Heyho!
Es scheint fast so, als wäre im Moment einfach zu viel los. Die Kapitel einiger Charaktere sind einfach zu lang geworden. Ich hätte natürlich einfach irgendwo abbrechen und die weiteren Ereignisse für später aufheben können, doch dann hätte es nur noch sehr wenige Entscheidungen gegeben oder ich hätte welche erzwingen müssen, wo eigentlich schon klar war, wie es weitergeht. Stattdessen habe ich die Abschnitte eben so lang gelassen. Damit das Kapitel nicht zu lang wird, habe ich es erst einmal in zwei Teile gespalten. Aus Zeitgründen würde ich Teil 2 vermutlich erst nächsten Monat hochladen und auch dann erst die Entscheidungen abhalten, sodass alle gleich viel Zeit haben. (Ihr erinnert euch, es gibt jetzt die neue Regelung bezüglich Verspätungen …) Es ist natürlich etwas doof, dass manche jetzt länger auf ihren Charakter warten müssen. Ich versuche, als Ausgleich dann eben längere Abschnitte zu haben und – wenn möglich – einen Abschnitt eines Nebencharakters vom gleichen Autor in dem anderen Kapitel zu haben. Ansonsten komme ich aber wirklich mit allen anderen Projekten in Verzug.
Vielen Dank für Ihr Verständnis. J
euer Grauwolf
Sie verstand nicht, was um sie herum los war. Nur den Druck in ihrer Brust nahm sie deutlich war. Ihre Lungen standen kurz vor dem Platzen!
Sie musste hier raus! Sofort!
Geschmeidig zog sie die Beine vor die Brust und trat gegen die dicke Glasscheibe, ohne sich viel Hoffnung zu machen. Ihre Füße rutschten wirkungslos über die glatte Oberfläche. Mit ihrem durch die Flüssigkeit im Tank leicht verschwommenem Blick suchte sie nach einem anderen Ausweg. Eine Klappe im Deckel. Ein Notschalter. Die Farben verschwammen immer stärker. Ihr Körper verkrampfte sich und verlangte nach Luft. Ihre Lunge schmerzte, ihr Hals schmerzte. Lange würde sie dem Drang nicht mehr widerstehen können. Sie trommelte gegen die Scheibe, kratzte am glatten Glas. Ihr Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Und dann … wurde er langsamer. Die Welt verschob sich auf merkwürdige Weise. Noch immer spürte sie die Atemnot, doch die Angst war einfach fort. Nun konnte sie auch fast den gesamten Tank sehen, in dem sie sich befand.
Unmöglich, dachte ein kleiner Rest ihres Bewusstseins.
Wieder zog sie die Beine vor die Brust und spannte diesmal alle Muskeln. Obwohl die Logik ihr sagte, dass sie das Panzerglas nicht durchbrechen konnte, stieß sie mit aller Kraft und Entschlossenheit zu.
Die Scheibe zersplitterte. Ein Schwall Wasser trug sie nach draußen und sie landete inmitten der Scherben, durchnässt, zitternd und nach Atem ringend.
Ein chemischer Geruch stieg ihr als erstes in die Nase. Was auch immer mit ihr in dem Tank gewesen war – es war kein Wasser gewesen. Dann roch sie Rauch. Ein Feuer, brüllten ihre Instinkte und sie sah sich gehetzt um.
„Kitsune! Warte!“
War das ihr Name? Es fühlte sich richtig an. Ihre … Bezeichnung.
Die Stimme kam ihr ebenfalls bekannt vor. Sie verband … Freundlichkeit … mit ihr. Gleichzeitig reagierte ihr Körper von selbst, als habe sie eine Art Stromstoß erhalten. Sie richtete sich auf und blieb steif stehen. Nun konnte sie den großen Raum erkennen, in dem sie stand. Sie sah Computer. Kabel, die in Flammen standen. Dichter Rauch sammelte sich unter den Deckenlampen.
Ein Labor … Arbeit … Ihre Gedanken wirbelten im Kreis, doch einige Erinnerungen tropften zurück in ihr Bewusstsein. Zuhause, das war ein Zimmer in einem langen Gang. Hierher, zur Arbeit, durfte sie nur sehr selten, aber es war immer wieder ein Abenteuer. Die seltsame Maschine brachte sie an die wunderbarsten Orte. Mit Maschinengewehren oder Tieren oder …
Sie drehte sich um. Die Maschine! Der Tank gehörte dazu, und nun hatte sie ihn kaputt gemacht. Jetzt musste sie wohl für immer hier bleiben.
„Kitsune!“ Wieder diese Stimme. Sie sah Bewegung hinter den Flammen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf diesen Menschen. Er hielt eine schwere, bauchige Flasche in den Armen und sprühte etwas auf die Flammen.
„Kitsune, wir müssen hier weg!“ Der Mann hustete. „Das ist unsere Chance!“
Seltsam. Diesen Befehl erkannte sie nicht. Hilflos sah sie sich um und bemerkte einen weiteren Mann, der auf dem Boden lag. Ohnmächtig, nicht tot. Bei seinem Anblick zog sie die Lippen zurück und knurrte, ohne es zu wollen. Was war nur los? Sie fühlte sich wie eine Puppe in einem Fahrzeug auf Autopilot.
Und was war dieses seltsame Gefühl an der Seite ihres Kopfes? Sie hob die Finger und berührte einen weichen Widerstand, fühlte gleichzeitig ihre Finger als Kitzeln an ihrem … Ohr? Ein spitzes, felliges Ohr. Ein Tierohr.
Wie ein Blitz schlug die Erkenntnis in ihr ein: Sie war aus einer Simulation erwacht und das, was sie dort gehabt hatte, war nicht ihr echter Körper gewesen!
~*~
„Das Weiße Haus ist abgeriegelt.“
Thomas hob den Kopf und begegnete dem bleichen Gesicht von Lars, der durch die Tür der Maske spähte. So verstört hatte Thomas seinen Freund noch nie gesehen.
Er wandte sich Max wieder zu, der neben ihm saß und wild auf einem Ausmalbild herumkritzelte, ohne wirklich zu zeichnen. „Ich muss mal kurz weg.“
Max sah erschreckt auf, als Thomas aufstand. „Geh nicht!“
„Keine Angst.“ Thomas drückte die Schulter des Jungen. „Ich bin sofort wieder da.“
Max nickte zögerlich und ließ Thomas‘ Ärmel los.
„Zeichne einfach weiter und du merkst gar nicht, dass ich weg bin.“ Thomas lächelte noch einmal und folgte Lars dann nach draußen. Er nahm seinen Freund bei der Schulter und zerrte ihn fort von dem kleinen, hell erleuchteten Raum, in dem er mit Max untergebracht war. Sie hatten ein paar Decken bekommen, um sich mit den Stühlen in der Maske eine provisorische Unterkunft zu bauen. Max war sogar recht glücklich über die Möglichkeit, ein Deckenfort zu bauen.
„Was sagtest du?“, fragte Thomas nach, als sie außer Hörweite waren.
„Das Weiße Haus ist abgeriegelt. Der Präsident ist … geflohen.“
„Was? Wohin?“ Thomas starrte den Techniker entsetzt an.
„Das weiß niemand. Aber sieht ganz so aus, als hätte er das sinkende Schiff verlassen.“
Thomas sah zurück zu Max‘ Raum. Hoffentlich bekam der Junge das hier nicht mit. Er hatte heute genug mitgemacht.
Nachdem der Absturz gemeldet worden war, hatte Thomas irgendwie die Sendung hinter sich gebracht. Er wusste kaum noch, was geschehen war. Ihr Gast war nicht angekommen, also hatte Lars kurzerhand dessen Rolle übernommen und sie hatten über die aktuelle Situation gesprochen. Thomas war kaum bei der Sache gewesen, denn seine Gedanken kreisten darum, dass er nun keine Wohnung mehr hatte.
Dann war ihm Simon Baker wieder eingefallen. Der Master of Desaster und dessen kryptische Prophezeiungen vom Ende der Welt waren ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, also hatte er ihn nach der Sendung angerufen. Er wusste selbst nicht so recht, was er sich erhofft hatte. Hilfe dabei, mit diesem neuen Desaster fertigzuwerden, vermutlich. Simon hatte abgelehnt. Er wurde anderswo dringender gebraucht.
Und jetzt … jetzt hatte Thomas ein kleines Zimmer beim Sender und musste sich um Max kümmern, den er bestmöglich vor allem beschützen wollte. Die Gewissheit, dass der Junge auch tot sein könnte, hallte noch in ihm nach. Er hätte Emmeline beinahe enttäuscht und diesen wunderbaren Jungen verloren. Alles, was es gebraucht hätte, wäre ein einziger Fehler gewesen. Eine falsche Entscheidung.
„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Lars leise. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Thomas zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht.
~*~
„Es muss doch langsam mal jemand kommen!“ Verzweifelt kletterte Jochen auf die Düne und sah sowohl zum Meer als auch zum Landesinneren.
Riikka wusste, dass seine Hoffnung verzweifelt war. Niemand würde im letzten Moment auftauchen, um Enrico die Behandlung und allen anderen die Arbeit abzunehmen. Nein, auf eine solche glückliche Fügung durften sie nicht mehr hoffen. Denn jedes Zögern verschlimmerte Enricos Lage noch.
Hazel beugte sich mit festem Blick über Enrico. „Hold him down!“, befahl sie Riikka, die sich mit allem Gewicht auf Enricos Hüfte legte.
Aus der aufgeschnittenen Wunde liefen Blut und Eiter. Enrico wimmerte. Riikka biss die Zähne zusammen.
Hazel begann, den Dreck aus der Wunde zu schneiden. Enrico warf sich hin und her, doch wieder war sein Widerstand nicht stark genug, um Riikka Probleme zu machen. Kampfsporttraining hin oder her – eigentlich hätte sie Schwierigkeiten haben müssen, einen kräftigen Mann am Boden zu halten.
Hazel arbeitete ruhig und schnell. Sie wusch die Wunde und spülte sie mit Salzwasser aus, das Sun Lin ihr brachte. Zu diesem Zeitpunkt brüllte Enrico laut auf und sackte dann bewusstlos in den Sand. Sun Lin wurde blass und würgte, doch sie hatte nichts mehr auszuspucken. Als Hazel die Wunde ausbrannte, wandte Riikka den Blick ab. Der Geruch nach Bratenfleisch war einfach zu viel für ihren ausgehungerten Magen.
„Geh ruhig“, sagte Hazel ihr auf Englisch. „Ich muss nur noch die Wunde verbinden.“
Riikka schüttelte den Kopf und half Hazel stumm, indem sie ihr die saubersten Stoffstreifen reichte. Am Ende hatten sie beide blutverschmierte Hände, die sie am Strand wuschen.
„Wir können nicht länger hierbleiben“, sagte Hazel mit leicht gedämpfter Stimme. Zwar waren die anderen weit genug entfernt, um sie nicht hören zu können, doch Hazel machte noch einmal überdeutlich, dass sie den anderen Überlebenden nichts davon sagen wollte. „Ich weiß nicht, wie viele von denen es schaffen können.“
„Es … schaffen?“ Riikka starrte die Australierin an.
„Du bist die Stärkste der Gruppe. Mit Abstand. Deswegen muss ich mit dir darüber reden. So, wie wir jetzt sind, kommen wir nicht weit. Wir bringen die anderen irgendwie in Sicherheit und dann müssen wir beide oder wenigstens einer von uns abwechselnd nach Hilfe suchen.“
„W-wie … es wird doch jemand kommen!“, stammelte Riikka.
Hazel schüttelte den Kopf. „Wenn Rettung unterwegs wäre, wären sie schon hier. Aber siehst du jemanden? Exactly! Und die nächste Siedlung ist mehrere Kilometer entfernt. Wir können nicht am Strand bleiben – zu wenig Deckung – aber wir schaffen es vermutlich nur eine halbe Tagesreise ins Landesinnere. Wir sollten dort irgendeine gute Basis finden, von der aus wir beide alles Nötige finden können. Verstanden?“
„Ich, also …“ Riikka wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Ich möchte, dass du mit entscheidest, was wir tun und wann“, fuhr Hazel fort. „Sieh dir die Gruppe an! Ich erkenne darin nur Steine auf unserem Weg. Ich würde sie alle loswerden, bis auf dich, und das wäre vermutlich die klügste Entscheidung. Ich weiß nicht, wie wir sonst überleben sollen.“
Riikka riss die Augen auf, um zu widersprechen.
„Ich weiß, ich weiß.“ Hazel wehrte den Einspruch ab. „Ich werde nichts dergleichen tun. Aber wir müssen das im Auge behalten. Diese Rita ist bereits eher schädlich als hilfreich.“
„Sie ist süchtig!“, betonte Riikka. „Sie kann nichts dafür.“
Hazel nickte. „Gut. Ich behalte im Auge, wer stört, du als stellvertretende Anführerin sorgst dafür, dass die Menschlichkeit dabei nicht unter den Tisch fällt.“ Zufrieden stand die Australierin auf, klopfte Riikka auf die Schulter und marschierte zurück. Offenbar hatte Riikka einen Test bestanden – so jedenfalls fühlte sie sich. Aus der Ferne sah sie zu, wie Hazel den Befehl gab, alles für den Aufbruch vorzubereiten.
Sie waren schon eine labile Gruppe. Riikka musste an Hazels Worte denken, während sie den Aufbruch betrachtete. Ulrich musste Fran auf dem Rücken tragen, da die Rollstuhlfahrerin ja nicht laufen konnte. Für Enrico hatten sie aus Trümmerteilen und etwas Stoff eine behelfsmäßige Trage gebastelt, deren Last sich Riikka, Gordon, Sun Lin und Hazel abwechselnd teilten. Rite konnte man eine solche Verantwortung nicht zutrauen. Noch vollkommen benebelt schlurfte sie neben ihnen her, beschimpfte ihren Mann und taumelte ein ums andere Mal ins Gebüsch.
Sie waren wirklich keine Überlebenden. Obwohl Riikka gegen den Gedanken ankämpfte, konnte sie nicht umhin, Hazels Rechnung zu bestätigen. Ein Großteil ihrer Gruppe würde sie eher aufhalten als ihnen im Überlebenskampf behilflich sein. Jochen wäre noch ein halbwegs guter Reisebegleiter, insbesondere, da er langsam auftaute und begann, Enricos Zustand erstaunlich gut zu bewerten.
„Es sieht so aus, als wäre die Wunde immer noch entzündet. Ihr habt gute Arbeit geleistet, aber er kriegt Fieber. Wir müssen auf jeden Fall nochmal daran.“
Er hatte auch vorgeschlagen, das Bein zusätzlich mit einem Druckverband zu versehen, damit sich die Entzündung nicht zu weit nach oben ausbreitete.
„Bist du Arzt?“, fragte Riikka ihn.
„Heilpraktiker“, erklärte Jochen.
Sun Lin war zwar eine gute Freundin für Fran, ansonsten aber schwächlich. Abgesehen von ihrem wenig robusten Magen war sie nah am Wasser gebaut und Riikka befürchtete, dass das leichteste emotionale Erdbeben sie vollständig umwerfen würde. Jochen stand aus unerfindlichen Gründen unter der Fuchtel seiner wenig zurechnungsfähigen Frau, die ihm den Tod ihres Hündchens nachtrug. Fran plapperte unentwegt am Rande einer Hysterie entlang und Gordon schließlich war schweigsam und zurückgezogen und antwortete kaum, wenn man ihn ansprach. Er hatte irgendeine Krankheit, da war sich Riikka sicher. Bei Fran wussten sie alle inzwischen, dass sie ADHS hatte. Das schien die Ausrede der Austauschschülerin für alles zu sein.
Sie kamen nur langsam vorwärts. Einerseits, weil sie zwei Leute schleppen mussten, aber auch, weil Hazel vorausging und den Boden aufmerksam nach Schlangen absuchte. In den Dünen lebten auch wilde Kaninchen, die Jochen mehr als einmal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachten.
Hazel hatte absolut recht gehabt: Als Überlebende waren sie alle ein Witz. Trotzdem würde Riikka niemanden zurücklassen, egal, was Hazel sagte. Ihre Situation war sicherlich nicht so dramatisch, wie es den Anschein hatte. Vermutlich würde ihnen noch im Laufe des Tages ein Rettungsteam entgegenkommen.
Und selbst wenn sie wirklich auf sich gestellt waren – einen Menschen zurückzulassen, ihn dem Tod zu überlassen, wäre ein viel größerer Verlust als ein paar Flaschen Alkohol oder Nahrung für jemanden, der nicht jagen konnte. Es würde den Verlust ihrer Menschlichkeit bedeuten, dessen, was sie wirklich ausmachte.
„Hier!“, verkündete Hazel schließlich. Im Schatten einiger Olivenbäume hatte sie einen geschützten Platz gefunden. Das Meer war am Horizont immer noch zu sehen, trotzdem hörte Riikka nur erleichterte Seufzer, als ihr Fußmarsch ein Ende fand. Fran und Enrico waren eine zu große Last.
„Jochen!“, bellte Hazel. „Du wirst uns helfen, ihn zu verarzten.“ Sie deutete auf den noch immer bewusstlosen Italiener. „Riikka – du sorgst dafür, dass wir bis heute Abend eine Basis und Vorräte haben.“
Riikka nickte, während sie sich gleichzeitig fragte, wie sie das anstellen sollte. Mit einem leisen Seufzen stellte sie ihren Koffer ab. So weit hatte sie ihn nun geschleppt.
„Rita!“ Sie winkte die Frau zu sich. „Im Koffer sind noch drei Bücher. Mach sie klein, die nutzen wir als Anzünder.“ Es war schade um ihre drei Krimis, doch sie hatten andere Probleme. „Sun Lin. Du läufst zurück zur alten Basis und holt unser Zeug.“ Sie hatten einen Großteil der Vorräte zurückgelassen, damit der Weg weniger schwierig wurde. Die Plane hatten sie allerdings mitgenommen und Riikka wusste schon, was sie damit anfangen würden.
„Gordon – hilf mir, die Plane in den Baum zu kriegen.“ Sie kletterte ein wenig mühsam auf den ersten Olivenbaum und nahm die schützende Plane an, die Gordon ihr reichte.
Und dann, dachte sie, bräuchten sie ein Loch in der Plane und ein Gefäß zum Auffangen des Regenwassers. Trinkwasser würde ihr erstes großes Problem darstellen, schon jetzt merkte sie, dass die toskanische Sonne sie austrocknete. Es gab keine Zeit zu verlieren.
„Igitt.“
„Klappe“, fuhr Hazel Sun Lin an.
Die Austauschschülerin nickte und wich zurück. Ihr Gesicht hatte eine leicht grünliche Färbung angenommen.
Es war der nächste Morgen. Gestern hatten Hazel und Jochen Enrico behandelt, die Nacht war für alle sehr unruhig gewesen. Enrico hatte sich stöhnend hin und her gewälzt. Nachdem Jochen die halbe Nacht Krankenwache gehalten hatte, musste Gordon ihn irgendwann abgewechselt haben, denn als Riikka irgendwann einmal wieder aufgewacht war, hatte der junge Tierarzt an Enricos Seite gesessen.
In den frühen Morgenstunden hatte Jochen seine Pflicht wieder aufgenommen und festgestellt, dass Enricos Fieber nur weiter gestiegen war. Nun hatten sie die Verbände abgenommen und der ihnen entgegenkommende Gestank war so überwältigend, dass Riikka Sun Lin am liebsten nachgelaufen wäre.
Das Wundfleisch war gräulich, der Umkreis noch immer feuerrrot, doch nun konnte Riikka dunkel gefärbte Adern erkennen. Das Bein war geschwollen und heiß unter ihrer Berührung.
„Ahhh! Mammamia!“, jammerte Enrico.
„Das sieht ernst aus“, stellte Jochen mit gedämpftem Tonfall fest. „Wir brauchen wirklich sauberere Laken.“
„Wir könnten alles in heißem Wasser kochen“, schlug Riikka vor.
„Wenn wir das Feuer heiß genug kriegen, ja.“ Jochen nickte. „Und wir brauchen irgendeinen feuerfesten Behälter. Einen Topf oder so.“
„Ich suche einen!“, rief Sun Lin, die einige Meter hinter ihnen stand, und eilte los.
„Ich möchte euch ja ungerne unterbrechen, aber ich sitze seit gestern in meiner eigenen Scheiße“, bemerkte Fran schnippisch auf Englisch. „Es gibt noch andere Leute als den Italiener.“
„Du stirbst wenigstens nicht, sei froh darüber“, knurrte Hazel ungehalten. Enricos Augen weiteten sich.
„Ganz ruhig“, sagte Riikka eilig zu ihm.
„Binne ich die Ruhe in Persona.“
Riikka warf einen Blick zu Hazel. Was sollten sie jetzt nur tun?
„Rita – kümmere dich um Fran“, befahl Hazel.
„Einen Scheiß werde ich tun!“, fauchte Rita. „Ich wische doch nicht anderer Leute Scheiße weg!“
„Du wirst es tun, oder du wirst sie essen!“, brüllte Hazel.
Riikka merkte, wie sie erstarrte. Sie hatte noch nie erlebt, dass Hazel die Kontrolle verlor. Wenigstens hatte der Ausbruch Rita genug eingeschüchtert, dass sie ohne weitere Worte zu Fran ging und der Rollstuhlfahrerin half, ihre Hose auszuziehen.
„Was für eine Gruppe Versager!“, murmelte Hazel halblaut und warf Riikka einen Blick zu.
Sie behandelten Enrico dieses Mal ausführlich. Sie brachten Wasser zum Kochen und nutzten Salzwasser zur Desinfektion. Alles wurde doppelt gewaschen: Die Hände von Riikka, Hazel, Jochen und Gordon, die sich als Ärzteteam zusammengefunden hatten, die Metallstücke, mit denen sie die Wunde aufschnitten und ausbrannten, die Laken, die später als Verbände genutzt wurden. Sogar die Kleidungsstücke aus Riikkas Koffer, auf denen sie Enrico lagerten. Unter der Anleitung von Jochen und Gordon – der als Tierarzt genug medizinische Kenntnisse hatte – gaben sie alles, was sie hatten.
Und es half nichts. Am Abend erreichte Enricos Fieber beunruhigende Höhen und das zerhackte Fleisch rings um die Wunde war noch entzündeter. Der Italiener erbrach mehr, als er an Nahrung aufnehmen konnte. Als selbst Rita und Jochen ihr Gezänk einstellten, stand Hazel auf.
„Wir müssen Enricos Bein amputieren.“
„Was?“, stammelte Sun Lin und ließ die Beeren sinken. Sie waren gerade bei einem kargen Abendessen, doch mit einem Mal schien niemand mehr Appetit zu haben.
„N-nein! Nichte … bitte!“, wimmerte Enrico.
„Es tut mir leid, aber das ist die einzige Möglichkeit“, fuhr Hazel fort. „Ansonsten bringt die Entzündung ihn um.“
„Da hat sie recht“, stimmte Jochen zu.
„Jochen!“, fuhr Rita ihn an. „Ich weiß ja, wie verrückt und herzlos du bist, aber damit übertriffst du dich selbst!“
„Wir können das nicht tun!“, protestierte auch Sun Lin.
„Wir müssen!“, hielt Jochen dagegen. Er sprang auf und stellte sich neben Hazel. Wortlos stand auch Gordon auf und schlurfte hinter Jochen, ohne jemandem in die Augen zu sehen.
„Das wollt ihr nicht ernsthaft tun!“, hauchte Sun Lin. Sie hatte den Tag damit verbracht, am Strand nach Trümmern zu suchen, vermutlich, um so wenig Zeit wie möglich im Lager zu verbringen. Dabei war sie auf eine leicht rostige Säge gestoßen, die sie mitgebracht hatte, damit sie Feuerholz schneiden konnten.
Jetzt hielt Hazel diese Säge im Griff. „Enrico. Es tut mir leid. Aber das ist der einzige Weg.“
Der Italiener nickte schwach. Schweiß stand auf seiner Stirn. „Wasse immer diese Schmerzen wegmachte!“
„Wir brauchen einen Stock, auf den er beißen kann“, wies Hazel an. „Riikka, Jochen und Gordon helfen mir bei der Operation. Ihr anderen müsst Enrico festhalten.“
Sun Lin presste eine Hand auf den Magen. Schweigend traten sie zusammen und befolgten Hazels Anweisungen. Gordon und Riikka knieten sich auf die eine, Hazel und Jochen auf die andere Seite des Verletzten. Die Säge wurde in ihrem kleinen Feuer erhitzt. Enrico bekam von Fran einen Stock gereicht und biss darauf. In seinen Augen flackerte Angst und Tränen liefen über seine Wangen in den Haaransatz.
„Versuch, schnell ohnmächtig zu werden“, riet Hazel dem Italiener und zog die Säge gleichzeitig über sein Bein.
Enrico brüllte erstickt und bäumte sich auf. Eilig warfen sich die Überlebenden mit allem Gewicht auf seinen Oberkörper und seine Beine. Fran hielt seinen Kopf fest.
Die Säge schnitt durch Haut. Tiefer ins Fleisch. Mit jedem kräftigen Ruck vor und zurück drang Hazel weiter in die Muskeln vor. Gordon umklammerte das Ende des Gürtels, der Enricos Bein oben abschnürte. Hazel hatte die kleine Säge mit beiden Händen gepackt und warf den gesamten Oberkörper mit aller Kraft vor und zurück. Sie schnitt so tief und schnell, wie die kleine Säge es erlaubte.
Plötzlich nahmen Enricos Schreie einen noch schrilleren Ton an, ehe er urplötzlich erschlaffte.
„Knochen“, ächzte Hazel und stemmte sich in die Säge. „Halt das Bein still!“
Riikka hatte den Oberschenkel von Enrico mit beiden Händen gepackt. Längst waren ihre Finger vor Blut nicht mehr zu sehen. Knurrend und stöhnend setzte Hazel ihrer gesamte Kraft ein. Die Säge knirschte und das Blatt bog sich bei jedem Schnitt ein wenig, wenn die Zähne an Knochensplittern hängen blieben.
Die kleine, dicke Sun Lin weinte. Ritas glasige Augen huschten immer wieder zur Säge, obwohl sie sichtlich nicht hinsehen wollte und sich jedes Mal bog, als wäre sie es, in deren Fleisch geschnitten wurde. Jochen würgte. Gordon hatte die Augen fest zusammengekniffen und presste die Stirn gegen Riikkas Arm. Dann schrie er auf, ließ den Gürtel los und presste sich die Hände auf die Ohren.
„Druck!“, brüllte Hazel. „Druck!“
Ein Schwall Blut schoss aus der Wunde und verdeckte den Schnitt vollkommen, überflutete alles, was sie sehen mussten. Jochen warf sich vor und zog den Gürtel wieder stramm. Fran reichte ihnen mit abgewendetem Blick Tücher und Riikka wischte und wischte, obwohl das Blut nicht weniger zu werden schien.
Dann ging ein Ruck durch Hazel und das Bein unter Riikkas Griff schlackerte plötzlich. Hazel war durch den Knochen durch! Mit einem entschlossenen, halb wahnsinnigen Blick in ihrem mit Blut bespritzten Gesicht sägte die alte Frau weiter, dann riss sie die Säge zurück, warf sie fort und packte das schwere Bein einfach … auf die Seite.
Riikka spürte, dass ihre Hände zitterten. Ein Würgereiz schüttelte sie bei dem Anblick, wie Hazel das Bein in den Händen hielt. Wie einen großen Fisch. Oder einen blutigen Schweineschenkel. Jedenfalls sah es nicht mehr wie etwas aus, das an einen Menschen gehörte.
„Verbindet die Wunde, na los!“ Hazel riss die Gruppe aus einer entsetzten Starre. Mit mechanischen Bewegungen legte Riikka die sauberen Kleidungsstücke um den Stumpf. Verdammt, wie wickelte man so was?
Hände griffen in ihr Werk, zogen den Stoff zurecht und legten die Falten so, dass man den Verband mit einem guten Knoten zuziehen konnte. Riikka sah zur Seite. Gordon war es, der den Verband mit leicht entrücktem Blick anlegte, die Festigkeit prüfte und den Stumpf dann mit einem Stein etwas höher lagerte.
Riikka starrte auf ihre Hände, die bis zum Ellbogen in Blut gebadet waren. Dann sah sie auf den bewusstlosen Enrico.
„Wascht eure Hände“, befahl Hazel mit leicht rauer Stimme. „Dann die Verbände. Los, solange es noch hell ist.“
Taumelnd setzten sie sich in Bewegung. Hazel führte ihre Gruppe zum Meer. Nur Fran blieb bei Enrico zurück, doch sie hatte auch kein Blut abbekommen. Hatte Hazel sie deshalb an Enricos Kopf eingeteilt?
Jochen taumelte in ein nahes Gestrüpp und übergab sich. Riikka merkte, wie sich in ihrem Kopf alles drehte. Noch immer konnte sie nicht glauben, was sie gerade getan hatte. Das klebrige Blut an ihren Händen wurde rasch kühler.
‚Es tut mir leid, Enrico!‘, dachte sie unglücklich. Sie hatte niemals jemanden verletzen wollen.
Im Meer ließ sich das Blut nur schwer abwaschen. Riikka schrubbte mit den Fingernägeln, so kräftig sie konnte. Dass das Wasser bereits kalt wurde, machte ihr nichts aus. Sie begrüßte die Kühle sogar.
Als sie sich endlich sauber fühlte, sah sie sich um. Die anderen wuschen sich noch, doch Hazel war ein Stück den Strand hinunter gewandert. Riikka lief ihr hinterher.
„Geht es dir gut?“
„Natürlich“, antwortete Hazel. „Und dir?“
„Natürlich.“ Riikka kratzte unbewusst über ihre Unterarme.
„Morgen früh suchen wir nach einer Siedlung“, sagte Hazel. „Ich nehme mir ein, zwei Leute und gehe am Strand entlang.“ Sie deutete geradeaus. „Wenn wir nach einem halben Tag nichts finden, kehren wir um. Dann gehen wir in die andere Richtung.“
„Warum nicht ins Landesinnere?“, fragte Riikka.
„Zu riskant. Am Strand können wir uns nicht so leicht verlaufen.“ Hazel sah auf den Ozean hinaus. „Außerdem denke ich, dass die Wahrscheinlichkeit, hier auf Hafenstädte zu treffen, etwas höher ist, als im Inland einen Bauernhof oder so zu entdecken.“
„Klingt logisch“, sagte Riikka und folgte dem Blick der alten Australierin auf das Meer hinaus. Kein Schiff war zu sehen. Nur die Wellen wiegten sich unter dem aufgehenden Mond.
~*~
Ihre düsteren Vorahnungen bestätigten sich nicht, denn während Keelan im Taxi saß, blieb der Himmel zwar dunkel, aber es regnete nicht. Während der Fahrt zogen zerstörte Gebiete draußen vorbei. Aufgewühlte Schrebergärten. Eingestürzte und sogar abgebrannte Häuser. Die schlammigen Pfützen nach dem Hochwasser. Sie sah Schlangen von Autos, die an Kreuzungen darauf warteten, dass die Straße zu ihrem Ziel freigeräumt wurde – dort lagen Dachschindeln, Trümmer und ganze Bäume verstreut. Ein einziges Bild der Verwüstung.
Die Bilder brannten sich in Keelans Kopf, formten sich zu den Ansätzen von Geschichten und verflüchtigten sich wieder. Nur ein Gedanke kehrte immer zurück.
‚Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein! Das ist ein Set. Ein Filmset.‘
Es war so surreal, die Zerstörung hautnah zu sehen, die sie sonst nur aus dem Fernsehen oder aus Katastrophenfilmen kannte. Zu mindestens gab es noch einen Straßenreinigungsdienst und sogar Polizisten, die den Verkehr regelten. Das war wohl der berühmte Ordnungsdrang der Deutschen. Irgendwie fand Keelan die Tatsache noch viel beunruhigender, dass trotz des Unglücks bereits wieder Ordnung herrschte. Sollte die Welt nicht innehalten und nach dem Grund für alles suchen?
Sie hatte nicht genau gewusst, wo sie hinwollte, nur eines: Raus aus dem Flughafen, dessen Scheiben man nicht länger trauen durfte. Sie wusste nicht, ob nicht noch mehr Glas herabregnen würde und auf keinen Fall wollte sie dort eingesperrt sein, falls das Wasser wieder stieg. Also hatte sie dem Taxifahrer verständlich gemacht, dass sie in die Stadt wollte – egal, wohin genau. Er konnte nicht gut Englisch, was sie vor einem Gespräch bewahrte. Im Moment wollte sie lieber auf der Rückbank sitzen und über ihr Pech nachgrübeln. Sie wollte nur noch eine sichere Unterkunft, wo sie abwarten konnte, bis man wieder fliegen durfte. Und dann so schnell wie möglich nach Hause zu ihren Eltern! Alle Ereignisse seit ihrer Trennung von Ethan kamen ihr wie ein böser Traum vor. Wie eine Reihe böser Träume.
Langsam wurden die Gebäude zu beiden Seiten der Straße immer höher und der Verkehr dichter. Offenbar waren eine Menge Leute unterwegs. Keelan spähte durch die Scheiben und sah blasse, verängstigte Gesichter, Familien zwischen unzähligen Koffern eingequetscht, Verletzte, Kinder mit stumpfem, trübsinnigem Blick …
Sie kniff sich unauffällig, doch der Alptraum hörte nicht auf.
„He … sorry …“ Der Taxifahrer kratzte sichtlich mühsam sein Englisch zusammen. „Das Radio sagt, vorne ist zu. Keiner kommt durch.“ Er deutete auf eine Kreuzung vor ihnen. „Ich kann dich nicht weiter bringen.“
„Oh. Kein Problem. Wie viel schulde ich dir?“ Keelan begann, in ihrer Tasche zu kramen.
„Nein, nein!“, sagte der Fahrer und hob abwehrend die Hände. „Heute nix.“
Waren die Taxidienste heute kostenlos? Die Welt stand wirklich Kopf. Keelan bedankte sich mehrmals und drückte dem Fahrer doch noch einen Schein in die Hand. Dann stieg sie aus, nahm ihren Koffer und begab sich auf den Bürgersteig neben der Straße. Bald trugen ihre Schritte sie schneller dahin als die vielen Autos. Da war es, das erwartete Chaos: Kleinere Unfälle, wo Fahrzeuge ineinander gekracht waren. Lautes Hupen, rücksichtslose Fahrer, die sich durch viel zu enge Lücken quetschen wollten. Autos auf allen Fahrbahnen, auf dem Bürgersteig, in allen Lücken, wo sie Platz fanden. Einige Motorradfahrer, die sich durch das Gewühl schlängelten. Fußgänger wie Keelan, die sich Schritt für Schritt vorwärts wagten. Man musste die Autos ständig im Blick behalten, denn nicht alle Fahrer nahmen Rücksicht und manch ein Wagen konnte plötzlich nach vorne schnellen, ohne sich um Hindernisse auf zwei Beinen zu kümmern.
Kinder brüllten. Erwachsene schimpften und keiften. Keelan blieb stehen und suchte nach Schildern, die sie lesen konnte. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zum Hotel. Sie packte ihren Koffer fester und marschierte zielstrebig los.
Das Hotel war eines der feineren Sorte und hoffnungslos überlaufen. Als Keelan reinkam, wurde sie direkt von einem Deutschen angesprochen. Verwirrt sah sie ihn an.
„Wir sind voll. Solange du nicht vom Flughafen kommst, musst du leider wieder gehen“, wiederholte der Mann auf Englisch.
„Ich … ich komme vom Flughafen!“, stammelte Keelan.
„Name?“, fragte der Deutsche und holte einen Notizblock hervor.
„Keelan Clarkson.“
„Alright.“ Der Mann hatte ihren Namen offenbar auf der Liste gefunden und hakte ihn ab. Sofort änderte sich sein Verhalten. Er lächelte, nahm ihr die Koffer ab und führte sie umstandslos zu ihrem Zimmer.
„Leider musst du dir den Raum mit anderen Gästen teilen: Wir versuchen, so viele Leute wie möglich aufzunehmen.“ Der Hotelpage sah sie entschuldigend an. „Es kann sein, dass du noch einmal umziehen musst, denn im Moment sind drei Männer mit dir auf dem Zimmer. Wir haben aber gerade keinen einzelnen Mann, der tauschen könnte. Es tut uns wirklich sehr leid.“
„Ich wird‘s überleben“, murmelte Keelan und hoffte, dass das stimmte. Darauf, sich mit drei Fremden ein enges Zimmer zu teilen, hatte sie nun wirklich wenig Lust.
Der Page blieb vor einer der vielen Türen auf dem Gang stehen und klopfte. Von drinnen ertönte eine Antwort auf Deutsch und die Tür wurde geöffnet. Keelan wappnete sich für das Schlimmste, als sie einen Blick auf ihre neuen Zimmergenossen warf.
„Keelan?“
„Markus?“ Keelan riss die Augen auf. „Fynn, Lucas?“
Es waren tatsächlich drei der Dolmetscher, die sie kennengelernt hatte.
„Zum Glück geht es dir gut!“ Markus umarmte sie kurzerhand. „Wir haben gehört, dass der Flughafen überflutet wurde und jetzt evakuiert wird.“
„Evakuiert?“ Davon hatte Keelan nichts mitbekommen. Hatte man ihnen die Evakuierung als normalen Aufbruch verkauft, damit die Gäste nicht in Panik gerieten? Oder fand die Evakuierung erst jetzt statt und sie war zufällig vorher schon aufgebrochen?
„Wie geht es euch?“, fragte sie die Männer. „Was tut ihr hier?“
„Die meisten Straßen sind noch zu. Man kommt nicht wirklich aus der Stadt heraus.“ Lucas runzelte die Stirn. „Also mussten wir uns notgedrungen hier einquartieren.“
„Die anderen sind nebenan“, mischte sich Fynn ein. „Wir sagen ihnen besser Bescheid, dass wir dich gefunden haben. Sie hatten sich schon Sorgen gemacht.“
Keelan nickte abgelenkt. Sie hatte den Blick durch das Zimmer schweifen lassen, das nur ein Doppelbett und ein Sofa besaß. Gemütlich. So gern sie die Dolmetscher inzwischen hatte, diese Enge war etwas unangenehm.
„Was ist da draußen los?“, fragte sie leise und trat ans Fenster.
„Das Ende der Welt?“, riet Fynn.
„Sieht ganz so aus“, stimmte Keelan zu.
~*~
Fluchend sah Simon auf sein Handy. Kein Empfang. Nichts. Nada!
Auch das Funkgerät war diesen Morgen ausgefallen. Nun sah es ganz so aus, als säße er in Brasilien fest, ohne jede Möglichkeit, die Außenwelt zu erreichen. Ihre Vorräte gingen zur Neige und es trafen keine neuen Lieferungen mehr ein. Die Situation drohte, vollends zu kollabieren.
Tuulikki und Hurvinek gaben sich alle Mühe, den Mangle zu entschärfen. Hurvinek hatte Jagdgruppen gebildet. Im Katastrophengebiet hatte es einige Bauernhöfe gegeben, sie versuchten nun, die entflohenen Tiere einzufangen und im besten Fall auch die ein oder andere Ernte zu retten. Tuulikki hielt die restlichen Menschen notdürftig mit Arbeit in Schacht. Diese errichteten Unterkünfte, sammelten Feuerholz, versorgten die Verwundeten, damit sie hoffentlich zu erschöpft wären, um sich groß zu beschweren. Es war keine optimale Lösung, doch die einzige, die ihnen einfiel.
Simon fluchte erneut. Sie brauchten Hilfe. Dringend! Aber niemand würde kommen, solange es keine Möglichkeit gab, zu telefonieren.
„Entschuldigung.“
Simon drehte sich um und bemerkte, dass ein Mann im Eingang zu seinem Zelt stand. Das fehlte noch, dass er vor den Leuten hier, denen er eigentlich helfen sollte, die Nerven verlor. Schnell legte er das Handy weg und lächelte. „Was kann ich für dich tun?“
„Ich suche nach jemandem. Eine Frau und zwei Mädchen. Familie Freitas. Sie … sie waren in Rio de Janeiro, als das Erdbeben kam.“
„Oh. Die Flüchtlinge aus Rio müssten eigentlich in einem anderen Camp sein. Warte, ich gebe dir die Koordinaten, dann -“
„Nein. Im Camp bei Rio war ich schon“, unterbrach ihn der Mann. „Dort waren sie nicht. Sind sie hier?“
Die Chancen dafür waren gering. Simons Camp lag mehrere Kilometer von Rio de Janeiro entfernt. Das andere Camp war näher an der Stadt, jedoch in der anderen Richtung. Also gab es eine, wenn auch geringe Chance, dass eine junge Mutter in die falsche Richtung geflohen und hier angekommen war. Unfähig, dem verzweifelten Familienvater jede Hoffnung zu nehmen, suchte Simon nach der Liste.
„Wir haben nicht alle hier eintragen lassen“, sagte er entschuldigend. „Es kann also durchaus sein, dass sie nicht hier drauf stehen … nein, hier stehen sie nicht. Aber sie könnten dennoch im Camp sein.“
Der Mann fuhr sich nervös durch die schulterlangen Haare. „Wo kann ich nachfragen?“
„Bleib doch bis zur Essenausgabe“, schlug Simon vor. „Dort kommen eigentlich alle vorbei. Wenn sich deine Familie dort nicht zeigt … dann sehen wir weiter, Herr …?“
„Freitas. Benoli Freitas.“ Der Mann gab ihm eine Hand. Er sah fertig aus. Der Pullover war verschwitzt, die gebräunte Haut zerkratzt. Vermutlich war er rücksichtslos durch den Dschungel gerannt, um seine Frau und Töchter zu finden.
Simon hoffte inständig, dass das nicht einer dieser Fälle werden würde, die in Tränen endeten. Davon hatte er nun wahrlich für ein ganzes Leben genug gesehen.
~*~
Die Bar war leer angesichts der Größe des Schiffes. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass die Getränke furchtbar sein mussten, denn ansonsten sah Ruben keinen Grund, dass niemand hier sitzen sollte. Es gab eine Theke aus poliertem, rötlichen Holz, Zapfhähne aus glänzendem Messing, unglaublich weich gepolsterte Hocker, eine gewaltige Masse an Flaschen in allen Formen und Farben im Regal hinter dem Tresen und eine Getränkekarte, die in Schriftgröße und Textmenge der Bibel in Rubens Gepäck Konkurrenz machen konnte. Er nahm sie auf und suchte mit zusammengekniffenen Augen den richtigen Abstand, um die kleine Schrift lesen zu können.
Zum Glück war die Karte in erster Linie deswegen so lang, weil die Zutaten eines jeden Getränkes ausführlich und in mehreren Sprachen gelistet wurden. Ruben überflog die Cocktails und merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Da gab es Cocktails mit Walnuss oder Birne und die abenteuerlichsten Kombinationen.
Er sah sich verstohlen um. Keiner seiner Brüder und Schwestern war in der Nähe. Er könnte sich ein winziges Bisschen Alkohol gönnen, oder etwa nicht?
Er las weiter, dann wurden seine Knie mit einem Mal weich. Was ein Glück, dass er sich bereits auf einen Hocker gehievt hatte.
Ein Lakritzcocktail! Entweder, das hier war der Himmel, oder die schlimmste Versuchung der Hölle.
„I think I’ll take the whiskey“, sagte Ethan. „Have you found something yet?“
Ruben biss sich auf die Lippe. Sollte er?
Er schüttelte den Kopf. In seinen Ohren konnte er deutlich das Blut pochen fühlen. Unter Aufbringung all seiner Willenskräfte richtete er den Blick auf die alkoholfreien Getränke.
„I take …“ Er räusperte sich. „Cola. One Cola.“
Ethan nickte. Er beugte sich zum Bartender und bestellte gelassen. Währenddessen atmete Ruben mehrmals durch und beglückwünschte sich zum erfolgreichen Widerstand. Ein Teil seines Bewusstseins fragte sich jedoch, wie der Lakritzlikör wohl geschmeckt hätte. Unbewusst faltete er die Getränkekarte. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Ethan drehte sich mit einem schwachen Lächeln zu ihm. „Wohin … fahren Sie?“
Ruben vergaß die Karte in seinen Händen und berichtete seinem neuen Bekannten etwas stockend von der Reise nach Sizilien. „Some people there need our help“, endete er.
Ethans Augen weiteten sich leicht. „I heard! Da waren … rebellion. Errr … Ausschreitungen.“
Ruben nickte. „Wir gehen ja gerne auf die Straße und rufen: ‚Das Ende ist nah!‘“ Er breitete die Arme bei diesen Worten aus und hob leicht die Stimme, um das Rufen zu verdeutlichen – doch nicht laut genug, um die Aufmerksamkeit der wenigen anderen Personen im Raum auf sich zu ziehen. „Ähh, ‚The End is near‘.“
Ethan lachte leise. „I know your kind!“
Ruben grinste schief. „Jetzt ist das Ende wirklich da. Und manche glauben, dass wir das irgendwie zu verantworten haben.“
Ethans Blick wurde düsterer. „That’s a shame. But can you tell me: What is it like to be a witness? Is it hard?“
Ruben überlegte, dann nickte er. „Sehr hart. Aber es gibt auch gute Seiten.“
„Wirklich?“ Ethan hob die Augenbrauen.
Ruben nickte. „Man trifft auch immer wieder sehr, sehr liebe Menschen. Zum Beispiel gibt es eine alte Dame, die weiß schon immer, wann wir kommen und freut sich sehr auf die Gespräche. Meist hat sie auch noch irgendeinen Kuchen fertig.“ Während er sprach, behielt Ruben Ethans helle, braune Augen im Blick. Doch der Amerikaner konnte dem deutschen Redeschwall offenbar mühelos folgen. „Und natürlich ist die Gemeinschaft einfach toll. Wir passen auf unsere Brüder und Schwestern auf und sie auf uns. Man hilft sich, wo immer es geht. Es ist …“ Er gestikulierte unbestimmt. Weder auf Deutsch noch auf Englisch fiel ihm ein Begriff ein, der das Gefühl von Geborgenheit im Kreise der Zeugen vermitteln konnte.
Ethan nickte bedächtig. Ruben wich seinem Blick aus und konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich plötzlich für sein Leben schämte. Zum Glück brachte ihnen der Bartender die bestellten Getränke, bevor Ruben allzu genau darüber nachdenken konnte.
„Bitte, Jungs.“ Offenbar hatte der Barmann aufgeschnappt, dass sie Deutsch sprachen. Sein Lächeln war herzlich, aber auch etwas hintergründig … nein, Ruben musste sich da täuschen.
„What about you?“, fragte er Ethan, als sie wieder allein waren.
„Ich habe als Lehrer gearbeitet“, berichtete Ethan auf Englisch. Währenddessen merkte Ruben, wie seine eingerosteten, halb vergessenen Sprachkenntnisse wieder erwachten. „Die Arbeit hat mir Spaß gemacht, ich mag Kinder. Die Eltern sind eine ganz andere Geschichte.“ Ethan lachte. Er hatte ein herzliches Lachen, das zum Mitlachen einlud. Dann wurde er ernster. „Irgendwie hatte es aber doch nicht gepasst. Meine Frau … Keelan, sie …“ Er atmete tief durch. „Sie hat die Welt wohl etwas anders gesehen als ich.“
„I’m sorry!“, stammelte Ruben.
Ethan brachte ein schiefes Grinsen zustande. „Es war ein Schock, das muss ich ehrlich sagen. Ich hab drüben gekündigt und hab diese Reise gebucht. Warum, das weiß ich selbst nicht so genau. Ich denke, ich suche etwas. Irgendwas.“ Nachdenklich nippte er am Whiskey.
„Du fühlst dich verloren“, meinte Ruben. „Sie ist weg und jetzt weißt du nicht mehr, wohin.“
Ethan sah ihn überrascht an. „Well … yes! Exactly.“
„Du bist nicht allein. Der Herr ist immer an deiner Seite und will dir helfen, deinen Weg zu finden.“
Ethans Blick wurde ein bisschen düsterer.
‚Vermutlich hat er durchschaut, dass ich nur das nachplappere, was wir sagen sollen‘, dachte Ruben unglücklich. Irgendwie fühlte er sich wie ein Betrüger. Dabei hatte er Ethan wirklich nur trösten wollen!
„Tut mir leid“, sagte Ethan wieder in gebrochenem Deutsch. „Ich bin nicht sehr religiös. Nimm mir das nicht übel.“
Ruben winkte ab. Im Geheimen gab er sich Pluspunkte. Noch war ihm keine Tür vor der Nase zugeschlagen worden. Er hatte es verpatzt, aber nicht vollkommen – Ethan war noch empfänglich. Seine Seele würde zu retten sein, Ruben bräuchte nur etwas mehr Zeit.
Genau diese Zeit wurde ihm allerding nicht gegönnt. Gott schien ihn an diesem Tag wirklich nicht leiden zu können. Denn gerade, als Ruben den unglücklichen Vorfall mit Krissi zu vergessen begann und damit anfing, optimistische Pläne für Ethans Seelenheil zu schmieden, erschütterte ein Aufprall das Schiff.
Der Ruck kam so unvermittelt, dass Ruben und Ethan von den angeschweißten Barhockern gerissen wurden. Whiskey und Cola sickerten in den teuren Teppich.
„Was war das?“ Ruben stemmte sich in die Höhe. Ethan war neben ihm gelandet, allerdings bereits wieder auf den Füßen. Gleich darauf schwankte das Schiff wieder, diesmal zur anderen Seite. Metall im Rumpf dröhnte und stöhnte. Ethan klammerte sich an einen Hocker, Ruben fand nicht rechtzeitig Halt und wurde herumgeworfen. Er stieß mit den Rippen gegen den gleichen Hocker und wimmerte.
„Are you alright?“ Ethan half ihm auf die Beine.
Das Schiff wankte noch immer, doch es hatte sich wieder beruhigt. Ruban drückte die Hände auf die schmerzenden Rippen. Einen Moment war es still. Er hielt den Atem an und lauschte.
Dann erklang ein dröhnender Alarm. Rote Lampen blitzten über den Türen auf und begannen, sich kreisend zu drehen. Ihr Licht färbte den Raum in ein panikerweckendes Glühen.
„Bitte bleiben Sie ruhig und begeben sie sich geordnet zu den Ausgängen …“, rief jemand. Irgendwer vom Personal. Ruben merkte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Ihm war mit einem Mal übel.
„Das ist nicht real“, flüsterte er. „Nicht real.“