„Fuck“, murmelte Jayden, als er Motoren hörte. Ächzend zerrte er an Seth, der sich nicht rührte. Er müsste den Anderen am Besten in die stabile Seitenlage bringen und dann dessen Schusswunde versorgen – aber dafür war gerade keine Zeit. Er hatte den Bewusstlosen mit Müh und Not von der Straße schleifen können, bevor die Verfolger auch schon auftauchten. Jetzt kroch Jayden tiefer in das wilde Gebüsch am Rand des Highways, bis die Motoren verstummten. Mehrere Motorräder bremsten neben dem durchsiebten Wagen. Die Männer näherten sich dem Fahrzeug mit gezückten Waffen und spähten hinein.
„Weit können sie nicht gekommen sein“, urteilte einer schließlich, dann brüllte er: „Kommt mit erhobenen Händen raus!“
Jayden würde den Teufel tun und den Befehl befolgen. Mit Sicherheit würden sie ihn auf der Stelle erschießen, wenn sie Sichtkontakt hätten. Stumm presste er sich neben Seth auf den Boden.
In seinen Ohren rauschte sein Pulsschlag immer lauter. Täuschte er sich, oder bebte der Boden? Der Feind rückte weiter vor. Jayden tastete vergeblich nach einer Waffe. Sein Kamerad neben ihm verblutete. Irgendwo krachten Explosionen.
Sein Herz raste. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Männer sie entdecken würden. Er hatte keine Tarnkleidung an und lag ungeschützt zwischen dem zu dürren Gesträuch.
Sein Blick fiel auf Seths Waffe, die noch im Griff des Anderen hing. Jayden packte zu, löste die kalten Finger des Anderen und kontrollierte das Magazin.
Noch zwei Schuss. Das war bei Weitem nicht genug. Panisch durchsuchte er Seths Taschen nach Munition, fand aber nichts. Seth trug immerhin keinen Patronengürtel oder andere militärische Ausrüstung, mit der Jayden sich auskannte.
Die Männer rückten vor. Es waren sieben. Einer stand beim Wagen und sah gerade darunter. Zwei standen am Straßenrand, der Rest suchte sie im Gebüsch, etwa zwei Meter voneinander entfernt. Weitere würden sicher früher oder später folgen.
Was sollte er tun? Seine Gedanken wirbelten im Kreis, zu schnell, um Sinn zu ergeben.
~*~
Thomas starrte auf die Nachricht auf seinem Display. Das Notebook gehörte zu den wenigen technischen Geräten, die ihn mit dem Lager im Studio verbanden.
Lars hatte ihm geschrieben, dass sie einen Notruf von einem abstürzenden Flugzeug aufgefangen hatten. Das war irgendwo in Europa. ‚Wir sollten helfen, oder?‘, hatte Lars dazugeschrieben. Doch offenbar hatte er keine Idee, wie, und Thomas ebenso wenig. Er seufzte entmutigt.
Dann zwang das Quietschen, mit dem sich die massive Eisentür langsam öffnete, seine Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
Simon trat mit einem Grinsen zurück. „Geschafft!“
Die beiden Männer traten vorsichtig in das Labor. Ihre Schritte hallten durch niedrige, weitläufige Zimmer und Gänge. Durch große Fenster in den Wänden konnten sie in verschiedene Zimmer sehen, in denen auf weißen Tischen und Ablagen unterschiedliche Geräte standen. In dem Flackern der sich einschaltenden Neonröhren erkannte Thomas Erlenmeyerkolben und ähnliche Fläschchen, in den Schränken standen volle und leere Gefäße. Es gab auch an den Strom angeschlossene Geräte und Brenner, deren Zweck Thomas nicht kannte.
Simon zögerte kurz, schlug dann eine Richtung ein und fand zielsicher ein kleines Räumchen mit Computern.
„Das sollte funktionieren.“ Er begann, die Blackbox mithilfe mehrerer Kabel anzuschließen.
Thomas öffnete das Notebook erneut und überlegte, was er Lars antworten sollte.
Dann kam ihm eine Idee – im Studio lagen doch noch Kontaktdaten der Personen, die er in den letzten Monaten interviewt hatte oder deren Gespräche geplant gewesen waren. Das alles wurde zwar halbwegs regelmäßig gelöscht, aber einige Nummern sollten sie noch haben. Und Thomas erinnerte sich an das Gespräch mit einem Mann, der sich ein kleines Geschäft aufgebaut hatte, indem er Menschen mit seinem Privatflugzeug herumflog.
Er schrieb Lars, dass er diesen Mann suchen und fragen sollte. Ob das der Flugzeugbesatzung irgendwie helfen würde, konnte er nicht sagen, aber er fühlte sich besser, nachdem er es versucht hatte.
Plötzlich erklang ein hoher Ton.
„Was ist das?“, brüllte er.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Simon über den Lärm. Er wich vor den Computern zurück.
Der Ton erstarb. Auf den Bildschirmen, die eben noch leer gewesen waren, erschien ein stilisiertes Gesicht.
„Was ist das?“
„Ich habe nur das Programm gestartet.“
„Hallo“, erklang eine verzerrte, aber trotzdem als weiblich erkennbare Stimme aus den Lautsprecherboxen mehrerer PCs. „Deswegen also war die Blackbox nicht mehr beim Wrack.“
„W-wer …?“ Thomas und Simon tauschten einen erschrockenen Blick.
Ein Knall hallte durch die Gänge. Das Geräusch der schweren Tür, die zuschlug. Dann folgte ein etwas leiseres, aber nicht weniger erschütterndes Klicken.
„Die Verriegelung!“, hauchte Simon und wurde blass.
„Danke, dass ihr mir meine Box zurückgebracht habt, Schätzchen“, sagte die Frauenstimme. „Dann genießt mal eure letzten Stunden Atemluft.“
Und dann gingen die Lichter mit einem Seufzen aus. Simon und Thomas standen in der Finsternis.
~*~
Ruben hatte sich auf den Boden sinken lassen. Ethan warf ihm ab und zu einen Blick zu, während er durch die beiden leeren Zimmer des Hauses tigerte. Es gab noch ein Obergeschoss, aber die Treppe dorthinauf war morsch und größtenteils zerbrochen. Niemand von ihnen wagte, nach oben zu steigen. Vor allem erwarteten sie, dass die Bodendielen dort oben ebenso unsicher wie die Treppe wären.
Das war also keine Option.
Die Fenster hatten einen Holzrahmen und waren verriegelt. Die anderen Überlebenden hatten die Scheiben eingeschlagen, sofern diese nicht bereits ohnehin zerbrochen waren. Ethan konnte die Wagemutigen gut erkennen, denn sie pressten Streifen ihrer Kleidung auf blutende Wunden an ihren Händen. Sie hatten ihr Opfer umsonst erbracht. Die Rahmen waren noch ungewöhnlich stabil, die Verriegelungen klemmten und die abgetrennten Scheibchen waren viel zu schmal, um hindurchzuklettern.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte er weiter. Ein junger Mann hatte ihm einen Druckverband über der Schussverletzung angebracht und ihm Ruhe verordnet, aber Ethan wollte sich nicht hinsetzen und abwarten.
Die meisten Gefangenen waren zwar gefesselt, aber wie Ethan und Ruben gab es auch Ausnahmen, die ihre Hände benutzen konnten. Vielleicht waren den Männern die Fesseln ausgegangen.
Mit einem Nagel, den sie gefunden hatte, versuchten ein paar Leute, die Fesseln ihrer Mitgefangenen aufzuschneiden. Ein Junge stand am Fenster und spähte hinaus.
„Ich glaube, ich sehe ein Feuer. Oder halt so einen Feuerschein“, erklärte er.
Stumm sahen die Gefangenen aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel geworden und in der kleinen Hütte wurde es zunehmend kälter. Die italienischen Nächte sollten zwar eigentlich erträglich sein, jedoch … allmählich wurde es kritisch. Ohne eine Wärmequelle würden sie vermutlich krank werden. Ohne Essen und Wasser sehr bald sterben.
Ethan seufzte, stützte sich an der Wand ab und setzte sich schwerfällig, das verletzte Bein ausgestreckt. Stöhnend massierte er das pochende Fleisch um die Wunde herum.
Er wurde müde. Das konnte auch kein gutes Zeichen sein.
~*~
Je näher sie der Stadt kamen, desto düsterer ragte die Qualmwolke über ihnen in den Himmel. Keelan, Fynn und Lucas wurden langsamer.
Es musste noch mehrere Schwelbrände geben, die niemand löschte. Im Ursprung des Qualms waren die Gerippe großer Wolkenkratzer zu sehen, die verbogen und verzerrt aus den dichten, strömenden Rauchsäulen ragten wie Knochen aus zerfetztem Fleisch.
Ein gewaltiger Gestank lag in der Luft und graue Aschepartikel schneiten in die Straßen.
„Wie sollen wir hier jemanden finden?“ Fynn hatte sein Hemd über Mund und Nase gezogen und blinzelte in den gräulichen Nebel, der über allem lag. „Verdammter Mist!“
„Immer mit der Ruhe.“ Keelan sah sich suchend um. „Wir können die Straßen systematisch durchkämmen.“
Sie hielt nach einem Ort Ausschau, an dem sie sich einen Überblick verschaffen könnte. Einen hohen Turm vielleicht, oder eine Bücherei, wo sie einen Stadtplan erhoffte. Doch sie bemerkte weder das eine noch das andere. So wählte sie kurzerhand eine breite Einkaufsstraße als Mittellinie und wies ihre Begleiter an, die Querstraßen abzusuchen und nach Überlebenden zu rufen.
„Und was machst du?“, fragte Lucas sofort, als Keelan stehen blieb.
„Ich erreichte ein temporäres Lager“, antwortete sie. „Es ist relativ wahrscheinlich, dass auch andere Überlebende auf die Straße hier kommen. Ich fange sie hier ab und kann sie entweder direkt mit dem Nötigsten versorgen oder in die Siedlung schicken.“
„Das ist schlau“, sagte Fynn und klang für Keelans Geschmack ein wenig zu erstaunt. „Gut, machen wir es so.“
Sie nickte abgelenkt und suchte bereits nach etwas, um ihr Lager auffällig zu gestalten. Wer nicht verletzt war, könnte ja auch von selbst zu ihnen finden …
~*~
Seine Schritte wurden stolpernd langsamer. Gordon umklammerte seinen Oberkörper.
Sein Atem ging keuchend und er fühlte sich furchtbar elend. Er hatte Hunger, unglaublichen Hunger. Er war müde. Die verstörende Szene aus dem Haus der alten Frau verfolgte ihn.
Und nichts stimmte mehr. Sein Tagesablauf war völlig über den Haufen geworfen. Er hätte auf Madagaskar sein und Tenreks füttern sollen. Das war eine Welt gewesen, die er verstanden hatte. Einfach und geregelt, verständlich, sicher.
Und nicht diese erbarmungslose Wildnis.
Erschöpft sah er sich um. Er brauchte etwas zu Essen. Sein Magen knurrte immer wilder.
Es war bereits Morgen. Ein grauer, diesiger Morgen dämmerte über dem Land. Er sah Pflanzen, die er eigentlich zuordnen können sollte. Er hatte sie bestimmt schon einmal in einem Buch gesehen … oder?
Seine Gedanken waberten wie durch Nebel. Wie lange war er nur gelaufen?
Er bemerkte ein paar Beeren. Essen! Oder waren sie giftig? Zögerlich trat er näher. Er musste blinzeln. Müdigkeit, Angst und Verwirrung ließen seinen Blick verschwimmen. Seine Augen tränten.
Er stolperte an den Beeren vorbei. Lieber kein Risiko eingehen. Oder doch? Oder nicht?
Er war unschlüssig. Wieso sagte ihm niemand, was zu tun sei? Wieso gab es keinen Plan, an den er sich halten konnte?
Er erreichte den Rand des kleinen Wäldchens. Vor ihm lagen offene Wiesen. Er seufzte und setzte sich.
Was sollte er jetzt nur tun? Unschlüssig spielte er mit etwas Erde, ließ sie durch seine Finger rieseln. Überall raschelte und zirpte und zwitscherte es und er wusste nicht länger, welche Geräusche zu welchem Tier gehörten.
Die Hände auf die Ohren gepresst rollte er sich zusammen.
~*~
Er hörte eine Stimme, die seinen Namen rief.
„Seth … Seeeth …“
Stimmen in seinem Kopf war er inzwischen gewohnt. Doch es waren nur äußerst selten solche wunderbaren Stimmen. Unwillkürlich lächelte er, während er blind schwebte – oder vielleicht auch unter Wellen trieb.
„Enila …“
„Seth …“
Was wollte sie von ihm? Er wollte sie fragen, aber seine Muskeln waren zu erschöpft, um sich zu bewegen. Er konnte den Kopf nicht drehen, die Augen nicht öffnen, den Mund nicht bewegen.
Enila … wo war sie? Er wollte sie berühren, sie umarmen.
„Seth!“ Ihr Schrei klang ängstlich.
Er musste sie beschützen!
Verzweifelt ruderte er. Das Wasser um ihn herum war dickflüssig und zäh, es umschloss ihn immer enger. Seth rang nach Atem. Er konnte nichts sehen und versuchte lediglich, dem Klang von Enilas Stimme zu folgen. Doch ihre Worte wurden immer leiser und leiser, je wilder er um sich schlug.
„Seth …“ Kaum mehr als ein Hauch, und es klang so traurig und enttäuscht!
~*~
Als sie am Abend aufbrachen, waren Keelan, Fynn und Lucas erschöpft. Sie waren den ganzen Tag gelaufen. Fynn und Lucas hatten die halbe Stadt durchsucht, Keelan in der Zwischenzeit Planen, Bänke und anderes Gerümpel an die Kopfseite der Straße geschafft und ein geschütztes Lager errichtet.
Dann waren die Menschen gekommen. Manche waren unverletzt gewesen, andere hatten Schnitte gehabt oder gehumpelt, doch es hatte auch solche gegeben, die schwere Verbrennungen, fehlende Gliedmaßen und anderes erlitten hatten.
Keelan hatte nur wenige Bandagen gehabt, und diese waren bald aufgebraucht. Sie notdürftig versorgten hatte sie in die Ferienhaussiedlung geschickt. Natürlich nicht allein – drei bis vier der Unverletzten mussten sie auf halbfertigen Tragen den Berg hinauf schaffen. Keelan verpflichtete jeden, der nicht so aussah, als würde er schon unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Sogar ältere Kinder.
Kleine Gruppen zogen bald in die Berge. Ein- oder zweimal sah Keelan, wie diese Grüppchen auf halbem Weg anhielten und begannen, ein Grab auszuheben. Es war jedes Mal wie ein Schlag in den Magen.
Aber es kamen immer mehr Leute. Keelan konnte nicht innehalten. Sie holte Medikamente und Wasser, erklärte wieder und wieder den Weg zu ihrem kleinen Zentrallager und wurde förmlich von der Masse an Flüchtlingen überschwemmt. Viele waren so unglaublich dankbar für das bisschen Hilfe, das Keelan geben konnte, dass sie in Tränen ausbrachen.
Und das machte das Leid schon irgendwie wieder wett.
Als es dämmerte und der Strom an Hilfesuchenden nicht abzureißen schien, malte Keelan den Weg zum Haus auf ein großes Laken. Lucas half ihr, eine kurze Botschaft in Deutsch, Englisch und Spanisch darunterzustetzen: ‚Wir kommen morgen wieder!‘
Keelan fühlte sich erfüllt von dem Glück, etwas bewirkt zu haben, und unsäglich erschöpft. Sie konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen, und irgendeine ihr unbekannte Frau stützte sie auf dem schier endlos erscheinenden Weg nach oben.
„Da bist du ja“, begrüßte Markus sie, als sie endlich an ihrer Basis ankam. „Dann kommen keine Leute mehr?“
Er und die anderen Dolmetscher waren ebenso müde wie Keelan. Offenbar hatten sie den gnazen Tag lang Verletzte in die Häuser einquartiert.
„Ich glaube, es werden immer noch Leute kommen.“ Keelan ließ sich auf das Sofa fallen. „Es hörte gar nicht mehr auf. Wie lief das Übersetzen?“
„Wir haben einiges geschafft“, erklärte Maximilian, der in diesem Moment mit einem Topf Suppe ins Zimmer kam. „Neben Hilfsangeboten haben wir auch viele Hilferufe abgefangen. Einer kam sogar aus einem Flugzeug, das in dem Moment abstürzte. Irgendwo an der Grenze. Eine kleine Maschine mit mehreren Verletzten, die aus Italien geflohen waren.“
„Das ist entsetzlich!“ Keelan schlug die Hände vor den Mund.
„Wir haben das Signal leider zu spät erwischt.“ Maximilian seufzte. Er stellte die Suppe ab und machte sich daran, acht Teller zu füllen. Ihre Vorräte waren ebenfalls geplündert worden, denn sie hatten viel an die Hilfesuchenden abgegeben. Aber immerhin sah das Haus gemütlicher aus und war mit Brettern vor der Witterung geschützt. Aus den Nachbarhäusern drangen hin und wieder Geräusche der Flüchtlinge, die dort untergebracht worden waren. Die Ferienhaussiedlung füllte sich.
„Aber in Zukunft können wir bei solchen Sachen den französischen Piloten um Hilfe bitten. Und ein paar andere Leute haben wir auch, die wir fragen könnten.“
Keelan lächelte schwach. „Also sind wir jetzt Apokalypsen-Vermittler?“
„Und eine Notunterkunft“, fügte Richard hinzu.
„Klingt nicht übel.“ Keelan ließ sich in das Polster sinken und probierte einen Löffel der heißen Suppe.