsenden Blutlachen auf dem Boden lagen, startete er den Wagen und wendete zwischen den Sterbenden hindurch. Dann drückte der Spanier aufs Gas und steuerte den Wagen über die Straße, zwischen Trümmern und geplünderten Autos hindurch.
~*~
Schweigend saßen sie im Wohnzimmer. Nur das Klicken der Tastatur durchbrach die schockierte Stille. Jene Geräusche, mit denen sich Keelan durch einen Wust aus Internetseiten klickte.
Jeder neue Artikel bedeutete einen neuen Schock. Viele Nachrichtenseiten waren auch nicht länger aktuell. Keelan hatte versucht, ihren Eltern eine Mail zu schreiben – Geht es euch gut? Wo seid ihr? Ich sitze in Deutschland fest. – doch beim Absenden war eine Fehlermeldung zurückgekommen. Auch die Sozialen Medien funktionierten nicht mehr. Das Internet bot sich wie ein Körper dar, in dem ein Organ nach dem nächsten ausfiel, der seine letzten, qualvollen Züge tat.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte sie schließlich leise.
Markus und Lucas schwiegen. Sie schienen ebenso geschockt zu sein wie Keelan.
„Wir müssen die anderen holen!“, sagte sie dann. „Sie sind noch da draußen und …“
Da draußen war die Hölle los. Infrastruktur war zusammengebrochen. Manche Seiten warnten vor Atomkraftwerken, die ohne Wartung bald in die Luft gehen würden. Es gab Meldungen über Umweltkatastrophen und über ausgebüxte Zootiere.
Wie sollte jemand da draußen überleben?
„Wir wissen ja, wo sie sind“, murmelte Markus. „Es muss nur jemand bis zu ihnen gelangen.“
„Hoffentlich geht es ihnen gut.“ Keelan dachte daran, dass sich außer Markus auch noch andere vergiftet haben könnten. Sie klappte den Laptop zu und sprang auf. „Ich gehe sie suchen! Ihr beide bleibt hier und …“
„Ich könnte in den Häusern in der Nähe nach Nahrungsmitteln suchen“, schlug Lucas vor. „Die Leute da brauchen sie vermutlich nicht mehr.“
Keelan zögerte. Der Gedanke, etwas zu stehlen, missfiel ihr. Andererseits hatte Lucas vermutlich recht. „Mach das“, sie nickte.
„Ich richte das Haus ein und sehe zu, dass wir uns vor Stürmen und so schützen können“, schlug Markus vor.
„Aber streng dich nicht zu sehr an“, warnte Keelan. „Nicht, dass es dir am Ende noch schlechter geht.“
~*~
Thomas erschauderte beim Anblick des abgestürzten Flugzeugs. Das Metall des Riesen war gefaltet wie Papier, nur an den Kanten, wo die Hülle absplitterte und die gezackte Linie der Stahlträger preisgab, offenbarte sich, dass es keineswegs Papierflieger waren.
Das Flugzeug war in ein Gebäude neben der Startbahn gekracht. Der aufgerissene Asphalt und das eingebrochene Haus zeugten von den gewaltigen Kräften, die hier geherrscht hatten.
Feuer hatte Boden, Maschine und Haus geschwärzt. Die Türen waren derartig eingebeult, dass sie vermutlich nicht öffnen lassen würden. Die Schnauze des Flugzeugs war aufgerissen und zerfetzt wie nach einer Explosion.
Thomas drehte sich zu Simon um, der gerade aus dem kleinen Flieger kletterte. „Das ist furchtbar!“
Simon nickte, die Lippen fest zusammengepresst. „Es ist niemand gekommen, um ihnen zu helfen.“
„Ihn…“ Thomas schluckte. Natürlich, in der Maschine waren Leute gewesen. Menschen. Wieder sah er zu den verkeilten Türen, zu den Spuren von Rauch und Feuer.
Diese Leute waren eingeschlossen gewesen, während das Feuer die Maschine erfasst hatte. Ohne eine Möglichkeit, vor Hitze und Rauch zu fliehen, sicherlich verletzt durch den Aufprall.
„Komm.“ Simon riss ihn aus seinen Gedanken, worüber Thomas sehr dankbar war. „Die Blackbox müsste sich im Heck befinden.“
Sie arbeiteten sich durch das Geröll, das das abstürzende Flugzeug hinterlassen hatte. Scherben des Rumpfes lagen kreuz und quer verstreut, manche größer als Thomas und Simon, andere winzig. Sie schleppten Brocken von kaputtem Metall zur Seite, bis Simon schließlich einen Ruf ausstieß.
„Da!“
„Was?“ Thomas wäre beinahe gefallen, als Simon das Trümmerstück losließ, dass sie soeben gemeinsam zur Seite gezogen hatten.
Aufgeregt lief Simon dorthin, wo das Trümmerstück gelegen hatte, bückte sich und hob einen orangenen, zerbeulten Metallkasten an.
„Das ist die Blackbox?“, fragte Thomas.
Der Kasten hatte die Größe eines kräftigen Armes, nur etwas langgezogen, und war sichtlich schwer. Neben einem Kasten, der die Hälfte der Konstruktion einnahm, war ein Kokon montiert, der wie ein sehr kleiner Feuerlöscher aussah und einen Griff hatte. Simon brachte ihn mit langsamen Schritten fort vom Flugzeug. Dessen Leichnam knarzte leise unter seinem eigenen Gewicht.
„Wir haben sie.“ Simon strich andächtig über das Metall. „Hoffentlich ist der Inhalt noch intakt! Aber so sollte es immerhin kein Problem darstellen, sie zu öffnen.“
„Öffnen?“
„Normalerweise kriegt man die nur mit speziellem Gerät auf“, erklärte Simon. „Die Schreiber sind dafür gebaut, Abstürze, Hitze, Kälte und sogar Säure zu überstehen – aber hier, diese Box ist bereits aufgebrochen.“ Simon zeigte ihm eine Stelle, wo das Metall aufgebogen war, sodass man ein wenig vom Inhalt erkennen konnte.
Thomas erkannte nicht mehr als gesplitterte Schwärze, vermutlich eine weitere Schicht Aufprallschutz.
Simon setzte die Blackbox ab und streckte den Rücken durch. „Das Auslesen wird das eigentliche Problem.“
„Was brauchen wir dafür?“
„Eigentlich ein spezielles Labor. Vielleicht könnte ich mit meiner Ausrüstung etwas basteln, aber ich habe so was noch nie gemacht. Andererseits wissen wir nicht, ob das Labor hier noch besetzt ist.“
~*~
„Was soll das heißen, sie kommen nicht wieder?“, fragte jemand laut.
Riikka, die eigentlich nur in Ruhe ihr Bier trinken wollte, hob widerwillig den Kopf. Sie fand sich immer noch im Zentrum der Aufmerksamkeit wieder.
Ein stämmiger Mann erhob sich. Er hatte fettiges, blondes Haar, was ihn nicht von den anderen Gestalten im Pub unterschied. Sie alle hatten harte Nächte ohne die Annehmlichkeiten der Zivilisation hinter sich. Dieser Kerl war jedoch kräftig und besaß noch genug Energie für Wut.
„Das Flugzeug ist weg“, wiederholte Riikka ruhig.
„Und du? Du bist einfach ausgestiegen, oder wie?“
„Ganz genau. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen.“
„Und das sollen wir dir glauben?“, fragte der Mann. Zustimmendes Gemurmel erhob sich im Hintergrund.
„Natürlich …“ Riikkas Stimme wurde jedoch leiser. Unsicherer.
„Niemand wirft einfach so eine Chance weg, mit einem Flugzeug weiterzufliegen!“, grollte der Mann.
Weitere Männer erhoben sich, bis sie Riikka wie eine dunkle Wand einkesselten. Sie rutschte auf ihrem Stuhl zurück.
„Du bringst uns sofort zu deinen Freunden!“, verlangte der Mann.
„Sie sind weg!“, rief Riikka. „Da ist niemand me…“
Der Kerl zog eine Pistole.
Ein eisiger Schauer überlief Riikka. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und sie erstarrte. Andere Gäste stießen erschrockene Schreie aus.
„I-in Ordnung.“ Vorsichtig hob sie die Hände. „Ich bringe euch zum Flughafen. Aber dort ist niemand mehr.“
Das würden die Kerle dann allerdings auch selbst sehen. Langsam stand Riikka auf.
Der Mann mit der Pistole bedeutete ihr ungeduldig, voran zu gehen. Als sie ihm den Rücken zukehrte, prickelte ihre Haut unangenehm.
Riikka trat nach draußen. Knapp zwanzig Mann folgten ihr, in einigem Abstand schlossen sich jedoch die weiteren Gäste an. Riikka hörte ihr nervöses Gemurmel, während sie den Weg einschlug, aber sie sah kaum zurück.
Der Abend senkte sich mit eisiger Kälte und Dunkelheit. Der Wind blies Riikka klagend entgegen.
„Schneller“, drängte der Wortführer.
Ihre müden Füße schmerzten. Sie schleppte sich verbissen voran. Ihre Gedanken rasten, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Der Weg zum Flughafen war lang. Hoffentlich würden sich die erhitzten Gemüter bis dann etwas beruhigt haben.
Sie hob den Blick zum Horizont, wo die Straße zwischen den Häusern hindurch in Finsternis verschwand. Im Kopf ging sie die Kilometer durch, die sie bis zum Pub genommen hatte. Sie war sich überwiegend sicher, den Weg zu kennen.
„Es tut mir leid, dass ich euch nicht helfen kann“, sagte sie leise.
„Klappe halten“, knurrte der Mann hinter ihr. Sie spürte hartes Metall, das in ihren Rücken stieß. „Deine Ausreden kannst du dir sparen.“
~*~
„Wir sollen was tun?“, fragte Jayden entgeistert. „Das ist doch verrückt.“
Seth ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. „Ansonsten müssen wir zahlen. Hast du 300 Dollar?“ Er zog die Tür zu. Die Biker reagierten sofort und schlenderten gemütlich um das Auto herum, stellten sich in einem Halbkreis auf, sodass sie nicht einfach von der Tankstelle fahren konnten.
Jayden verzog das Gesicht. „Klar, aber nicht dabei.“ Er begann, seine Taschen zu durchwühlen.
Seth seufzte und zückte widerwillig sein eigenes Portemonnaie. Er hatte nicht viel Geld in der Wohnung behalten, als Enila gefahren war. Er wollte sie beide ja nicht in den Ruin treiben, aber wer konnte schon im Vollrausch sinnvolle Geldentscheidungen treffen? Es war eine Sicherheitsvorkehrung gewesen. Jetzt zog er allerdings unwahrscheinliche sieben Doller hervor. „Verdammte Scheiße …“
Jayden breitete zerknitterte Dollarscheine auf dem Armaturenbrett aus und zog noch einen Schein aus seinem Stiefel. Jayden überschlug, was er sah.
Das waren insgesamt 175, mehr oder weniger. Sie waren nicht mal ansatzweise an den 300 dran.
Jayden raffte die Scheine dennoch zusammen.
„Ich mach schon“, bot Seth an.
Jayden überlegte kurz, nickte dann und drückte ihm das Geld in die Hand. „Falls es ihnen nicht reicht, kann ich mehr holen. Sie müssen mich nur zu einer Bank lassen.“
„Falls die Automaten da noch funktionieren.“
Grenade erwartete ihn bereits, als er ausstieg. Die Biker hatten beobachtet, wie sie ihr Geld zusammenrafften. Seth bewegte die Rückenmuskeln in einem verzweifelten Versuch, sich unauffällig zu lockern. Er war nicht sicher, was passieren würde. Vielleicht würden die Biker ihre kümmerlichen Ersparnisse als Beleidigung ansehen. Vielleicht würden sie darauf bestehen, dass sie diesen dummen Ballon holten.
„Mehr haben wir nicht.“ Seth hielt Grenade den Stapel hin.
„Hab‘s gesehen“, brummte der Biker und nickte zum Auto. Natürlich, sie hatten das Ganze durch die Scheibe beobachtet.
Grenade nahm das Geld, blätterte durch und reichte Seth zwei Fünfdollarnoten. „Weil ich euch mag. Und jetzt verpisst euch.“
„Klar.“ Seth versuchte, sich seine Überraschung nicht anzumerken. Sein Blut pumpte kampfbereit, auch noch, als er zum Auto ging. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Grenade dem Rest einen Wink gab.
Statt auf dieses Zeichen hin loszuballern zogen sich die Biker zurück. Seth schlüpfte in die Karre.
Jayden umklammerte das Lenkrad mit blassem Gesicht und ließ hastig den Motor an.
„Die lassen uns gehen!“, murmelte er. „Einfach so.“
„Fahr schon“, brummte Seth. Er würde es nicht zugeben, aber er konnte es nicht erwarten, etwas Abstand zwischen sich und die Tankstelle zu bringen.
Am liebsten … mehrere Meilen.
~*~
Mit angehaltenem Atem duckte Kit sich tiefer zwischen die Jacken auf dem Drehständer. Ihr Herz pochte schnell vor Angst. Ängstlich umklammerte sie den Bogen. Wenn sie bloß Pfeile hätte!
Sie suchte zum wiederholten Mal nach einem Ausweg, aber ihr wollte sich keine Öffnung auftun. Die fremden Menschen strömten dabei in den Laden. Kits Ohren zuckten jedes Mal, wenn eine Stimme aus einer neuen Richtung erklang. Sie wurden immer lauter, kamen näher.
„Na, wie sehe ich aus?“, rief ein Mädchen und drehte sich lachend in einer warmen Jacke. Sie tanzte den Gang hinunter, während ihre Begleiter ihr Komplimente zuriefen.
Kit zog die Knie enger an und robbte unter den Kleiderständer. Sie drängte sich zwischen die Jacken, aber die Haken über ihr klirrten verräterisch.
Das Gelächter der fremden jungen Frau verstummte.
„Was hast du?“, rief ein Mann.
„Wer ist da?“, rief sie, statt zu antworten. Kit hörte ein Klicken. Ein Gewehr, das entsichert wurde. Das kam von links von ihr.
„Tony, weg da!“, knurrte ein Mann ruppig.
„Das ist bestimmt nur ein Tier“, antwortete die Frau, offenbar ‚Tony‘. Langsam kamen ihre Schritte näher. Ein leises Tapsen, das Kit über dem Donner ihres eigenen Herzschlags kaum hören konnte. Sie sprang auf und aus ihrem Versteck. Den Bogen gegen die Brust gepresst sah sie sich gehetzt um.
„Huch!“, rief eine blonde Frau, als sie Kit bemerkte. „Wer bist du denn?“
Schritt für Schritt wich Kit zurück. Sie legte die Ohren an und fauchte. Ringsum sah sie mehrere Männer, die mit Waffen auf sie zielten. Ihr Blick sprang über die Läufe von Gewehren und Pistolen.
„Nehmt die Waffen runter!“ Tony erkannte Kits Furcht sofort und gab ihren Begleitern einen Wink.
„Was ist das?“, flüsterte ein bärgestaltiger Mann in rotem Holzfällerhemd und mit dichtem, schwarzem Bart. Sein Haupthaar war unter einer Wollmütze verborgen. Er war der Letzte, der die Waffe sinken ließ, in seinem Fall ein schlankes Jagdgewehr.
Kit erstarrte. Sie spürte die vielen Blicke, die auf sie gerichtet waren, beinahe körperlich.
„Hey“, sagte die Frau leise und besänftigend. Sie griff in ihre Tasche.
Kit wich weiter zurück, doch dann zog Tony nur ein Stück Fisch hervor. „Hast … hast du Hunger?“ Mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel starrte sie Kit an, sowohl ihre fetzenartige Kleidung als auch ihre Ohren. Sie warf den Fisch bis vor Kits Füße.
Kit starrte auf die Nahrung. Ihr Magen rumorte, während ihre Gedanken rasten. Diese Leute schenkten ihr etwas. Dann konnten sie keine Feinde sein, richtig?
Eilig bückte sie sich, hob den Fisch auf und steckte ihn in den Mund. Sie schmeckte Lachs auf der Zunge, gebratenen Lachs. Den kannte sie nur aus den vielen Testreihen im Labor, die ihre Geschmackssinne entwickelt hatten.
Tony lächelte zaghaft. „Jetzt wird alles gut.“
Kit merkte, dass sie sich entspannte. Ihr Atem wurde langsamer, ihr Herz beendete seinen panischen Galopp. Ihre Lider wurden schwer.
Sie spürte einen seltsamen Geschmack auf der Zunge und starrte auf den Lachs. Dunkelheit flutete ihr Gesichtsfeld von allen Seiten. Das Essen noch immer mit beiden Händen umklammert sank sie zu Boden, während sie hörte, dass die Menschen erleichtert aufatmeten. Dann konnte sie nicht länger gegen die Müdigkeit ankämpfen.
~*~
Er hielt den Atem an und duckte sich tiefer hinter die Kisten. Dann, als er die Männer abgelenkt wähnte, die das Lager übernommen hatten, huschte Ethan über den Weg und zwischen die unordentlich verteilten Zelte.
Hier gab es fast unendliche Versteckmöglichkeiten. Die Zeltstadt erstreckte sich unübersichtlich über den Strand.
Geduckt schlich Ethan vorwärts. Die Decke, die er mitgenommen hatte, hielt er an die Brust gepresst.
Hoffentlich würde niemand ihr Fehlen bemerken. Doch er bezweifelte es, angesichts des Zustands, in dem sich das Lager befand.
Obwohl er sich der Gefahr bewusst war, wollte er noch nicht zurückkehren. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals – doch er wollte einen Überblick. Wie viele Leute waren an dem Aufstand beteiligt? Wo waren die anderen Schiffbrüchigen? Wo befanden sich die Vorräte, wo die Waffen?
Er musste alles wissen.
So leise er konnte schlich er zwischen den Zelten hindurch, immer auf der Hut vor den anderen Menschen. Doch obwohl er sich bemühte, unsichtbar und leise zu sein, merkte er plötzlich, dass er umzingelt war.
Die Menschen hatten begonnen, die Zelte abzusuchen. Zu spät war ihm bewusst geworden, dass sie systematisch vorgingen, um jeden zu finden, der sich bei dem Überfall versteckt hatte.
Oder der sich jetzt hier versteckte.
Noch während Ethan panisch überlegte, ob er sich in einem Zelt verstecken oder lieber wegrennen sollte, hörte er plötzlich einen Ruf.
„Heda! Wer bist du?“
Das Herz sank ihm in die Hose, während er sich umdrehte.
~*~
Rita rückte sich bequemer zurecht und kratzte ihre Schulter. Schweiß hatte ihr T-Shirt durchtränkt und sickerte in das Polster des Sitzes. Sie bekam den Gestank nicht aus der Nase.
Ihr war warm. Ihr Herz raste. Ihre Zunge fühlte sich an, als wäre sie angeschwollen und zu dick, um daran vorbei noch zu atmen. Verstohlen öffnete Rita immer wieder den Mund für hechelnde Atemzüge.
Sie würde das hier nicht mehr lange durchhalten. Ihre Kehle kratzte. Ihre Finger bebten. Aus trockenen Augen blinzelte sie im Flugzeuginnenraum umher. Vielleicht, nur vielleicht, hatte sie bei den letzten Malen etwas übersehen. Eine Flasche, die sich unter einem Sitz verbarg. Oder ein Fläschchen Tinktur.
Verdammt, Hauptsache irgendwas!
Durch den Nebel, der ihre Sinne überdeckte, drangen Rufe aus dem Cockpit.
„Was ist denn los?“, rief Jochen.
„Halt die Klappe“, brummte Rita ihren Mann nahezu instinktiv an. Seine näselnde, weinerliche Stimme ging ihr momentan besonders auf die Nerven.
„Die Instrumente sind ausgefallen. Die Anzeigen spielen verrückt“, antwortete Musa trotzdem. „Nurrudin tut, was er kann.“
„Ausgefallen?“
„Sei endlich still!“, fuhr Rita ihren Mann an. Ihre Schläfen pochten. Ein unerträgliches Kreischen gesellte sich hinzu. Zuerst glaubte sie, es wäre nur in ihrem Kopf, aber dann wurde ihr klar, dass der Wind um und durch das Flugzeug pfiff.
Die Kälte auf ihrer verschwitzten Haut vertrieb einen Teil des Nebels um ihre Sinne. Rita umklammerte die Lehnen ihres Sitzes.
Dann verstummte das Pfeifen mit einem Mal. Ruckartig legte sich die Maschine schief. In einem Moment absoluter Stille schwebten sie schwerelos im Nichts. Draußen war es zu dunkel, um mehr als Schwärze zu erkennen, doch Rita sah einzelne Regentropfen auf das Fensterglas treffen.
Dann wurden es mehr.
Und mehr.
Und dann folgte das Prasseln, laut wie das Hämmern eines Presslufthammers. Jochen und Sun schrien auf. Das kleine Flugzeug erbebte, als der Sturm aus dem Nichts die Maschine packte.
~*~
Ein Schuss zerriss die friedliche Stille über dem italienischen Strand.
Ruben sprang auf, während das Echo des Knalls durch die Luft scholl. „Was war das?!“
Daniel brauchte natürlich nicht zu antworten. Ruben wusste es auch so.
Ein Pistolenschuss.
Nein! Das durfte nicht wahr sein! Wer hatte geschossen? Und – viel wichtiger – worauf?
„Das klang nicht gut“, stellte auch Daniel fest. Er erhob sich, verzog das Gesicht vor Schmerz, und ließ sich wieder sinken.
Ruben starrte zum Lager. Hoffte darauf, Ethan zu sehen. Doch keine Gestalt löste sich von den Zelten, die in zunehmender Dunkelheit lagen.
„Ich sehe mir das an …“, hörte er sich sagen. Schon hatte er ein paar Schritte vorwärts gemacht. Er musste einfach wissen, ob es Ethan gut ging.
„Ruben …“
„Warte hier. Du bist verletzt, vielleicht muss ich schnell zurückrennen“, sagte er. „Ich bin sofort wieder da, aber … versteck dich besser.“
Ruben befolgte auch seinen eigenen Rat. Noch während er loslief, wurde ihm klar, dass im Lager ein Kerl mit einer Waffe war. Ethan hatte keine Pistole bei sich gehabt.
Ruben vertraute zwar auf den Schutz des Herrn, aber er wollte es dem Schöpfer einfach machen, ihn zu beschützen.
Schon weit vor dem Lager ließ er sich auf den Bauch sinken und robbte im Schutz der Büsche vorwärts. Sein Atem rasselte. Er hielt an, als er noch gut fünfzig Meter von den Zelten entfernt war.
Dann sah er Menschen, die dem Weg folgten und in Sichtweite traten. Eilig zog er den Kopf ein.
Was sie redeten, konnte er nicht verstehen, doch er sah die schlaffe Gestalt, die sie mit sich zerrten. Ethan, ganz eindeutig!
Ruben atmete auf, als er sah, dass Ethan sich noch bewegte. Er zappelte. Einer der anderen Männer trat ihn und der Schrei hallte bis zu Ruben.
Ethan war offenbar verletzt. Es musste eine Wunde am Bein sein, und Ruben vermutete, dass das die Schusswunde war. Ob Ethan versucht hatte, zu fliehen? Jedenfalls sah es nicht so aus, als würde er freiwillig mit diesen Leuten gehen.
Was waren das für Leute? Was hatten sie vor?
Drei spaltete sich von der größeren Gruppe ab. Der Rest setzte sich an das Zelt, an dem früher die Essensausgabe gewesen war. Die Drei nahmen Ethan und schleppten ihn an den Rand der kleinen Behelfssiedlung.
„Boah, Scheiße, ihn abzuknallen wäre viel leichter“, schimpfte einer, während Ruben die Augen schloss und das Gesicht in den Sand presste, um sich zu verstecken.
„Wär’s nicht“, brummte ein anderer. „Die Leiche müssten wir auch wegschaffen und so kann der Arsch immerhin hüpfen.“
„Lasst mich los!“ Das war Ethans Stimme. „Pfoten weg!“
Das klatschende Geräusch eines Schlags. „Klappe. Bist du allein hier?“
Eisige Panik grub sich in Rubens Magen, jedoch nur für eine Sekunde. „Ja.“
„Ach? Die Spähtrupps wurden doch immer zu zweit losgeschickt.“
„Das stimmt, aber der Typ, mit dem ich losgegangen bin, hat sich den Knöchel verstaucht. Der sitzt am Strand, dort.“
Ruben wagte es, den Kopf zu heben. Er blinzelte Sand weg und sah, wie Ethan in die Richtung deutete, aus der sie nicht gekommen waren.
Den Mut des Anderen konnte er nur bewundern. Er selbst wagte es nicht einmal, weiter den Kopf oben zu halten.
„Wir gehen ihn suchen. Du betest besser, dass er da ist!“, knurrte ein Mann.
„Natürlich ist er da.“ Ethan schnaubte. „Warum sollte ich lügen? Wäre doch besser für mich, wenn er in der Nähe ist, um mich zu retten – oder ihr das glaubt.“
Ruben bohrte die Finger in die Erde. ‚Bitte guckt nicht her, bitte guckt nicht her …‘, betete er in Gedanken.
Der Herr schien ihn zu erhöhen. Niemand brüllte etwas in der Art von „Erschießt den Dicken da!“
„Dann komm jetzt!“, knurrte einer der drei Männer. Ein Schmerzenslaut von Ethan folgte, als er offenbar unsanft vorwärts gezwungen wurde.
Ruben riss den Kopf wieder hoch. Die Männer gingen vom Lager weg, schräg an ihm vorbei. Sie zerrten Ethans ins Landesinnere. Zwei schleppten ihn vorwärts, der dritte folgte mit einem Gewehr im Anschlag.
Der Teufel musste in diese Leute gefahren sein. Ruben hatte inzwischen begriffen, dass das Lager zu leer war. Wo waren die ganzen anderen Menschen hin?
Er hätte die Chance, das herauszufinden. Er müsste nur allen Mut zusammennehmen und Ethan folgen. Sehen, wohin sie ihn brachten.
Und dann …
Wäre er mutig genug, sich den drei Männern zu stellen? Oder Ethan irgendwo zu befreien, wo sie ihn fesseln oder einsperren würden?
Daniel fiel ihm ein. Sollte er ihm nicht lieber zuerst Bescheid sagen? Aber was, wenn er Ethans Spur dann nicht mehr wiederfand?
Und welche Sorgen würde sich Daniel machen, wenn Ruben jetzt nicht zu ihm zurückkehrte? Konnte er verantworten, dass diese verrückten Leute auch noch den verletzten Daniel fanden?
Sein Blick glitt zum Himmel. Er hoffte auf ein Zeichen, doch die Wolken und die Abenddämmerung schwiegen.
~*~
„Glaubst du, die haben noch offen?“, fragte Jayden, als sie an einem IHOP vorbeifuhren. Er bremste.
Seth richtete sich auf. Im Verlauf der Fahrt war er immer weiter in sich zusammengesunken.
Er blickte auf die Uhr. „Müsste …“
„Ich meine, mit allem, was gerade passiert.“
„Hm.“
Schweigend spähten sie zum Restaurant rüber. Im Inneren brannte Licht, das in der gerade hereinbrechenden Nacht heller zu werden schien. Doch die Türen waren zu und keine Menschen zu sehen.
Vorsichtig tuckerte Jayden auf den Parkplatz und stellte den Motor ab. Er streckte sich und gähnte.
„Ich kann weiterfahren“, schlug Seth vor.
„Sicher?“
Er nickte. Seit dem Zusammentreffen mit den Bikern war er immer noch aufgeputscht. Es würde guttun, sich auf’s Fahren zu konzentrieren.
Vor allem wollte er auch keine Zeit auf eine Pause vergeuden. So lange er noch wach war, würde er sich Meile für Meile näher zu Enila vorarbeiten.
„Meinetwegen.“ Jayden stieg aus und marschierte zum IHOP. Er rüttelte an der Tür, doch die ließ sich nicht öffnen. Dann klopfte er an die Scheibe und spähte ins Innere.
Seth stemmte sich in die Höhe und schlenderte hinterher. „Keiner da?“
„Offenbar haben sie nur das Licht nicht gelöscht.“
„Vermutlich gegen Einbrecher. Sollen wir rein?“ Seth begann, seine Jacke auszuziehen.
„Nein!“, widersprach Jayden entsetzt. „Lass das bloß bleiben, Mann.“
„Willst du was essen oder nicht?“
„Schon.“ Jayden drehte um. „Aber wir haben noch was. Ich will nicht wieder irgendwo einbrechen.“
„Daran stößt sich hier doch kein Schwein!“ Immerhin stand der IHOP an einer Kreuzung vor dem nächsten Highway. Die Straßen waren verwaist, unter dem flackernden Licht einzelner Straßenlaternen.
Ideale Bedingungen, flüsterte es in Seth. Ihm war danach, irgendwas zu zerschlagen.
Jayden holte in der Zwischenzeit eine Dose aus dem Kofferraum und bastelte mit einem Feuerzeug herum, um das Essen aufzuwärmen.
Seth verzog das Gesicht. Schon wieder ungenügend aufgewärmter Dosenfraß. Nahrung, die sie aus der Schule gestohlen hatten. Das Zeug war ja nicht mal lecker gewesen, als es noch frisch gewesen war.
Aber … „Beggars can’t be choosers“. Er hatte in seinem Leben wahrlich Schlimmeres gegessen.
Er warf einen letzten, wehmütigen Blick zurück zum verlassenen IHOP und trottete zu Jayden.
~*~
Die anderen waren nicht so weit gekommen, wie sie vielleicht erhofft hatten. Keelan fand Fynn, Maximilian, Richard, Malte und Nils am Rand der kleinen Ferienhaussiedlung, wo sie sich in einem Gartenhäuschen im Vorgarten eingerichtet hatten.
Sie hatte gar nicht damit gerechnet, die fünf so rasch zu finden, und wäre wohl an ihnen vorbeimarschiert, wenn nicht Maximilian zum gleichen Zeitpunkt versucht hätte, die Haustür aufzubrechen. Die lauten Schläge, mit denen er sich gegen das Holz warf, waren nicht zu überhören.
„Hey!“, rief Keelan. „Max.“
Er drehte sich um und riss die Augen auf. „Keelan!“
Sofort tauchten die vier anderen aus dem Gartenhäuschen auf und begrüßten sie.
„Geht es euch gut? Markus hat sich mit Schimmelpilzen vergiftet oder so, als wir im Hotel waren.“
„Das könnte meine Bauchschmerzen erklären“, murmelte Malte gedehnt.
Es sah aber nicht so aus, als würde es einem von ihnen so schlecht wie Markus gehen.
„Wir haben das Haus gefunden“, erklärte Keelan. „Kommt ihr mit?“
Die fünf stimmten fast sofort zu. Offenbar hatte die Nacht im Freien die erhoffte Wirkung auf sie gehabt. Während die Männer ihre Sachen zusammensuchten, bemerkte Keelan eine dunkle Wolke am Himmel.
Sie runzelte die Stirn und folgte der Straße ein Stück weiter. Schließlich konnte sie, am Hang unter sich, die Stadt sehen. Rauch stieg aus einigen Gebäuden auf und vereinigte sich zu der schmutziggelben Wolke, die ihr aufgefallen war.
„Deswegen sind wir hiergeblieben“, sagte Fynn, der zu ihr trat. „Gestern gab es einen riesigen Brand.“
„Wie furchtbar!“ Keelan musste an die Menschen denken, die sicherlich noch in der Stadt waren. „Die Leute brauchen bestimmt Hilfe!“
„Vermutlich“, gab Fynn zu. „Ich weiß nur nicht, ob wir helfen können.“
„Womit denn?“, fragte Nils. Er war ebenfalls fertig und kam zu ihnen. „Wir haben nichts übrig, was wir abgeben können!“
„Wir sollten es dennoch versuchen“, fand Keelan, ehe sie sich umdrehte. Alle fünf Männer waren bereit. „Aber zuerst bringen wir euch zu unserem momentanen Zuhause.“
Während sie den Weg vorauslief, kreisten ihre Gedanken um das Feuer und darum, wie sie helfen könnte. Die Meldungen im Internet erzählten von so vielen Katastrophen, dass sie sich furchtbar hilflos fühlte. Aber vielleicht könnte sie wenigstens hier etwas ausrichten.
Auch Fynns Gruppe hatte inzwischen gemerkt, dass irgendwas faul war. Es war keine Feuerwehr und keine Hilfe zu der brennenden Stadt geeilt. Leise berichtete Keelan von den wahren Ausmaßen der Katastrophe, die sie erfahren hatte. Schweigend nahmen die Dolmetscher das Wissen auf.
Als sie am Haus ankamen, war Lucas noch nicht zurück. Markus begrüßte die fünf mit einem herablassenden Schnauben, weil er seine Position bestätigt sah. Bevor Fynn darauf einging und ein neuer Streit entbrannte – Keelan sah ihn bereits kommen, als die beiden Männer einander erblickten – holte sie ihren Laptop und brauchte die Männer auf den gleichen Stand.
„Ich möchte wenigstens nach unten gehen und gucken, ob ich jemandem helfen kann“, sagte sie. „Außerdem klappt das Telefon hier nicht, aber vielleicht noch unten in der Stadt. Da wir Internet haben, besteht noch Hoffnung auf das Handynetz.“
„Markus sollte aber nicht weg“, sagte Malte. „Und ich würde bei ihm bleiben.“
„Oh, ihr müsst nicht alle mitkommen!“, stellte Keelan eilig klar. „Ich weiß auch gar nicht, was ich machen soll, wenn wir Überlebende finden.“
„Ach, komm.“ Alle drehten sich um, als Lucas‘ Stimme erklang. Er war hinter ihnen aufgetaucht. „Wir haben hier lauter leere Häuser. Wir müssen sie nur aufkriegen.“
„Ich könnte da was versuchen“, murmelte Nils und zog ein paar Dietriche hervor.
„Bist … bist du ein Einbrecher?“, fragte Keelan mit einem nervösen Lachen.
„Nein, keine Sorge. Ich habe mir das mal aus einer Serie abgeguckt.“
Keelan überlegte. Sollte sie wirklich versuchen, hier irgendwas zu bewirken? Sie waren zu acht – nicht gerade eine Armee. Was konnten sie denn überhaupt bewirken?
Sie dachte an die verschiedenen Hilferufe, die ihr aus dem Netz entgegengesprungen waren. Zu gerne würde sie all diesen Menschen helfen, aber was wäre wohl kaum möglich.
Aber nichts tun angesichts dieser Katastrophe? Nein, das ging nicht!
Markus ergriff den Laptop. „Ähm, darf ich?“
Keelan nickte. „Was hast du vor?“
„Ich hab‘ einen Post gesehen von Leuten, die ein Privatflugzeug haben und Hilfe anbieten. Aber auf Französisch.“ Er grinste schief. „Ich könnte das übersetzen.“
„Das … ist eine gute Idee!“, stellte Keelan erstaunt fest. „Da ist wirklich jemand, der einfach so Hilfe anbietet?“
„Sogar ein paar, hast du die nicht gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf. Gegen Ende ihrer Recherchen hatte sie eigentlich gar nichts mehr von dem, was sie gelesen hatte, bewusst aufgenommen. Das war ihr alles zu viel geworden.
Aber natürlich! Es war nur logisch, dass Menschen in der jetzigen Situation nicht nur ihre dunkelste, sondern auch ihre hellste Seite offenbarten. Viele wollten helfen, wenn sie konnten.
Ihre kleine Gruppe ja ebenfalls – warum sollten sie die einzigen sein?
„Mach das mit dem Übersetzen“, bat sie Markus. „Vielleicht kannst du damit ein paar Seelen helfen. Dann … wer kommt mit mir in die Stadt?“
Fynn meldete sich, Lucas machte es seinem älteren Bruder sofort nach.
„Ich suche nach Essen und mache die Häuser auf“, schlug Nils vor.
„Und ich könnte euch was kochen“, schlug Maximilian vor. „Oder habt ihr drei euch im Gegensatz zu uns die Bäuche vollgeschlagen?“
Keelan verspürte wie aufs Stichwort ein Grummeln im Magen.
Dann richteten sich die Blicke auf Richard, der noch keinen Aufgabenbereich hatte. „Ich werde Markus und Malte beim Übersetzen helfen“, schlug er vor.
Ob so viele Leute dafür notwendig waren? Aber Keelan verbiss sich jeden Kommentar. Die Männer hatten sich auch eine Pause verdient, wenn sie die brauchten.
„Gehen wir“, sagte sie zu Fynn und Lucas. „Wir versuchen, bis zum Abend zurückzusein.“
~*~
Neugierig beugte sich Gordon über die zerstörte Drohne. Er stupste ein Kleinteil an, eine Mutter, die neben dem Gehäuse lag. Ob die alte Frau daran herumgeschraubt hatte? Hatte sie die Drohne aus der Luft geholt?
Die ältere Dame trat in ihre Küche und ließ Gordon allein. Er hörte das Klappern von Besteck aus dem Nebenzimmer und sein Magen knurrte vernehmlich.
Doch gleichzeitig erschreckte ihn der Gedanke, dass er nicht wusste, was sie ihm machen würde. Er hatte keine Ahnung, welche Nahrung sie ihm auftischen wollte. Nudeln? Brei? Salat?
Die Ungewissheit weckte seinen Wunsch, laut zu schreien. Seine Haut fühlte sich mit einem Mal heiß und juckend an.
Er musste hier raus!
Leise, um sich nicht auch noch erklären zu müssen, trat er wieder durch die Tür. In der kühlen Abendluft atmete er tief durch. Die Hitze auf seiner Haut schien gelöscht zu werden.
Langsam beruhigte sich Gordon wieder. Er schwankte zwischen Hunger und seinem Wunsch nach Beständigkeit.
Vielleicht würde es besser werden, wenn er wusste, was die alte Dame ihm machen würde!
Kaum, dass ihm der Gedanke gekommen war, lief er auch los. Sein Weg führte ihn durch den Vorgarten zu einer Stelle, wo gelbes, unstetes Kerzenlicht aus dem Küchenfenster nach draußen fiel. Leise schlich Gordon näher.
Schließlich konnte er die alte Frau sehen. Sie stand mit dem Rücken zu ihm an einer Theke und bearbeitete etwas mit einem Messer.
Wobei, es war kein Messer, sondern ein Beil. Eines von der Sorte, mit denen man auch jemanden umbringen könnte.
Irritiert und mit wachsender Nervosität schlich Gordon näher. Er reckte den Hals, um zu sehen, was sie da auf der Anrichte kleinschnitt.
Fleisch. Blutig. Roh.
Aber das war nicht einmal das Schlimmste – sondern der Kopf mit weit aufgerissenen, blinden Augen, der danebenlag.
Ein menschlicher Kopf, am Hals abgetrennt.
Mit einem würgenden Laut stolperte Gordon zurück.
Die Frau hob den Kopf. Rief etwas, sah sich um, trat in die Tür ins Wohnzimmer.
Dann, als sie Gordon in ihrem Haus nicht entdeckte, wirbelte sie herum. Ihr Blick fixierte das Fenster und bohrte sich in Gordons Augen.
Er drehte sich um und rannte.
~*~
Die Müdigkeit hatte ihn schließlich übermannt. Jayden schlief unruhig auf dem Beifahrersitz, immer wieder schreckte er auf, wenn sich das Geräusch des Motors änderte oder Seth sich neben ihm bewegte, aber niemals blieb erlange genug wach, um mehr zu sehen als den Highway, der sich schier endlos vor ihnen erstreckte, gesäumt von Lampen, die wie ein endloser Fluss auf ihn zuströmten.
Selbst im Traum sah er die Straße vorbeigleiten, doch sah er Gestalten am nebelverhüllten Straßenrand wie aus einem Horrorfilm. Manchmal stellte er fest, dass er wach war und dort wirklich jemand lief: Familien mit schwerem Gepäck, einzelne Menschen, manche trugen Verletzte.
Viele streckten die Daumen aus und riefen um Hilfe – doch Seth hielt nicht an. So gerne Jayden diesen Leuten geholfen hätte, er wusste, dass das unmöglich war. Es waren einfach zu viele und er war zu müde, um Seths Entscheidung zu widersprechen.
Er war auch zu müde, um sich deswegen schlecht zu fühlen, obwohl das Gefühl sicherlich kommen würde.
Irgendwann bremste Seth und fluchte unterdrückt.
Jayden zwang seine schmerzenden Lider auf. In seinem Kopf pochte es vor Müdigkeit, doch er zwang sich, nach vorne zu sehen.
Dort, mitten auf der Straße, standen zwei LKW schräg. Zwischen ihnen blieb eine Lücke, in der jedoch drei Bewaffnete Position bezogen hatten. Ein vierter kam gerade auf sie zu, weitere Männer waren auf den Containern der LKWs zu sehen. Zwei rotweiße Absperrungen, vermutlich von der nahen Baustelle, versperrten ihnen den Weg geradeaus.
„Was los?“, fragte Jayden schlaftrunken, obwohl er merkte, wie der Anblick der Waffen ein wachmachendes Prickeln durch seine Muskel jagte.
„Keine Ahnung.“ Seth senkte das Fenster und brüllte: „Was ist hier los?“
„Zoll!“, antwortete der Mann mit einem fiesen Grinsen, der zu ihnen kam. Etwa fünf Meter vor dem Wagen hielt er an. Die Halbautomatik in seiner Hand sah nicht aus, als würde er Scherze machen. „Das is unsere Straße. Wenn ihr durch wollt, müsst ihr zahlen.“
„Wer sagt, dass das eure Straße ist?“, fragte Seth herausfordernd.
„Nicht …!“, zischte Jayden.
Zur Antwort tätschelte der Mann seine Waffe. Er fühlte sich in seiner Rolle entschieden zu wohl für Jaydens Geschmack. „Fünfhundert Dollar!“, rief er zu ihnen herüber.
„Scheiße“, murmelte Seth beeindruckt. Und dann, mit einer irgendwie dunkleren Stimme: „Fahren wir den Kerl über den Haufen!“
„Die erschießen uns vorher“, bremste Jayden ihn. „Und über die Barrikaden kommen wir nicht. Vielleicht … können wir mit Essen zahlen?“
~*~
„Alter!“, zischte Fernando. „Was soll der Scheiß?“
Hector rollte seelenruhig ein Stück Papier zusammen.
„Juan hat uns verboten, unser eigenes Zeug zu nehmen!“, protestierte Fernando.
„Juan ist aber nicht hier, oder?“ Hector schnupfte das weiße Pulver.
Hilfesuchend sah Fernando zu den anderen. Mateo saß bereits am Steuer und schien die Reise bis nach Mataro möglichst rasch hinter sich bringen zu wollen. Felipe machte keine Anstalten, sich gegen Hector aufzulehnen.
Und Iris genoss die Show mit einem schmalen Lächeln. Was für ein unfähiger Haufen! Der Gedanke, dass sie sich zu Beginn vor den Gangstern gefürchtet hatte, erschien ihr jetzt lächerlich.
„Setz dich!“ Hector funkelte Fernando an, der wortlos gehorchte. Wenig später sprang der Wagen stotternd an.
Wie auch beim letzten Mal saß Iris auf der Ladefläche, wo es inzwischen unangenehm kalt wurde. Fröstelnd kauerte sie sich zusammen, um dem Fahrtwind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ihre Haare waren inzwischen rettungslos verfilzt. Auf der unebenen Straße wurde sie heftig durchgeschüttelt und fing sich mit Sicherheit mehr als einen blauen Fleck ein.
Trotzdem war sie müde genug, dass sie immer wieder für einige Minuten einnickte. In ihrem Leben hatte sie schon an unangenehmeren Orten geschlafen. Was manche Städte so taten, um Obdachlose aus ihren Innenstädten fernzuhalten, grenzte an Folter. Dagegen war ein Auto, das sie zu ihrem Ziel brachte, richtiger Luxus.
Sie kam im Morgengrauen wieder zu sich, als das Geräusch des Motors sich veränderte. Mateo wurde langsamer.
Blinzelnd richtete Iris sich auf. Ihr Rücken fühlte sich alt an und beschwerte sich über die unbequem verbrachte Nacht.
Als sie sich umsah, entdeckte sie eine Ansammlung von Häusern, denen sie sich näherten. Mateo hatte soeben die Autobahn verlassen und folgte nun einem kurzen Stück Landstraße.
Aus dem Inneren des Wagens drangen leise, zornige Stimmen. Iris konnte keine Worte verstehen, weil die Gangster wieder Spanisch sprachen, erkannte aber die Stimmen von Fernando, Mateo und Hector.
Plötzlich bremste Mateo abrupt. Gleich darauf wurde die Tür auf der Beifahrerseite aufgerissen. Schimpfend stieg Hector aus und bedachte die Insassen mit wilden Flüchen, deren Bedeutung Iris sich denken konnte.
Dann schlug er die Tür zu und stapfte wutschnaubend davon.
Einen Moment stand der Wagen da. Dann brummte der Motor auf.
„Hey!“, brüllte Hector und fuhr herum. Nicht schnell genug – Mateo drückte auf’s Gas, wich Hector mit einem Schlenker aus und jagte auf die Siedlung zu.
Iris klammerte sich an den Rand der Ladefläche. Eine Tasche löste sich vom Haufen ihrer Vorräte und rollte, ehe Iris sie erwischen konnte, vom Auto. Hector, der ihnen fluchend folgte, blieb immer weiter zurück. Letzten Endes gab er auf und Iris sah noch, wie er die Tasche aufnahm und ihnen grimmig nachsah.
Nach ein paar Kurven in der kleinen Stadt holte Felipe sein Handy raus und die Gangster begannen, die richtige Straße zu suchen. Iris streckte sich vorsichtig, wühlte durch die Taschen, bis sie einen Schokoriegel fand, und frühstückte gelassen.
Schließlich bremsten sie vor einem niedrigen, weißen Bungalow. Iris steckte das Riegelpapier in eine Ritze des Autos und kletterte hinterher.
„Das muss es sein“, meinte Fernando auf Englisch. Die Gangster warteten auf Iris, bevor sie sich der Haustür näherten. Ein kurzer Blickwechsel, dann klingelte Fernando.
Sie warteten. Niemand öffnete.
„Hallo?“, rief Fernando. „Frau Chiara Moretti?“
Sie hörten, wie innen ein Riegel bewegt wurde. „Wer ist da?“, fragte die Stimme einer Frau. Sie sprach Englisch mit einem schweren Akzent und klang etwas älter. Vielleicht um die vierzig.
„Ähh … wir suchen Carmen Manzanares“, antwortete Fernando. „Wir haben Informationen. Unser Boss, Juan, hat sie verfolgt und …“
„Wartet“, befahl die Frau, die vermutlich Chiara war. Iris hörte, wie sie auf der anderen Seite der Tür davon schlurfte. Wohin? Das blieb ihnen ein Rätsel, denn Chiara blieb mehrere Minuten weg.
Die Gangster wurden unruhig. Fernando kehrte zum Wagen zurück, schnallte Lina los und nahm sie auf den Arm.
„Was ist denn mit ihr?“, fragte Felipe leise.
Mateo sah die Straße hinunter. Vielleicht, um zu überprüfen, dass Hector sie nicht einholte.
Dann hörten die Geräusche jenseits der Tür. Die Verriegelung wurde gelöst.
„Frau Moretti – ahhh!“ Fernando stolperte rückwärts, als sich zuerst ein Pistolenlauf aus der Türöffnung schob. Schnell drehte sich der Gangster, um Lina zu schützen.
„So. Ihr habt also von mir gehört?“, fragte die gleiche Frau. „Und was wollt ihr hier?“ Sie war jünger, als Iris erwartet hatte, vielleicht um die 30. Sie trug ein schickes Kostüm und viel zu viel Schminke, die ihre dunklen Augen hervorhoben. Mit einer Kopfbewegung warf sie das dunkelblonde, schulterlange Haar zurück, dann musterte sie die Männer und Iris abschätzig. Sie rümpfte die Nase, als sie ihre Kleidung sah, der man die Nächte auf der Straße anmerkte.
„Wir wollen Carmen finden“, antwortete Mateo. „Das ist doch sicher auch in deinem Interesse – wir wissen, dass Carmen für alles verantwortlich ist, was momentan geschieht.“
Iris reckte den Hals, um durch die Tür ins Innere zu sehen. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf Monitore, über die Zahlenkolonnen flackerten. Herrlich! Sie erkannte Seiten von Geheimdiensten, aber auch einige ihr unbekannte Ansichten. Irgendein Bildschirm zeigte medizinische Werte und das kleine Abbild eines Menschen in T-Pose, der jedoch Tierohren besaß.
Verrückte Sache. Sie wollte unbedingt dort hinein, koste es, was es wolle.
„Meine Informationen sind nicht umsonst“, erklärte Chiara. „Was könnt ihr mir bieten?“
„Wir wissen, wo Carmen herkommt. Ihre Jugend, ihre ersten Schritte, einfach alles. Sie gehörte zu uns, bis sie fliehen konnte. Und jetzt wissen wir auch, wie sie fliehen konnte.“
Die Blicke richteten sich auf Iris.
„Oh, ja, stimmt. Das war ich“, warf sie ein und grinste entschuldigend.
Chiara schnaubte. „Und wenn das nichts Neues für mich ist?“
Mateos Züge entgleisten. „W-was? Das sind geheime Informationen, die nur wir kannten! Niemand sonst hätte …“
„Mir wurde das alles schon erzählt“, sagte Chiara.
Und dann mischte sich eine zweite Stimme ein, die Stimme eines Mannes: „Ihr seid eben zu spät.“
Iris sah, wie den Gangstern die Kinnlade herunterfiel.
„Juan?!“, stieß Fernando hervor.
Chiara stieß die Tür weiter auf und dort stand er, der Anführer ihrer Gruppe. Seine Kleidung war staubbedeckt und zerfetzt, aber er musterte die Gruppe fast ebenso zornig wie Chiara zuvor. „Warum kommt ihr erst jetzt? Und … wo ist Hector?“
~*~
Wie erwartet lag der Flughafen verlassen da. Regen hatte eingesetzt, der Himmel war stahlgrau. Es war früher Morgen, vielleicht fünf, sechs Uhr. Ohne eine Uhr konnte Riikka das nicht sagen. In Deutschlang läge sie mit fünf Uhr vermutlich nah, in Finnland gab es solche Lichtverhältnisse sommers um drei, winters um elf Uhr.
Kurz gesagt, sie vermocht es nicht zu bestimmen. In den letzten Tagen hatte sie jede Orientierung verloren. Sie fühlte sich losgelöst, verloren und hilflos, wie eine Ratte, die sich im Ozean an ein Stück Treibgut klammerte.
Sie sah zu den Leuten um, die ihr gefolgt waren. Einer wedelte noch immer mit der Pistole herum. Er war wütend, frustriert und nun, da sich seine letzte Hoffnung enttäuscht hatte, verzweifelt.
Der Rest der Menge hielt Abstand zu dem jungen Mann. Es waren Menschen aus allen Altersklassen. Alte und Kranke, junge Männer, die unbedingt etwas tun wollten, ängstliche Mütter, die ihre Kinder hinter dem Rücken verbargen.
Verlorene wie Riikka, auf der Suche nach Halt.
„Es tut mir leid“, sagte sie ruhig und ließ den mit der Waffe nicht aus den Augen. „Ich wünschte, ich könnte euch ein großes Flugzeug anbieten.“
Der Junge ließ die Pistole senken. Er seufzte erschöpft und Riikka wollte bereits aufatmen, da funkelte er sie erneut an. „Wieso bist du hier geblieben, hm? Was willst du von uns? Siehst du nicht, dass wir schon genug Probleme haben? Wir haben nichts mehr an Schnorrer abzugeben!“
„Ich will nichts!“, antwortete Riikka. Ihre Stimme ging im Brüllen mehrerer zorniger Stimmen unter, die sich erhoben. Sie wich zurück und zeigte die leeren Handflächen. „Ich will niemandem zur Last fallen. Bitte.“
„Nimm die Waffe runter, Lars“, brummte eine ältere Frau. „Es bringt nichts, wenn wir jetzt aufeinander losgehen.“
Zu Riikkas Erleichterung gehorchte der junge Mann.
„Und du, Mädel, hättest niemals herkommen sollen mit deinen Waffen!“, knurrte die Frau nun eine weitere Frau in der Menge an. Es war die Frau mit dunklem Haar, die bereits festgestellt hatte, dass sie die Stadt verlassen mussten. Riikka erinnerte sich, denn diese Frau schien ebenfalls eine Fremde zu sein. Und sie wirkte als einziges vernünftig.
„Ich konnte ja nicht wissen, dass er sich nicht unter Kontrolle hat“, meinte sie nun achselzuckend. „Aber ich stimme euch zu. Hey, Junge! Hier ist dein Geld, gib mir die Pistole zurück.“ Sie zog mehrere zerknitterte Scheine hervor und zählte sie ab.
Währenddessen riss Lars die Waffe wieder hoch. „Ich hab sie gekauft!“
„Ja, und ich kauf sie jetzt zurück.“ Ohne Angst vor dem bebenden Lauf zu zeigen trat die Frau vor. Riikka hielt den Atem unwillkürlich an. „Her damit!“
„Nein!“, knurrte Lars und riss die Pistole hoch.
„Stell dich nicht so an!“ Die Frau packte zu und begann, mit dem Mann zu ringen.
Dann zerriss ein Schuss die Nacht. Etwas traf Riikka mit einer Wucht, als hätte man ihr einen großen Hammer vor die Brust gestoßen. Einen Moment bekam sie nichts mit, dann fand sie sich auf dem Asphalt liegend wieder.
Schmerzen breiteten sich in ihrem Oberkörper auf. Japsend rang sie nach Atem.
„Gib das her, du verdammter Idiot!“, brüllte die Frau.
Riikka hörte Schritte herbeieilen, sie sah Füße, die gleich darauf verschwammen. Eine unbeschreibliche Kälte kroch von ihren Fingern aus die Arme hinauf.
„Scheiße …“ Das war Lars‘ Stimme. Entsetzt und verängstigt.
Jemand riss an ihr, doch sie konnte keine Worte mehr verstehen. Ihre Augen waren blind, Schwärze hatte ihr Sichtfeld überlagert.
Riikka hörte ihren Puls in den Ohren dröhnen. Schnell und schwach. Dann langsamer … leiser … immer langsamer … und langsamer …
Und dann … nichts.