Kapitel 12: Kapitel 6
„Willst du die schwere oder die leichte Tour?“, fragte der mit der Pistole. Offenbar war er der Anführer der Schlägerbande.
Iris zögerte einen Moment, dann sackten ihre Schultern ein Stück nach oben und sie hob die Hände auf Kopfhöhe. „Okay. Was wollt ihr dann?“
Der Anführer bewegte die Pistole leicht. Zwei der Kerle stapften auf sie zu. Einer packte ihre Arme und zerrte sie auf den Rücken, der andere stieß ihr das Knie in den Magen, sodass sie ächzend auf den Boden sackte.
Die zwei Männer hielten sie am Boden, während ein dritter Iris abtastete. Sie nahmen ihr den Stick an der Kette ab und das Taschenmesser. Einer hielt am Ende der Gasse Wache, während Iris‘ Kleidung und dann ihre Tasche durchwühlt wurde. Jemand fesselte ihr die Hände mit Kabelbindern auf den Rücken. Sie erkannte das vertraute Surren und das Gefühl des schneidenden Plastikbandes sofort.
Reifen quietschten. Am Ende der Gasse hielt ein kleiner, schwarzer Transporter mit abgedunkelten Scheiben. Iris wurde unter den Achseln gepackt und in das Auto geschleift. Selbst wenn sie nicht beschlossen hätte, erst einmal ruhig zu bleiben, hätte sie keine Chance zur Flucht gehabt. Alles ging viel zu schnell und wenige Schläge und Knüffe später lag sie im Laderaum des Transporters. Vier der Männer kletterten mit hinein, der Anführer zog die Seitentür zu und sprang offenbar vorne ins Auto, denn kaum fünf Sekunden später fuhren sie bereits.
Caprice hatte keinen Halt. In jeder Kurve rollte sie über den unebenen Boden und stieß gegen Holzbretter oder Kisten, die hier standen. Die vier Männer knieten am Rand und hatten Griffe, an denen sie sich festhalten konnten. Iris konnte nur die Füße unter die Sitzbank schieben und versuchen, sich dort irgendwie zu verankern, um dann in jeder Kurve ihren Körper anzuspannen. Es klappte nicht einmal im Ansatz und sie wollte lieber nicht daran denken, wie viele blaue Flecken das werden würden.
Nach vielleicht zehn Minuten beruhigte sich die Fahrt und der Transporter begab sich offenbar auf eine flache, gerade Straße. Der Motor wurde lauter, als sie beschleunigten. Entweder, sie waren mitten auf der Autobahn oder auf einer sehr verlassenen Landstraße. Die Fahrt verlief ohne Ruckeln oder Spuren von Schlaglöchern, weswegen Iris auf die Autobahn tippte. Auch wenn es für ihre Entführer ein größeres Risiko darstellte als irgendeine vergessene Straße im Hinterland.
Sie nutzte die Zeit, um die vier Männer genauer zu mustern. Sie hatten alle dunkle Haare und leicht gebräunte Haut und wenn sie sprachen, dann in Spanisch. Iris erkannte nicht genug Wörter, um den Sinn zu verstehen. Dafür bekam sie aber die Namen der vier mit: Der Kleinste der Gruppe hieß Hector und spielte sich mit seiner befehlshaberischen Stimme auf, seitdem die Tür des Wagens zu war. Felipe, ein schmächtiger, hagerer Kerl, sprach dagegen nur leise und schüchtern und murmelte immer wieder etwas von einem Juan – das musste der Anführer sein, denn keiner der anderen reagierte auf den Namen. Fernando und Alonzo waren beide eher ruhig und schienen gewillt, sich nicht zu sehr mit Hector einzulassen. Der Kleine war offenbar ein Aufwiegler, der gegen Juan rebellierte. Außer diesen fünf Namen wurde noch ein, zwei Mal von einem Mateo gesprochen, den Iris kurzerhand für den Fahrer hielt.
Dass die Entführer so sorglos mit ihren Namen um sich warfen, war auch kein gutes Zeichnen. Jeder Name wäre ein Hinweis für die Polizei, wenn Iris entkommen würde. Also rechneten die Spanier nicht damit, dass sie jemals wieder eine Polizeistation von Innen sehen würde – nun, vielleicht noch als Leiche auf dem Seziertisch.
Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg, eine dunkle, glitschige Faust schien ihre Eingeweide zu umfassen und zusammenzudrücken. Ein elektrisierendes Kribbeln kroch über ihre Schultern und Arme. Iris atmete tief durch und beruhigte ihren Atem. Ihre Muskeln entspannten sich und ihr Herz klopfte nicht länger schnell und ängstlich, sondern kraftvoll und langsamer als im Normalzustand.
Es war wie ein Rausch. Sie fühlte sich lebendig. Die Schmerzen in ihren Handgelenken wurden von euphorischem Adrenalin überdeckt. Sie wischte die verschwitzten Handflächen an der Hose ab und dann lag sie vollkommen ruhig da und genoss das Rumpeln in jeder Kurve wie eine Achterbahnfahrt. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen.
Die Männer bemerkten ihre unnatürliche Ruhe und wurden stiller. Schließlich fuhren sie in eine große Kurve – runter von der Autobahn – und dann offenbar wieder Landstraßen entlang, bis das Auto endlich hielt.
Türen wurden geöffnet und zugeschlagen. Die vier Männer im Inneren standen auf, dann öffnete Juan die Tür und man zerrte Iris auf den mit Schutt übersäten Hof vor einem verfallenen Fabrikgelände.
Sie sah sich sofort aufmerksam um und entdeckte mehrere solcher Gebäude aus billigen Materialien um sich herum und eine von Unkraut überwucherte Straße dazwischen. Die Drahtzäune waren niedergetreten worden, kleine Bäumchen hatten sich ihren Weg durch den Asphalt erkämpft und das Wellblech der Hallen war mit Graffitis bedeckt. Offenbar war das Industriegebiet schon länger verlassen.
Hector zerrte Iris grob auf die Fabrik zu. Es ging durch eine Tür in eine düstere, große Halle, in der ihre Schritte laut widerhallten. Auch hier gab es Trümmer und Graffiti. Iris sah einen Stuhl in der Mitte der Halle und ging zielstrebig darauf zu. Sie kam Hector zuvor, indem sie sich entspannt auf den Metallhocker setzte und die Beine übereinanderschlug.
Alonzo lachte auf und rief etwas, worauf Hector ihm barsch den Mund verbot. Alonzo redete allerdings in spöttischem Ton weiter, bis Juan seine Untergebenen scharf zur Ordnung rief.
Die sechs Männer bauten sich um Iris herum auf. Sie sah ihnen allen entspannt in die Augen und grinste schief. „Muss ich jetzt singen oder so was? Ihr seht aus, als erwartet ihr eine Vorführung.“
„Singen sollst du wirklich“, knurrte Juan. „Wo ist Carmen Manzanares?“
Aha! Darum ging es den Männern also. Iris hoffte, dass ihr Gesicht keine Regung verriet. „Ging das nicht anders? Wo in der Welt ist Carmen Sandiego?“
Hector schlug ihr ins Gesicht. Sie hatte den Schlag nicht einmal kommen sehen. Auf einmal flog ihr Kopf in den Nacken und sie stürzte vom Hocker. Dann jagten stechende Schmerzen durch ihre Nase, während ihr Hinterkopf gleichzeitig Bekanntschaft mit dem Betonboden machte.
Sie rollte sich auf die Seite und kämpfte die Tränen zurück, die der Schmerz ihr in die Augen trieb. „Das hat mich jetzt echt vom Hocker gehauen …“
Hector machte einen schnellen Schritt auf sie zu und Iris zuckte zusammen, in Erwartung eines Trittes. Hector schnaubte abfällig. „Du hast ja doch was gelernt. Jetzt lass die dummen Sprüche und antworte.“
„Genau, antworte dem Boss“, knurrte Fernando, der Iris zurück auf den Hocker hob. Verdammt, war der stark … Wäre das Adrenalin nicht gewesen, hätte Iris vor Angst kaum atmen können. Sie hob den Blick und starrte Juan ins Gesicht. Carmen Manzanares … sie erinnerte sich an sie. Carmen war die junge Frau eines Drogenbarons gewesen, Iris hatte ihr zur Flucht verholfen. Eine ihrer wenigen guten Taten. Da sah man mal wieder, was einem gute Taten einbrachten!
~*~
Erst an Bord merkte Ruben, dass ihm Schweiß auf der Stirn stand. Das Zusammentreffen mit Kristina hatte ihm mehr zugesetzt, als er gedacht hatte. Jetzt, im Nachhinein, traf ihn die Absurdität der Situation wie ein Hammerschlag. Was Krissi behauptet hatte … das war doch die Höhe! Wer wusste schon, was die Sicherheitsmänner mit Ruben angestellt hätten. Zum Glück war der fremde Mann eingeschritten. Das musste ein Gesandter Gottes gewesen sein, anders ließ sich der glückliche Umstand nicht erklären, dass dieser zufällig die Szene mit Krissi gefilmt hatte, um Rubens Unschuld damit beweisen zu können.
Der Mann … Ruben sah sich um, doch der Unbekannte war bereits in der Menge untergetaucht. Spurlos verschwunden … für einen Moment war Ruben sich sogar sicher, dass der Mann zum Himmel aufgefahren war. Er konnte doch nichts anderes als ein verkleideter Engel sein!
„Ruben … geht es dir gut?“ Daniel legte ihm eine Hand auf die Schulter und riss Ruben damit aus seinen Gedanken.
Erstaunt merkte er, dass er flach und schnell atmete und mehr schwitzte, als die Hitze entschuldigte.
„Ja … alles … alles gut.“
Daniel nahm ihm die Lüge nicht ab. „So siehst du nicht aus. Komm, suchen wir unsere Kabine. Und dann legst du dich hin!“
Um Geld zu sparen, hatten die Zeugen keine Einzelkabinen gebucht. Für Ruben war das kein Problem. Zwar lebte er schon einige Jahre mit Ester zusammen, doch früher hatte er sich ständig ein Zimmer oder ein Zelt mit Daniel geteilt. In diese Zeit der Zeltlager und Wochenendseminare fühlte er sich nun zurückversetzt. Er fühlte sich in Massenunterkünften häufig sowieso wohler als im Ehebett neben Ester. Eng zusammengepferchte Betten und Schlafsäcke weckten Erinnerungen an seine Jugendzeit.
Ihre Koje fügte sich dieser Liste karger Betten nahtlos hinzu. Es gab ein sehr schmales Hochbett aus Metall. Die Lattenroste quietschten. Zwei Metallspinde wie aus einer Schule dienten als Kleiderschränke. Ansonsten blieb nur Platz für einen billigen Nachttisch. In dem engen Gang zwischen Betten und Schränken konnte man sich kaum umdrehen. Wenn die Schranktüren offenstanden, war man sogar in dem Zimmer eingesperrt.
„Wo möchtest du schlafen?“
„Unten“, entschied Ruben sofort.
Daniel grinste wie ein Schuljunge. „Manche Dinge ändern sich nie.“
Ruben schüttelte den Kopf. „Ich verstehe immer noch nicht, wie du in der Höhe schlafen kannst, ohne dir nachts alle Knochen zu brechen.“
„Der Trick besteht darin, nachts nicht auf die Toilette zu gehen“, antwortete Daniel und grinste noch breiter.
„Igitt!“, beschwerte sich Ruben und wuchtete seinen Koffer auf das Bett, um das Thema nicht vertiefen zu müssen.
Daniel blieb eine Weile hinter ihm stehen. „Ähh, räum du mal als erstes ein. Die Koffer schieben wir am besten auch unter das Bett, sobald sie leer sind. Ich gehe mich mal an Bord umsehen. Willst du vielleicht ein Wasser? Ich würde dir eines mitbringen.“
„Ja, das wäre jetzt genau richtig!“, sagte Ruben dankbar. „Ich beeile mich, brauch nur fünf Minuten.“
„Sparsam wie immer.“ Kichernd verließ Daniel das beengte Zimmer.
Das stimmte – Ruben besaß nicht viel, und mehr als eine lange und vier kurze Hosen, eine Handvoll T-Shirts und das Notwendigste hatte er nur Neue Welt Übersetzung, den aktuellen Wachturm und die aktuelle Losung dabei. Ihm fiel ein, dass er den Spruch für heute schon wieder nicht gelesen hatte, also blätterte er in der Losung zum heutigen Tag und holte das schnell nach. Dann versteckte er die Lakritz wieder ganz unten im Koffer und ging seine Medizinsammlung durch, die ebenso bescheiden wie nützlich war. Er überlegte kurz, eine Kopfschmerztablette zu nehmen, aber frische Luft würde ihm vermutlich eher helfen, das unangenehme Erlebnis zu vergessen.
Bis Daniel mit zwei kleinen Plastikflaschen Wasser zurück war, hatte Ruben alles eingeräumt und seinen Koffer ordentlich unter das Bett geschoben. Er hatte sogar die Kleidung seines Freundes in den Schrank geräumt. Daniel hatte seinen Koffer zurückgelassen, das war sozusagen eigenes Risiko … außerdem kannte Ruben seinen Freund gut genug, um sich das erlauben zu können.
„Danke. Boah, die Preise hier sind echt der Wucher.“ Daniel setzte sich mit auf Rubens Bett und reichte ihm das Wasser. „Fünf Euro, für … was sind das, 200 Milliliter?“
Ruben hob die Augenbrauen, um angemessen entsetzt auszusehen. Kreuzfahrtschiffe eben, dachte er bei sich.
„Na ja, du ruhst dich jetzt mal eine halbe Stunde aus.“ Daniel stand wieder auf. „Das war ein Befehl!“
Ruben grinste. „Ja, Mama.“
Während Daniel noch empört aufschrie, legte Ruben sich in das schmale Bett. Wieder quietschten die Lattenroste. Nie im Leben würde er auf diesem harten, schmalen Brett einschlaf-
Als er erwachte, hatte sich die Farbe des Sonnenlichts zu einem warmen Orange gedämpft. Er gähnte, streckte sich und rollte aus dem Bett. Seine Zunge fühlte sich pelzig an und er hatte Durst. Wie lange hatte er geschlafen?
Daniel war nicht da, als trat Ruben auf den Gang und leerte dabei das Wasser. Langsam ging er den Gang entlang. Das Schiff schwankte langsam und gemächlich hin und her.
An Deck umwehte ihn schneidend kalter, salziger Seewind. Ruben blinzelte die letzte Müdigkeit fort und sah sich um. Wo waren seine Brüder und Schwestern?
Stattdessen entdeckte er den fremden Mann, der ihn mit seiner Kameraaufnahme gerettet hatte. Vor der sinkenden Sonne und der ruhigen See, umhüllt von goldenem Gegenlicht, sah er einem himmlischen Boten wirklich sehr ähnlich. Ruben wusste, dass er sich unbedingt bedanken musste. Während er das Deck überquerte, legte er sich ein paar englische Sätze zurecht. Für die Reise hatte er seine Kenntnisse etwas aufgefrischt, doch er war sich immer noch nicht sicher, ob er gut kommunizieren konnte.
„H-hello …“, begann er unsicher.
Der Mann drehte sich um und musterte Ruben genervt. Dann malte sich Erkennen auf seinem Gesicht ab und er lächelte breit. „Hey there!“
„I wanted to say thanks …“, murmelte Ruben und verkrampfte sich innerlich. Sein ehemaliger Englischlehrer würde vor Scham im Boden versinken.
„Oh, that … no problem, friend“ Der Mann winkte ab, dann reichte er Ruben die Hand. „I’m Ethan.“
„Ruben.“ Zögerlich schüttelte er die Hand seines Retters.
~*~
Mit leuchtenden Augen sah Max sich zwischen der Technik um. Lars scharwenzelte um den Jungen herum und erklärte ihm begeistert, wofür dieses und jenes Gerät war. Thomas beobachtete seinen besten Freund schmunzelnd. Ja, Max war ein wirklich liebenswürdiger Junge, aber Lars benahm sich wie eine junge Glucke. Das sah dem jungen Techniker gar nicht ähnlich.
Thomas musste die Augen schließen, weil seine Maske aufgelegt wurde. Gleich fing die Sendung an und er war bereits verspätet gewesen. Sein Chef war noch weniger erfreut gewesen, dass Thomas mit einem Sechsjährigen aufgekreuzt war. Doch Max hatte ja schlecht mehrere Stunden allein in Thomas‘ Wohnung bleiben können. Also hatte er für Emmeline – falls sie zufällig jetzt nach Hause kam – einen Zettel an seine Tür gehängt und den Jungen kurzerhand mitgenommen. Nach einiger Überzeugungsarbeit hatte er dann auch seinen Chef überzeugt, dass das Kind keine Probleme machen würde. Max war sehr zurückhaltend und würde sicher nichts kaputt machen … Am Ende hatte Thomas‘ Chef vermutlich nur zugestimmt, weil ihnen die Zeit vor der Sendung davonlief. Allerdings befürchtete Thomas, dass seine Position beim Sender gehörig ins Wanken geraten war.
Ihm kroch es eiskalt den Rücken hinauf. Ob er bereits so viel Ärger verursacht hatte, dass man ihn feuern würde?
„Noch fünf Minuten“, sagte Lars, der neben der Rundführung für den Jungen irgendwie auch noch die Zeit im Auge behielt.
„Alles in Ordnung?“, fragte ihn Clacy, während sie ihn weiter schminkte. „Das ist heute eine wichtige Sendung, nach der Katastrophe vom letzten Mal.“
Thomas nickte. „Ich kriege das hin!“ Dabei strahlte er deutlich mehr Zuversicht aus, als er selbst verspürte.
Während er Clacys Blick auswich, damit sie ihm seine Zweifel nicht ansah, bemerkte er, wie zwei jüngere Techniker – eine Frau und ein Teenager, offenbar der Azubi – sich aufgeregt über das Handy der Frau beugten.
„Wow, das ist jetzt der fünfte Absturz!“, flüsterte der Junge so laut, dass Thomas jedes Wort verstand. „Das … das ist doch nicht normal!“
„Und jetzt auch noch direkt hier“, bestätigte die Frau.
Thomas spitzte die Ohren und erstarrte kurz darauf. Den Worten entnahm er, dass ein weiteres Flugzeug abgestürzt war – diesmal in seinem Wohnviertel!
Er sprang auf, ignorierte Clacys Protest und trat zu den beiden Technikern. „Was …“ Er räusperte sich.
Die Technikerin wurde blass. „Mister Goldschmidt … da wohnst du doch, richtig?“
Thomas nickte nur. Er brachte kein Wort heraus, denn er hatte einen kurzen Blick auf das Display und eine Luftaufnahme seines Viertels erhascht. Die vertraute Wohngegend war ein einziges, feuriges Trümmerfeld.
‚Wenn ich nicht zufällig gerade bei der Arbeit wäre …‘, dachte er und erschauerte gleich darauf: ‚Wenn ich Max dort zurückgelassen hätte …!‘
~*~
Gequältes Stöhnen riss Riikka aus dem Schlaf. Sie blinzelte müde. Sie hatte gedacht, nach den Anstrengungen des Tages hätte sie tief und fest schlafen können, doch sie hatte fast gar keine Ruhe gefunden. Die schrecklichen Bilder aus dem Schiff verfolgten sie noch immer und stahlen ihr die Ruhe. Sobald sie die Augen schloss, prasselten die Eindrücke auf sie ein. Die Kälte und das unbequeme Lager taten ihr übriges, um die Situation zu verschlimmern. Immer wieder hatte sie ein wenig Schlaf ergattern können, doch wenn sie aufgewacht war, war es jedes Mal noch dunkel gewesen. Ohne eine Uhr konnte sie nicht sagen, ob sie Stunden oder doch eher Minuten geschlafen hatte.
Jetzt kroch die erste Gräue des Morgens über den Himmel, begleitet von einem feinen, eisigen Nieselregen, der nach Asche schmeckte. Riikka rollte sich auf die Seite, zurück unter das improvisierte Dach. Irgendwann in der Nacht musste sie unter freien Himmel gerollt sein …
Wieder erklang das Stöhnen und diesmal war Riikka hellwach. Suchend sah sie sich um. Ihre vor Müdigkeit brennenden Augen wollten sich immer wieder schließen, doch mit heftigem Blinzeln hielt sie die Lider offen.
Das Stöhnen … wo kam es her? Ihr Blick fiel auf Enrico, der ihn mit wässrigen Augen erwiderte.
„Oh, tute mich sehr leid, iche versuche, leise zu seien, doche die Schmerze …“
„Enrico!“, schrie Riikka leise auf und krabbelte an seine Seite. Ihr Aufschrei ließ Hazel förmlich senkrecht in die Höhe schießen, die Australierin war sofort hellwach. Wie gebannt sah sie zu, wie Riikka sich über Enrico beugte. Der Italiener umklammerte sein Bein. Riikka schluckte und berührte den Verband vorsichtig. Enrico zog die Luft scharf durch die Zähne ein. „Mamamia, tute dasse weh!“
„Wir müssen uns das ansehen“, sagte Hazel scharf auf Englisch. Riikka atmete noch einmal tief durch und zog den behelfsmäßigen Verband dann zur Seite.
Ein widerlicher Gestank schlug ihr entgegen. Es roch nach faulem Fleisch. Enrico lamentierte weiter, aber Riikka hörte seinem deutsch-Italienischem Kauderwelsch nicht länger zu. Entsetzt starrte sie auf die eitrige Wunde und das Fleisch drumherum, das die Farbe knalliger, roter Äpfel angenommen hatte.
„Entzündet“, stellte Hazel mit ruhigem Ton fest. Die Stimme der Älteren riss Riikka aus der Starre. „Mach das Feuer an.“
Mit einem Schlucken nahm Riikka die Feuersteine entgegen und beugte sich über die Asche des Lagerfeuers. Ein paar Papiere dienten ihnen als Anzünder und die Trümmer lieferten ihnen zum Glück genug Holz. Während sie das Feuer langsam entfachte, sah sie Hazel mit einem Taschenmesser neben sich stehen. Sobald sich die ersten Flammen zeigten, hielt die Australierin die Klinge hinein.
„Halt ihn fest.“
Riikka befolgte Hazels Befehl und lehnte sich auf Enricos Bein. Die anderen waren von dem Lärm inzwischen geweckt worden und sahen ihnen verständnislos zu. Sun Lin schrie auf und hielt sich die Hände vor das Gesicht, als Hazel seelenruhig in Enricos Bein schnitt.
Auch der Italiener schrie. Er zappelte, doch Riikka musste nicht besonders viel Kraft aufwenden, um ihn am Boden zu halten. Entweder, sein Jammern trog über seine wahre Stärke hinweg und er ertrug die Schmerzen – oder er war zu geschwächt, um viel Widerstand zu leisten.
Riikka hoffte auf Ersteres. Italiener kannte sie als geschwätzige, lebhafte Menschen. Enrico hätte sicherlich nicht die Nacht hindurch schweigend gelitten!
„Fertig. Wir brauchen einen neuen Verband und den Alkohol“, sagte Hazel. Sun Lin schnappte sich ein Tuch und rannte damit zum Meer. Auf halbem Weg duckte sie sich plötzlich hinter ein größeres Holzstück. Die Gruppe hörte sie kotzen.
„Der Alkohol“, verlangte Hazel erneut.
„Er ist nicht da“, murmelte Jochen Uhlmann, der zu dem Loch im Sand gestiefelt war, das ihren Kühlschrank darstellte.
„Was?!“
„Irgendwas hat die Flaschen ausgegraben … nein, da hinten liegen sie!“ Jochen watschelte zu einer Stelle weniger Meter weiter und hob eines der winzigen Weinfläschchen aus der Schiffsbar auf. „Leer.“
„Nicht etwas“, knurrte Hazel.
Riikka folgte dem Blick der Australierin: Eine aus ihrer Gruppe war noch nicht aufgewacht. Rita lag noch unter dem Dach, schnarchte leise und hatte ein seliges Lächeln auf dem aufgedunsenen Gesicht.
Jochen stöhnte auf. „Ich kann es nicht fassen!“
„Ist noch irgendwas da?“, fragte Hazel. Ihre Stimme klang angespannt, was vermutlich Ritas Rettung war, denn der Ehemann der Deutschen schickte sich gerade an, zu ihr zu rennen und vermutlich etwas für sie sehr Unangenehmes zu tun. Nun bückte Jochen sich nach den Flaschen, hob jede einzelne auf und untersuchte sie.
„Nein“, urteilte er schließlich, die Stimme tief vor unterdrücktem Zorn. „Rita kann was erleben, wenn sie aufwacht.“
„Dafür haben wir keine Zeit.“ Hazel sah sich um und winkte Sun Lin, die gerade mit dem Lappen zurückkam. „Füll Salzwasser in irgendeine Flasche. Los, lauf, Mädchen.“
Riikka fing den Lappen auf, den Sun Lin ihr zuwarf.
Sie sah zu Enrico, dem der Schweiß auf der Stirn stand, dann zum Feuer.
„Ausbrennen?“, schlug sie Hazel vor.
Die Australierin folgte Riikkas Blick zu den winzigen Flammen. „Dazu brauchen wir ein großes, sauberes Stück Metall.“ Hazel nahm Riikka den nassen Lappen ab. Das war Riikkas Zeichen, um sich auf die Suche nach einem Metallstück zu begeben. Während sie loseilte, traf sie der Surrealismus der Situation wie ein Hammerschlag. Hier war sie, eine Bibliothekarin, und versuchte, einen Verletzten mit den primitivsten Mitteln zu retten, wo sie eigentlich eine Kreuzfahrt genießen sollte.
‚Nie wieder Kreuzworträtsel‘, schärfte sie sich ein. ‚Nie wieder Gewinnspiele.‘ Von nun an würde sie zuhause bleiben.
Das hieß … falls sie es jemals wieder zurück nach Hause schaffte. Wieso war immer noch keine Hilfe aufgetaucht? Hatte denn niemand etwas von dem Unglück mitbekommen? Warum suchte man sie nicht?
Aufgewühlt ließ Riikka den Blick über das Meer wandern. Kalter Regen klatschte in ihr Gesicht, der Wind riss an ihren Haaren. Sie fröstelte.
Waren sie auf sich gestellt?
~*~
„Hier, bitte.“ Simon teilte das nächste Paket an die nächste Person aus. Er versuchte, bei jedem Menschen freundlich zu lächeln und ihnen das Gefühl zu geben, das sie mehr waren als nur Fließbandarbeit, eine lange Schlange, die abgearbeitet werden musste.
Doch damit belog er nur sich selbst und alle anderen. Etwa dreihundert Gesichter waren an diesem Morgen schon an ihm vorbeigezogen. Sie alle waren Menschen mit ihren eigenen Sorgen, Problemen und Geschichten, aber Simon hatte natürlich keine Gelegenheit, sich mit ihnen zu unterhalten. Es waren Lebensmittelpakete aus den nicht betroffenen Regionen eingetroffen. Diese kaum zureichenden Tüten mit etwas Mehl, Wasser und Obst mussten unter den vielen Notleidenden verteilt werden. Manche nahmen die Papiertüten wie ein Geschenk Gottes entgegen und weinten vor Freude. Andere – meist Mütter – verlangten lautstark nach mehr, um ihre Familien zu ernähren. Dann baute sich der Soldat in Simons Rücken bedrohlich auf und präsentierte die Waffe, worauf der Protest meist verstummte.
Es gab einfach nicht mehr. Simon wünschte sich, er könnte das ändern, aber er war kein Magier.
„Hier, bitte.“ Der alte Mann, der nun an der Reihe war, nahm die Tüte mit leicht zitternden Fingern entgegen.
Während Simon mechanisch weiterverteilte, sah er den Alten zu einer Familie gehen. Er drückte einer jungen Mutter, an die sich fünf Kinder pressten, die Tüte in die Hand und sagte etwas auf Brasilianisch, das Simon zwar nicht verstand, dessen Sinn er sich aber leider viel zu gut zusammenreimen konnte. „Ich bin alt, ich brauche nicht viel, nehmt ihr es.“
Der Master of Desaster seufzte leise. Immer wieder das gleiche Bild, die gleichen tragischen Helden und Bösewichte, wenn eine Katastrophe einschlug.
Ein Geräusch durchbrach das angespannte Murmeln. Simon zuckte zusammen. Ein klingelndes Handy war so alltäglich, dass es angesichts der Katastrophe surreal wirkte. Irgendein junger Mann brach sogar in Tränen aus. Die Menschen hier waren nervlich am Ende.
Simon brauchte noch einen Moment, um zu realisieren, dass das betreffende Handy in seiner Hosentasche steckte. Er entschuldigte sich, zog es heraus und ging ran.
„Ja, Baker?“
„Simon Baker?“ Die Stimme am anderen Ende war ihm vertraut, aber er erkannte sie nicht.
„Was … willst du?“ Er riet ins Blaue hinein, wie er den Unbekannten ansprechen sollte.
„Kannst du nach New York kommen?“
„New York?“ Simon schrie fast vor Entsetzen. „Das geht nicht. Ich bin in Brasilien, ich arbeite.“
„Bitte. Wir brauchen hier deine Hilfe. Die Stadt liegt in Trümmern und du bist der Einzige, der mir eingefallen ist.“
Woher kannte er die Stimme nur?
Verzweifelt ließ Simon den Blick über die Menschenschlange schweifen. Er war niemand, der jemandem Hilfe ausschlug, also versuchte er, einzuschätzen, wie stark er hier gebraucht würde. Die Menschen weiter hinten in der Schlange beschwerten sich bereits über die Verzögerung.
„Wie lange denn?“, fragte er endlich. „Ein paar Tage kann ich vielleicht …“
„Nein. Wir brauchen dich länger.“
Simon schüttelte den Kopf, obwohl der andere das nicht sehen konnte. „Nein. Nein, das geht nicht. Ich kann hier nicht weg. Die Menschen hier brauchen meine Hilfe.“
„Die Menschen hier aber auch.“ Endlich erinnerte sich Simon, woher er die Stimme kannte. Thomas. Der Moderator von ‚The Golden Talk‘.
„Es tut mir leid“, sagte er leise und legte auf. Er steckte das Handy ein und versuchte, den Anruf zu verdrängen.
Er fühlte sich elend.
~*~
Blinzelnd schlug Seth die Augen auf. Hatte er geschlafen?
Er merkte direkt, dass er immer noch drauf war. Bunte Schlieren wie Ölflecke trieben unter der Decke.
Überhaupt sah diese Decke nicht vertraut aus. Sie war nicht waagerecht und die Löcher der Verwüstung fehlten, die Seth in der alten Wohnung mittlerweile vertraut waren. Hier starrte er allerdings auf eine Metallstange, zu der von beiden Seiten Planen hinabhingen. Ein Zelt.
Alles prasselte wieder auf ihn ein. Das Feuer, der Rauch in der Nase, die durch die Droge gedämpften Schmerzen. Seth hob die Hände und sah, dass sie umwickelt waren.
Enila! Er musste Enila finden.
Er rollte sich zur Seite und das Klappbett unter ihm kippte. Einen Moment sah es so aus, als könnte er das Gleichgewicht halten, dann schlug er hart auf dem Boden auf. Stöhnend rollte er sich auf die Seite und drückte sich vom Boden hoch. Schmerzen stachen in seine Hände, aber er ignorierte sie. Als er gerade schwankend auf die Füße kam, hörte er, wie die Plane zurückgeschlagen wurde.
„H-hey! Du solltest noch nicht aufstehen.“ Ein großgewachsener, sportlicher Mann eilte an Seths Seite, stellte das Bett wieder auf und drückte Seth in sitzende Position darauf. „Hast du Schmerzen? Willst du was trinken?“
Während der Fremde Seth von oben bis unten musterte – ihn regelrecht analysierte – starrte Seth ihn ebenfalls an. Der Fremde trug zwar ein Dogtag, ansonsten aber Jeans, T-Shirt und Sneakers. Wie ein Arzt sah er nicht aus, obwohl er sich wie einer aufspielte.
Die Aufschrift des Dogtags verschwamm vor Seths Augen. Er drückte den Mann grob zur Seite und stand wieder auf.
„Nein, ich muss darauf bestehen, dass du bleibst.“ Der Andere hielt ihn fest. „Du brauchst ärztliche Versorgung, deine Hände sind in einem üblen Zustand. So kann ich dich nicht auf die Straße lassen.“
„Jetzt tut er auch noch, als ob er sich um uns schert. Als ob es die Welt jemals kümmern würde“, knurrte Leo und verschaffte Seth die Kraft, den Fremden diesmal heftiger von sich zu stoßen. Obwohl der Mann recht groß war, landete er nach Seths Stoß in der Seitenwand des Zeltes und ging zu Boden. Seth stapfte los, bis ein Ziehen im Unterarm ihn aufhielt. Irgendein Schlauch steckte in seinem Arm. Er riss ihn heraus und eilte sofort weiter. Seine Gedanken kreisten um Enila. Er musste zu ihr.
„Bleib stehen! Seth!“
Seth drehte sich nicht um, um zu sehen, wie der hartnäckige Kerl ihm folgte, sondern trat aus dem Zelt. Das helle Licht blendete ihn, stach in seine Augen. Er knurrte, hob einen Arm vor das Gesicht und wankte blindlings weiter, bis er sich an das Licht gewöhnt hatte.
Das Feuer war also keine Halluzination gewesen. Hier standen mehrere niedrige Militärzelte herum wie jedes, das Seth soeben verlassen hatte. Ein paar Trucks standen herum, aber das provisorische Lager wurde an einer Stelle bereits wieder abgebaut. Seth blinzelte und sah auf die Trümmerlandschaft, die von seinem Viertel geblieben war. Eine breite Schneise zog sich durch die Innenstadt, wo die Häuser niedergemäht worden waren. Rauch stieg aus den Trümmern auf. Seth entdeckte jedoch auch Rauchsäulen mit weiter entfernten Quellen.
Waren das größere Trümmerstücke, die sich über der Stadt verteilt hatten, oder hatte es mehr als einen Flugzeugabsturz gegeben?
Ein Truck mit mehreren Soldaten darauf brauste vorbei und entfernte sich in Richtung einer der Rauchsäulen.
Jemand fasste Seth an der Schulter und zog ihn von dem vorbeifahrenden Auto weg. Seth hatte gar nicht gemerkt, wie nah er dem Truck stand. Jetzt zog der Arzt ihn zurück zum Zelt. „Ich weiß nicht, was du eingeworfen hast, Kumpel, aber du hast echt ein mieses Timing. Komm jetzt.“
Seth wehrte sich. „Lass mich endlich los!“
Zu seinem Erstaunen gehorchte der Arzt und Seth stolperte ein paar Schritte vor.
„Ich kann dich echt nicht so gehen lassen“, beharrte der Mann. „Lass mich deine Hände sehen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, griff der Fremde hin und zog den Verband von Seths Fingern. Die Haut darunter war rot verbrannt. Seth, der eben noch die Hände des Arztes beiseite schlagen wollte, zuckte zusammen. Das sah wirklich übel aus – selbst für ihn, der in seinem Leben schon eine Menge Scheiße gesehen hatte.
„Siehst du jetzt, was ich meine?“, fragte der Arzt selbstzufrieden, als Seths Widerstand abbrach.
Seth knurrte unwillig. „Das ist unwichtig.“ Er riss sich grob aus dem Griff des Arztes.
„Unwichtig? Das sind Verbrennungen zweiten Grades, wenn -“
„Unwichtig!“ Krieg übernahm die Kontrolle. Er wirbelte abrupt herum und stieß den Fremden von sich. Seth sah den Arzt taumeln, er stolperte über eine Kiste mit Verbänden und riss im Fallen einen Stapel weiterer Kisten um, der ihn unter sich begrub und Seth den Blick darauf verwehrte, wie heftig der Sturz wirklich gewesen war.
Er nutzte die Gelegenheit zur Flucht und eilte zwischen den Zelten hindurch. Dann querte er eine Straße, vorbei an blinkenden Ampeln, und tauchte in eine Seitengasse ein.
Was war mit Marco, Tabs und Keth? Hatten Seths Freunde die Katastrophe überlebt? Er taumelte leicht, während er weiterlief. Enila. Er musste dringend mit Enila sprechen. Sehen, dass es ihr gut ging. Vor allem würde sie die Wogen in seinem Inneren wieder glätten können. Ohne sie fühlte er sich wie im freien Fall, hilflos und verloren.
Verdammt, wie sollte er nach Atlanta kommen? Seth hatte ganz kurz das Bedürfnis, einfach aufzugeben. Aber er musste Enila um jeden Preis finden. Mit geballten Fäusten lief er los, nicht einmal sicher, ob er in die richtige Richtung ging.
~*~
Ethans wenige Deutschkenntnisse waren ziemlich eingerostet. Der andere Mann, Ruben, sprach nur wenig Englisch und war dabei so nervös, als schäme er sich für seine brüchigen Sprachkenntnisse. Irgendwie schafften sie es aber trotzdem, miteinander zu kommunizieren, wobei sie mehr als einmal Gesten und Pantomime zu Hilfe nahmen.
„Du bist ein … Jehova’s Witness, ja?“ Ethan war sich bewusst, dass man ihm den Amerikaner deutlich an der Stimme anhörte.
Ruben nickte.
„Wie ist das?“, fragte Ethan neugierig. Direkt darauf hätte er sich ohrfeigen könnten. Das war vielleicht taktlos von ihm – aber er hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, sich von Mensch zu Mensch mit einem der Zeugen zu unterhalten, ohne sich gleich einer Missionierung erwehren zu müssen. Ehe er aber versuchen konnte, sich die Worte für eine Entschuldigung zurechtzulegen, antwortete Ruben bereits. Offenbar störte ihn Ethans Neugier nicht.
„Es ist wirklich schön.“ Ruben sprach langsam und deutlich, damit Ethan keine Probleme hatte, dem Deutsch zu folgen. „Wie eine große Familie. Nur dass meine Kinder nicht glauben, ist traurig. Ich darf keinen Umgang mehr mit ihnen haben.“
„Wegen … wegen der Religion?“, stotterte Ethan in der ungewohnten Sprache.
Ruben nickte. „Wer nicht glaubt, der verleitet die anderen nur zur Sünde und sie können nicht in das Himmelreich einziehen. Sie sind … für immer verloren.“
Rubens Gesicht nahm einen leeren, traurigen Ausdruck an. Ethan trat unwohl von einem Fuß auf den anderen. Wie konnte man nur seine eigenen Kinder wegen einer Religion verstoßen? Das wollte ihm nicht in den Kopf, aber es machte ihn auch neugierig. Immerhin diente die Reise doch dazu, ihm neue Welten zu eröffnen, oder nicht?
„Hey, I wanna check out the bar. Do you care to join me?”, schlug er vor.
~*~
Jayden rappelte sich auf. Sein Kopf dröhnte. Beim Fallen hatte er sich das Steißbein angeschlagen und die Hand an der geborstenen Plastikkante einer unter seinem Gewicht zusammengebrochenen Kiste aufgeschnitten. Er warf nur einen kurzen Blick auf die Verletzung. Blut sickerte heraus, doch der Schnitt war nicht tief. Er rannte los, während sein Herz raste. Das Dröhnen eines Helikopters vibrierte in seinen Ohren, die Luft schmeckte nach Asche, Wüstenstaub und Blut. Er rutschte einen Trümmerberg hinab, seine Schulterblätter kribbelten, erwarteten den Schuss des Feindes hinter ihm …
Nein! Mit größer Willenskraft konnte er sich zusammenreißen. Er musste wirklich lernen, sich zu konzentrieren!
Angestrengt hielt er sich im Hier und Jetzt. Er musste den Zivilisten finden, diesen Seth. Der war gerade eindeutig noch auf irgendeinem Drogentrip und taumelte nun durch die vom Flugzeugabsturz zerstörte Stadt. Jayden hatte auch mitbekommen, dass eine Warnung wegen möglicher Erdbeben eingegangen war. Ihm fiel nur ein, dass womöglich der Yellowstone ausbrach und das Ende der Welt bevorstand. Der Vulkan war vermutlich auch groß genug, als dass sein Beben am anderen Ende des nordamerikanischen Kontinent noch spürbar war. Oder gab es kleinere Vulkane in der Nähe von Philadelphia?
Egal, was gerade passierte – Jayden würde keinen verletzten und offensichtlich nicht zurechnungsfähigen Patienten frei durch das Chaos irren lassen! Seth war seine Verantwortung.
Er lief in die Richtung, in die auch Seth gegangen war. Der Mann war bereits außer Sicht, aber weit konnte er nicht gekommen sein, während Jayden sich aufgerappelt hatte. Also rannte er zur nächsten Kreuzung und spähte in die Straßen.
Nein. Kein Seth zu sehen.
Jayden hätte fluchen können. Seine Hand pochte und jeder Schritt war eine Qual. Er warf einen letzten Blick zurück zu dem rasch aufgebauten Camp mit seinen provisorischen Lazarettzelten. Die ersten Zelte wurden bereits abgebaut. Die Führung wollte ganz offensichtlich weiter, vermutlich nach New York, wo es eine ähnliche Katastrophe gegeben hatte. Soldaten – sowohl aktive wie auch reaktivierte – wurden einfach mitgeschleppt. Etwas, worauf Jayden absolut keine Lust hatte. Er hatte sich auf die lange Reise nach Detroit eingestellt, nicht auf einen erneuten Kriegseinsatz, nachdem er den letzten endlich hinter sich gelassen hatte. Da kam ihm die Ausrede, einen Menschen retten zu müssen, gerade recht.
Er hob das Funkgerät und gab einen knappen Bericht ab, ehe er sich eigenmächtig an die Verfolgung machte. Hoffentlich würde in dem Chaos niemand die Gelegenheit haben, dem flüchtigen Medical Corps Captain später dafür das Leben schwer zu machen!
Also … Seth … Wohin war er nur gegangen? Er hatte irgendwas gemurmelt, das Jayden nichts sagte. ‚Enila‘ … war das ein Ort? Ein Name?
~*~
Keelans Finger tanzten über die Tastatur des Laptops, die teils zu klein wirkte, um ihren Schaffensdrang zu halten. Viel zu oft traf sie mal zwei Tasten auf einmal, doch im Moment hielt sie sich nicht mit Korrekturen auf. Dafür war später noch Zeit, doch gerade war sie im Flow wie selten zuvor. Sie hatte die Dolmetscher für eine Kreuzfahrtgeschichte entliehen, die als Romanze begann, nach dem Mord am Kapitän aber mehr und mehr zum Krimi wurde. Diese Geschichte, da war sie sich sicher, würde endlich der Erfolg werden, der „Summer Fling 1908“ nicht geworden war. Sie fühlte sich zuversichtlich, denn zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie das Kapitel nicht am nächsten Tag komplett neu schreiben würde. Irgendwie fiel jedes Puzzlestück an seinen Platz – wenngleich sie noch nicht einmal wusste, wer der Mörder war. Es gab viel zu viele Motive und nebenbei noch viel zu viele gutaussehende Männer, die der Protagonistin das Leben schwer machten. Es war am Ende ja immer noch Romantik, wenngleich die unbescholtene Kreuzfahrerin schnell in den Mordfall verwickelt wurde und sich fragen musste, wem sie noch trauen durfte.
Ein wahres Meisterwerk, fand Keelan. Der Hauptcharakter basierte auf ihrer guten Freundin Ellen, mit der sie seit dem College eine Brieffreundschaft pflegte. Ellen liebte Liebesromane und in ihren Briefen steckten genügen schwärmerische Formulierungen, die Keelan sich ausleihen konnte. Sie würde das Buch einfach Ellen widmen, das würde sie freuen.
Nachdem sie ein weiteres Kapitel beendet hatte, hob Keelan den Blick und sah sich um. Ihre Augen juckten vor Müdigkeit. Die große Halle des Flughafens war zwar hell erleuchtet, aber menschenleer. Der Regen prasselte immer noch heftig gegen die riesigen Scheiben. Keelan speicherte – verdammt, sie musste sich echt angewöhnen, das auch während des Schreibens zu machen – und schloss das Laptop. Mit Schritten, die in der leeren Halle einsam und verloren klangen trat sie an das Geländer der ersten Stocks und sah hinunter auf die sich öffnende Eingangshalle und die leicht geschrägte Scheibe vor sich.
Sie zuckte zusammen, als sie sah, dass im Erdgeschoss etwa zwanzig bis dreißig Zentimeter hoch Wasser stand. Wobei, es stand nicht, sondern floss rasch unter ihr dahin. Es war ein derartig surrealer Anblick, dass Keelan sich fragte, ob sie von dem Kreuzfahrtschiff in ihrer Geschichte halluzinierte. Als das Flughafenpersonal sie ‚aus Sicherheitsgründen‘ im Obergeschoss einquartiert hatte, hatte Keelan das nicht völlig ernst genommen, doch offenbar hatten die anhaltenden Regenfälle für eine Überflutung gesorgt. Ganz schwach konnte sie erahnen, dass das Wasser draußen knapp einen halben Meter hoch floss. Vielleicht sogar höher, doch es war zu dunkel draußen, um das wirklich sagen zu können.
Hatte es jetzt den ganzen Tag durchgeregnet? Keelan konnte sich nur an wenige Pausen erinnern, keine hatte länger als vielleicht eine halbe Stunde gedauert, die meisten weniger. Während sie nach unten sah, drängten sich ihr die Bilder aus überschwemmten Katastrophengebieten auf.
Was, wenn das Wasser weiter stieg? Wären sie dann in der großen Halle gefangen? Ein Anflug von Klaustrophobie überkam sie sogar in diesem gigantischen Raum.
Die Müdigkeit war jedenfalls wie weggeblasen. Keelan marschierte auf der Galerie ein wenig auf und ab. Die anderen gestrandeten Reisenden befanden sich entweder in kleinen Zimmerchen oder im großen Ruheraum. Während Keelan sich etwas bewegte und ihre steifen Glieder ausschüttelte, kam ein unrasierter Mann im zerknitterten Anzug aus dem Schlafsaal, torkelte zu den Toiletten und kam nach einer Weile zurück. Auf Keelans grüßendes Winken reagierte er mit einem schlaftrunkenen Nicken.
Die Deckenlampen surrten. Langsam spürte Keelan, wie die Müdigkeit zurückkehrte, also folgte sie dem Anzugträger und suchte sich ein freies Bett in dem großen Saal, der von leisem Schnarchen erfüllt wurde. Es hätte auch Einzelzimmer gegeben, doch diese waren so eng gewesen, dass Keelan sich freiwillig für die Halle mit ihren unbequemen Bettchen entschieden hatte. Und tatsächlich war sie fast sofort eingeschlafen, als sie sich hinlegte.
Richtige Ruhe fand sie allerdings nicht. Sie wurde immer wieder wach, wenn die Tür zur erleuchteten Halle geöffnet wurde und schließlich stand sie um sieben Uhr gemeinsam mit den anderen Reisenden auf. Das ebenfalls verschlafene Flugpersonal hatte ein kleines Buffet vorbereitet. Einige schimpften zwar über die Unnanehmlichkeiten, doch die meisten Menschen waren zu müde, um sich zu beschweren. Einige verliehen ihre Handys an Fremde, damit diese ihre Familien erreichen konnten.
Keelan überlegte, ihre Eltern wieder anzurufen, doch ein Blick auf den Akkustand entmutigte sie. Zielstrebig lief sie zu einer jungen Stewardess.
„Entschuldigung. Gibt es hier irgendwo Steckdosen?“
„Natürlich!“, antwortete die Stewardess empört. „Da drüben.“
Keelan ging nicht auf den unfreundlichen Tonfall ein, sondern schlurfte hinüber und begann, ihr Handy aufzuladen. Das Wasser war wieder gesunken, sodass man die nächtliche Überschwemmung für einen Alptraum hätte halten können. Allerdings gab es noch immer Schlammspuren und einige Pfützen im Flughafen.
Als die meisten mit dem Essen fertig waren, trat ein älterer Herr vom Personal vor und erklärte erst auf Deutsch und danach in etwas unsicherem Englisch, dass die Situation draußen sich offenbar beruhigt hatte und man den Flughafen wieder verlassen könne.
Wie viele andere schnappte sich Keelan ihren Koffer und begab sich nach draußen. Der Regen hatte nachgelassen. Vermutlich hatte der Himmel einfach kein Wasser mehr übrig. Zwischen ausladenden Pfützen und schlammigen Wiesen gingen sie zur Busstation. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Taxis vorfuhren. Die Reisenden hatten eine Schlange gebildet, in der Keelan weit hinten stand. Doch die Leute vorne organisierten sich, sodass alle, die in eine ähnliche Richtung mussten, zusammen wegfuhren.
Keelan überlegte, wo sie überhaupt hinwollte. Flüge würde es erst einmal keine mehr geben, das hatte der Mann eben betont. Vereinzelte Anreisende, die hier ankamen, wurden ebenfalls mit den schlechten Neuigkeiten begrüßt.
Sie studierte eine Informationsbroschüre mit den Hotels in der Nähe, als ein lautes Krachen ertönte. Die umstehenden Menschen schrien auf und Keelan hob gerade noch rechtzeitig den Blick, um zu sehen, wie eine Straßenlaterne kippte und direkt in die Scheibe des Flughafenfensters stürze, keine fünf Meter entfernt. Glas zersprang. Risse zogen sich durch die geborstene Scheibe und immer mehr Glasplatten fielen zu Boden. Die Kettenreaktion pflanzte sich über die gesamte Seite des Flughafens fort, bis schließlich der ganze, große Metallrahmen um das Fenster leer war.
Keelan und die anderen waren von der brechenden Scheibe zurückgewichen. Nun huschten nervöse Blicke zu den anderen Laternen und zu den Strommasten entlang der Straße. Auch Keelan fragte sich, wie viele davon ebenfalls nicht so stabil waren, wie sie aussahen. Am liebsten würde sie sich wieder in den Flughafen retten, doch auch der stellte keinen perfekten Schutz dar. Ihr Blick fiel auf eine dunkle Regenwolke am Himmel.
Eine Regenwolke. Schon wieder.
~*~
Jedes noch so feine Härchen auf ihrem Körper sträubte sich. Diese Männer sprachen über sie, da war sie sich sicher. Ihre Atmung beschleunigte sich, doch sie schaffte es, völlig lautlos durch den leicht geöffneten Mund zu atmen. Langsam ging sie in die Knie und huschte auf allen Vieren hinter einen dicken Baumstumpf.
Sie verstand nicht alles von dem, was die Männer redeten. Doch sie wusste, dass es Soldaten, Mörder oder etwas Ähnliches waren, dass sie nach ihr suchten und sie töten wollten.
Nun, vielleicht … nur vielleicht … suchten sie eine andere Frau. Aber wer sollte hier noch herumlaufen? Der Gedächtnisverlust und ihre trotz allem untrüglichen Instinkte sprachen aber dafür, dass sie die Gejagte war.
Fast schon glaubte sie, den Schweiß der beiden Männer im Wind zu riechen. Suchend sah sie sich um und entdeckte eine schlammige Pfütze nicht weit entfernt. Sie bewegte sich auf Händen und Füßen dorthin, ohne ein Geräusch zu verursachen, und rieb den Schlamm über ihre helle Haut. Die Dunkelheit würde ihre Deckung sein.
Die Stimmen waren verstummt, doch sie konnte die Schritte der Männer hören. Nicht sehr deutlich, denn die beiden Jäger verstanden sich darauf, keinen Lärm zu machen. Doch hin und wieder brach ein Zweig und bei aller Vorsicht konnten die Männer nicht verhindern, dass Vögel bei ihrem Näherkommen erschreckt aufflogen.
Sie verbarg sich im Gebüsch und wich zur Seite aus. Hoffentlich würden die Männer ihre Höhle nicht bemerken. Dann konnte sie zurück und die Gefahr bannen.
„Hey … ich hab hier was auf dem Wärmescanner.“
Das letzte Wort ließ sie erstarren. Was hatten diese Leute für Ausrüstung?!
„Das ist sie! Los! LOS!“
Mit lautem Gepolter rannten die Männer los. Ihr Opfer sprang aus dem Gebüsch, gerade noch rechtzeitig, als die ersten Schüsse erklangen. Sie brachte sich hinter einem Baum in Deckung und kletterte den glatten Stamm in einer Geschwindigkeit hinauf, die sie selbst überraschte. Blitzschnell schwang sie sich auf einen Ast und darüber hinweg. Die Männer, die gerade am Baum ankamen, stießen erschrockene Schreie aus, als sich die Gejagte plötzlich aus dem Wipfel auf sie stürzte, mit einem wütenden Kreischen, das an eine Katze erinnerte und den Männern das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Letzteres im wortwörtlichen Sinne, denn die Welt erstarrte mit einem Mal. Erstaunt merkte die namenlose Frau, dass sie in der Luft schweben blieb, ohne sich bewegen zu können. Nichts hielt sie, und dennoch fiel sie nicht.
Nicht einmal atmen konnte sie …
Plötzlich flackerte die Welt. Die Bäume lösten sich in Vierecke auf, die Farben verschwanden, dann hing sie plötzlich nur noch in einer grauen, von schwarzen Linien in Kästchen geteilten Leere.
Was zur Hölle?!
Weiße Schrift erschien vor ihren Augen: Test abgebrochen. Unbekannter Fehler.
Ein Test? Eine … Simulation?
Dann spürte sie kaltes Wasser auf der Haut. Sie öffnete die Augen – seltsam, sie hätte gedacht, diese wären bereits offen gewesen – und fand sich in einem aufrechten, zylindrischen Tank wider. Er war bis oben mit Wasser gefüllt. Schläuche waren mit ihren Armen und Beinen verbunden. Draußen, hinter der Glasscheibe, flackerte die Welt zwischen Rot und Schwarz hin und her. Gedämpft hörte sie eine Sirene, die für sie immer lauter wurde, je mehr ihr Bewusstsein zurückkehrte. Ihre Lunge brannte. Sie brauchte Luft!