Der Turm ragte vor ihnen in die Höhe. Eine metallene Gitterkonstruktion, durchzogen von dunklen Adern der Kabel, mit abstehen Gerätschaften. Kit erkannte Satellitenschüsseln, Verteilerkästen und Antennen weiter oben. Unten befanden sich Kameras an den vier Ecken des Turms. Die Linsen leuchteten rot auf, als sie sich näherten.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Kit fuhr zusammen. Doch es war nur Jane, die ihr ein schwaches Lächeln schenkte. „Bereit?“
Kit wollte sich in Bewegung setzen.
„Was machst du denn?“, fragte Jane sie verwundert.
„Ich bin bereit.“
„Ich wollte nur wissen, ob du bereit bist. Nicht, dass du direkt losstürmst.“ Jane grinste. „Es könnte Fallen geben. Die Fabriken sind normalerweise bewacht. Und Carmen kann jederzeit eine Rakete aus dem Himmel stürzen lassen oder so etwas.“
Besorgt sah Kit nach oben. Raketen kannte sie kaum. Es waren größere Granaten, und bei Granaten besagte das Training bereits, dass man am besten weglief. Zurückwerfen könnte sie eine Rakete vermutlich nicht.
„Keine Sorge. Sie wird nicht auf ihren eigenen Turm schießen.“ Jane runzelte die Stirn. „Ich wundere mich allerdings, dass so gar nichts passiert.“
„Beschwerst du dich etwa?“
Kit legte die Ohren an, als einer der Männer auf Janes andere Seite trat. „Vielleicht ist sie gerade pinkeln. Jagen wir das Ding hoch.“
Jane nickte und die Gruppe rückte vor, Gewehre im Anschlag. Immer wieder sahen sie sich wachsam um. Doch nichts geschah und Kits feine Ohren nahmen auch keine verdächtigen Geräusche wahr.
Am Fuß des Turms angekommen, kniete sich einer der Männer hin und brachte einen dunklen Kasten am Metall an, welcher, wie Kit wusste, eine Bombe enthielt.
Der Mann brauchte nur wenige schnelle Handgriffe. Dann sprang er auf. „Los, los, bevor …“
Kitsune hörte ein feines Surren. Dann das charakteristische Geräusch eines durch Schalldämpfer verhüllten Schusses.
Weitere Kugeln folgten mit leisem Zischen. Erschrocken sah Kit sich um. Die Männer fielen. Instinktiv suchte sie nach dem, der den Fernzünder trug, und erstarrte, als sie sah, wie sich seine Hand im Todeskrampf um den Auslöser schloss.
Die Zeit war wie eingefroren. Männer rannten, direkt neben Kit war Jane.
Mit einem kräftigen Sprung warf Kitsune sich auf Jane und riss sie mit sich zu Boden. Gleich darauf spülte Hitze über ihre Haut, den Knall der Explosion hörte sie nicht einmal mehr.
Eine Druckwelle fegte über das Land und riss auch Kitsunes Bewusstsein mit sich fort.
~*~
„Keelan?“ Nils hatte bemerkt, dass sie stehengeblieben war. „Komm schon!“
„Da ist noch jemand“, widersprach sie und deutete auf das Hochhaus. „Ein Mädchen. Ich muss sie holen.“
Nils zögerte, dann nickte er. „Pass auf dich auf!“ Währenddessen begann er, die Fliehenden bergan zu leiten. Das Feriendorf hatte den Vorteil, dass es erhöht lag und vor der Flut, die sicherlich hereinbrechen würde, sicher war.
Keelan sprintete durch den Regen, der erschreckend rasch an Intensität gewann. Aus vereinzeltem Tröpfeln wurden dicke, schwere Tropfen. Ihr T-Shirt war an den Schultern bereits durchdrungen, als sie den Hauseingang erreichte und an der Tür rüttelte.
Sie war verschlossen – natürlich! Suchend umrundete Keelan das Gebäude und erblickte ein klaffendes Loch an der Rückwand, durch das die meisten Räume wie bei einem Puppenhaus offenlagen. Das Gebäude war zum Teil eingestürzt, ein Schuttberg erlaubte ihr, bis zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Unter dem immer schwerer prasselnden Regen wagte sie sich den rutschigen Berg hinauf. Ab und zu bröckelten Teile der einzelnen Etageböden nach unten, schlugen neben ihr auf dem Schutt auf und wirbelten Staubwolken in die Höhe. Man konnte in Wohnzimmer sehen, auf Sofas, die halb im Nichts schwebten.
Irgendwo erklang Musik, knirschend und abgehackt. Es klang nach einer Schallplatte, die hängen geblieben war. Worte konnte Keelan über dem Tosen von Wind und Regen nicht verstehen.
Sie erreichte den zweiten Stock und trat vorsichtig in das offene Wohnzimmer. „Hallo?“
Wenn sie sich nicht täuschte, war das Mädchen zwei Etagen höher. Wind fuhr heulend durch den Flur, an dessen Ende auch die Haustür mit weggebrochen war. Das Treppenhaus lag offen, eine Schlucht zog sich hindurch wie ein Schwertschnitt, der das Gebäude geteilt hatte.
Es war ein Sprung von einem halben Meter, jedoch ging es darunter drei Stockwerke in die Tiefe. Keelan zögerte. Sie konzentrierte sich auf die flüchtige Erinnerung an das Gesicht im Fenster. Dann fasste sie allen Mut und sprang.
Ihre Schuhe rutschten über die Fliesen, die nass vom Regen waren. Sie klammerte sich an das Geländer und hörte ein beunruhigendes Stöhnen des Gebäudes. Ihr Atem ging zittrig.
Sie wusste nicht, wie lange das Haus noch stehen würde, wenn der Regen erst zunahm. Schon jetzt plätscherten kleine Bäche über die Stufen, die sie hinaufeilte. Eine Etage … die zweite … Auch hier war die Tür weggebrochen, doch der Spalt war noch breiter. Schluckend trat Keelan an den Rand der Schlucht.
„Hallo?“, rief sie auf Englisch. „Bist du hier?“
Eine dünne Stimme antwortete ihr. Sie verstand die Worte nicht, es schien allerdings auch kein Deutsch zu sein, wie sie erwartet hätte.
Aber es war definitiv jemand in der zerstörten Wohnung vor ihr!
Keelan überwand auch diesen Spalt und fiel auf den Boden des Flurs, dessen Holzboden aufgerissen und zersplittert war. Die Musik wurde lauter, doch auch das Tosen des Sturms.
„Ich will dir helfen“, rief sie in die leere Wohnung. „Wo bist du?“
Die Stimme antwortete ihr aus dem Badezimmer. Keelan öffnete die Tür und erstarrte.
Es war tatsächlich ein Mädchen. Ihr Haar war nicht blond, wie sie auf den ersten Blick gedacht hatte, sondern hellbraun, und zu zwei Zöpfen geflochten. Zitternd presste sie die Hand auf ihren Bauch, wo ihr Kleid blutdurchtränkt war. Auch ihr linkes Bein war voller Blut und unnatürlich verdreht. Keelan konnte nur raten, doch offenbar war das Kind beim Einbruch des Gebäudes verletzt worden. Nun kauerte sie im Badezimmer, wer wusste, wie lange. Verletzt, verängstigt und allein.
„Hallo.“ Keelan lächelte und ging in die Hocke. „Ich bin Keelan.“ Sie deutete auf sich. „Ich will dir helfen.“
Verständnislos sah das Kind sie an. Das Mädchen war vielleicht zehn Jahre alt und sprach entweder kein Englisch oder stand zu sehr unter Schock.
Vorsichtig kam Keelan näher und deutete erneut auf sich. „Keelan.“
„Anaël … Martin“, stammelte das Mädchen und tippte sich auf die Brust. Dann liefen Tränen aus den hinter einer großen Brille liegenden Augen.
„Ist ja gut, ist ja gut.“ Keelan war bei dem Kind angekommen und zog sie in ihre Arme, während ihre Gedanken rasten. Raschelnd fiel eine Packung Kekse herunter, die halb leer war – offenbar etwas, was das Kind vor Hunger aus der eingebrochenen Küche genommen hatte. Ihr Name hatte französisch geklungen. Vielleicht war das Mädchen zu Besuch bei Verwandten gewesen.
Da niemand sonst mehr im Gebäude zu leben schien, konnte Keelan nur raten, dass jene nun tot waren.
Anaël klammerte sich wimmernd an sie und Keelan strich ihr beruhigend über das Haar. „Ist schon gut, ist ja gut …“ Das Kind verstand vielleicht kein Wort, aber Tonfall und Klang der Stimme.
Der Wind heulte. Irgendwo kämpfte die Schallplatte noch immer gegen die Nadel an und Keelan begann, das Lied zu erkennen.
„And it's all over now, Baby Blue. It’s all … it’s all over now … It’s all over now, Baby … all over now, Baby Blue …“
Das Schniefen des Mädchens ließ nach und Anaëls Bewegungen wurden langsamer. Entsetzt presste Keelan das blutende Kind an sich. „Nein … nein, nein, nein …!“
Als sie auf das Gesicht des Mädchens blickte, starrten ihre braunen Augen bereits zur Badezimmerwand, ohne noch etwas zu sehen. Trotz der furchtbaren Situation lag ein kleines, dankbares Lächeln auf ihren Lippen.
Wie betäubt konnte sich Keelan lange Zeit nicht rühren. Ihr Herz schlug schwer und hart gegen ihre Rippen, sodass es schmerzte. Sie wollte schreien oder weinen, aber ihr Herz besaß keine Kraft für irgendetwas davon. So blieb sie stumm sitzen, unfähig, zu begreifen, wieso das Kind nach allem trotzdem gestorben war.
~*~
„Wir müssen zu diesem Turm“, stellte Ethan fest.
Ruben sah den Amerikaner mit gerunzelter Stirn an. „Du bist verletzt!“
„Na und?“ Ethan verschränkte die Arme vor der Brust. „Solange auch nur die geringste Chance besteht, dass die Meldung stimmt, dürfen wir das einfach nicht ignorieren. Das könnte der Weg sein, alle zu retten.“
Ruben würde das ungern zugeben, doch er wollte auf keinen Fall noch irgendein Risiko eingehen. In den letzten Tagen hatte er Schiffbruch erlitten, war mit einer Waffe bedroht und eingesperrt worden.
Und jetzt sollte er irgendeinen mysteriösen Turm zerstören, weil eine Stimme im Radio das sagte?
„Er hat recht“, warf ausgerechnet Daniel ein.
Ruben war seinem Glaubensbruder einen finsteren Blick zu.
„Ich verlange gar nicht, dass du mitkommst“, warf Ethan ein. „Du kannst mit dem Rest gehen. Bringt euch in Sicherheit.“
„Nein.“ Das kam schneller, als irgendjemand erwartet hatte – Ruben am allerwenigsten. Etwas hilflos versuchte er, die plötzliche Stille zu überspielen. „Ihr habt ja recht. Gehen wir es an.“
Er konnte die beiden schlecht alleine losziehen lassen.
In seinem Glauben wurde er noch bestärkt, als sich ihnen niemand der restlichen Gruppe anschloss. Die anderen Menschen wollten lieber nach weiteren Gefangenen suchen, und schienen erleichtert, dass das Problem des Turms von anderen übernommen wurde. Das mochte ein Zeichen sein, dass die Ungläubigen nicht stark genug waren, um diesen Schritt zu gehen. Ganz anders als sie, die trotz aller Angst den richtigen Weg beschritten.
Er fühlte sich erfüllt von der Bedeutung des Moments, als würden sie in einen heiligen Kreuzzug ziehen. Als könnte nichts und niemand sie aufhalten.
Das Gefühl schwand aber schnell, als sie das eingenommene Lager wieder vor sich sahen und den Turm erblickten.
Er war ihm schon früher aufgefallen, allerdings hatte Ruben ihn nicht groß beachtet. Es schien im Grunde einfach ein Strommast zu sein, aber nun fragte er sich zum ersten Mal, was ein einzelner Strommast am Strand zu suchen hatte. Es gab keine Leitungen, die in irgendeine Richtung verlegt worden waren. Und an einen normalen Strommast gehörten auch keine Satellitenschüsseln oder Antennen.
Der Turm stand auf einem Hügel in Sichtweite des Lagers, weshalb die drei Helden sich im Gebüsch verbargen und überlegten, was sie tun sollten. Der Turm sah nicht so instabil aus, wie Ruben insgeheim gehofft hatte. Das Metallgerüst war zwar sehr schmal, aber nicht eben fragil. Und der Hügel war auch noch gut einsehbar.
Wenn sie angriffen, würden die Menschen im Lager sie sicherlich sehen.
„Vielleicht war das doch keine so gute Idee“, murmelte er. Noch könnten sie einfach umkehren und zurückkriechen. Niemand würde etwas wissen. Irgendjemand anderes würde sich schon um das Problem kümmern.
„Ich glaube, ich habe eine Idee“, murmelte Ethan. „Wenn wir den Stromkreis kurzschließen, könnte es zu einer Explosion kommen. Wenn die dem Turm ein, zwei Beine wegreißt, reicht das womöglich …“
„Kannst du das denn?“, fragte Daniel.
Ethan nickte und wollte sich erheben.
„Nein, lass mich das machen. Du kannst nicht wegrennen, wenn …“
„Das geht schon irgendwie.“ Ethan stützte sich auf die behelfsmäßige Krücke. „Ich weiß auch gar nicht, ob es klappt. Ich habe hin und wieder was im Haus repariert, aber das hier ist natürlich was anderes.“
Beide Männer setzten sich in Bewegung.
„S-seid ihr sicher?“, fragte Ruben. Er konnte sich nicht überwinden, auch nur einen Schritt auf den Turm zuzugehen.
„Du hältst vielleicht einfach Ausschau, ob sich im Lager was rührt“, sagte Ethan leise.
Ruben nickte erleichtert. Das war eine wichtige Aufgabe, und sie ersparte es ihm, sich etwas zu nähern, was in kurzer Zeit in die Luft fliegen würde.
Als Ethan und Daniel gingen, zog sich Rubens Herz dennoch zusammen. Was, wenn die beiden nicht mehr rechtzeitig wegkommen würden? Sie schienen bereit, das Opfer zu erbringen. Aber er war es nicht!
Er kroch auf seinen Posten und sah zum Lager. Dort rührte sich kaum etwas. Zelte flatterten im Wind, einige waren aber abgebaut. Menschen sah Ruben keine.
Waren die Verrückten überhaupt noch da?
Er sah zu Ethan und Daniel. Während Daniel mit einem Stein versuchte, einige Kabel am Turm zu zerstören, hatte Ethan einen kleinen Sicherungskasten gefunden und versuchte diesen mit einem Ast aufzuhebeln, was ihm schließlich auch gelang. Das Blech schien wenig Widerstand zu bieten.
Konzentriert begann der Amerikaner, Schalter umzulegen und Knöpfe zu drücken, die Ruben aus seiner Position kaum erkennen konnte.
Wieder sah er zum Lager. Ihm fiel auf, dass das große Zelt fort war, in dem die Küche gestanden hatte. Das Lagerzelt war umgeweht worden, und Ruben konnte erkennen, dass sämtliche Vorratskisten weg waren.
Die Bewaffneten waren weitergezogen. Sie hatten ihre Gefangenen einfach im Stich gelassen.
Ausatmend beschloss Ruben, vielleicht doch ein Stück näher an den Turm zu gehen, als er einen Ruf hörte.
„Los! Los!“, schrie Ethan und rannte halb hüpfend los, um das verletzte Bein nicht zu stark zu belasten.
Daniel sprintete voraus und ließ den Amerikaner bald hinter sich. Ruben spürte, wie ihm der Atem stockte. Ethan war einfach zu langsam! Das Entsetzen überkam ihn wie eine eisige Welle, viel intensiver, als er erwartet hätte.
Das durfte einfach nicht geschehen!
Ethan stolperte und viel auf den Boden. Ehe er sich versah, stürmte Ruben bereits vorwärts. Es war gar nicht genug Zeit, um zu denken, er wusste nur, dass er Ethan nicht sterben lassen konnte.
Das ging einfach nicht.
Er war kaum drei Schritte weit gekommen, als der Turm explodierte. Ein grelles Licht blendete ihn, eine Hitzewelle warf ihn zurück und spülte über die Sträucher und Hügel. Ruben spürte einen stechenden Schmerz am Kopf, ehe er auf dem Rücken landete.
„Ethan!“, rief er.
~*~
Das rote Licht der Notbeleuchtung machte ihn langsam verrückt. Thomas versuchte, die Panik auszublenden. Vor der Kamera war ihm das immer gelungen, aber das hier war auch keine bloße Nervosität.
Er war in einem Bunker gefangen. Er würde sterben, wenn sie nicht bald einen Ausweg fanden.
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, murmelte Simon. „Eine einzige Person steckt hinter allem. Das ist … unglaublich.“ Er beugte sich vor und suchte nach weiteren Dateien.
„Dafür haben wir keine Zeit“, brachte Thomas gepresst heraus. „Uns geht die Luft aus. Simon, wir …“
„Ja, du hast recht.“ Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf und trat vom PC zurück. „Wir können uns später noch um die ganzen Daten kümmern.“
„Was sollen wir dann jetzt tun? Wie kommen wir hier raus?“
Simon sah sich nachdenklich um. „Vielleicht können wir die Tür aufbrechen. Oder den Code des Schlosses hacken.“ Simon fuhr sich durch das Haar. „Sehen wir zu, was wir tun können.“
Thomas warf einen letzten Blick auf den Bildschirm. Es war keine weitere Nachricht gekommen. Wer auch immer diese Fremden waren, die eine Carmen suchten – langsam bezweifelte Thomas, dass das überhaupt etwas mit ihnen zu tun hatte. Vielleicht war das nur ein merkwürdiger Bug gewesen.
Simon hatte inzwischen das Tastenfeld neben der Tür herausgerissen und versuchte, die Drähte anders miteinander zu verbinden. „Eigentlich gibt es hier ein Notsignal. Für genau so einen Fall, wo man eingeschlossen ist. Und man müsste die Tür eigentlich auch manuell von innen öffnen können. Aber ich weiß nicht, wie das hier gelöst ist, das kann je nach Bunker anders aufgebaut sein.“
„Wonach suchen wir?“ Thomas sah sich um.
„Ein Hebel in der Wand. Eine lose Fliese. Irgendwas.“
„Das klingt nicht besonders hilfreich!“
„Weißt du … kannst du diesen Fremden erreichen? Vielleicht, wenn sie uns hier finden konnten, können sie auch den Bauplan des Bunkers herausfinden und uns helfen.“
„Got it!“ Thomas eilte zurück zum Computer und setzte sich vor die Tastatur.
‚Wir brauchen Hilfe. Kannst du herausfinden, wie sich der Bunker hier manuell öffnen lässt?‘
Er sendete ab. Das Chatfenster, das sich geöffnet hatte, als sie die Audiodateien veröffentlicht hatten, zeigte an, dass seine Nachricht gesendet worden war.
Er wartete. Ungeduldig biss er auf einen Fingernagel, widerstand dem Drang, ihn abzukauen. „Komm schon.“
„Und?“, rief Simon. „Thomas?“
„Nichts.“
„Was?“
Er wiederholte es etwas lauter. „Nichts. Er antwortet nicht. Oder sie.“
„Das darf doch nicht wahr sein. Dann komm her, hilf mir suchen!“
Thomas stand Schweiß auf der Haut. Schon jetzt war es stickig und heiß. Sie hatten eine halbe Stunde verloren.
Eine halbe Stunde. Das war auch alle Zeit, die ihnen noch blieb.
Während er zurück zu Simon lief, keuchte er schwerer, als er es wollte. Die Luft wurde dünn.
Und langsam fragte er sich, ob sie es wirklich schaffen könnten.
~*~
„Ruben! Was machst du denn?“ Ethan rappelte sich auf und stürmte zu der Stelle, wo er Ruben zuletzt gesehen hatte, ehe die Explosion sie umgeworfen hatte.
Einen Moment ballte sich eisige Angst in seinen Eingeweiden zusammen. Dann sah er, wie der andere sich taumelnd aufrichtete. „Ethan …?“
„Ich bin hier.“ Er stützte Ruben. Der war dreckig und offensichtlich benommen, aber offenbar unverletzt. „Warum hast du das getan?“
„Ich hatte solche Angst … dich zu verlieren.“
„M-mich zu …?“
Ruben streckte die Hände nach ihm aus. „Ich hätte es mir nie verziehen, dich so zu verlieren. Ohne … ohne dir gesagt zu haben …“
Ethan erstarrte, als Rubens Lippen auf seine trafen. Sein Gehirn schien einen Moment die Arbeit einzustellen.
Dann wich Ruben zurück. Er sah Ethan aus weit aufgerissenen, ängstlichen Augen an. „Nein, ich weiß nicht, woher das kam. Es ist nur … ich fühle mich so … und das wurde mir klar …“ Seine Worte erschienen immer weniger Sinn zu geben. „Und ich weiß, dass es falsch ist. Es muss der Teufel sein, der mich überkommt. Aber … ich …“ Ruben verstummte. Er starrte Ethan voller Angst an und machte noch einen Schritt nach hinten. Er stolperte über irgendwas und fiel, während Ethan noch die Hand ausstreckte.
„Was ist hier los?“, fragte Daniel mit bebender Stimme.
„Ruben?“ Ethan eilte an die Seite des Mannes. In seinem Kopf wirbelten noch immer alle Gedanken durcheinander. War das gerade wirklich passiert? Was genau war überhaupt passiert? „E-es ist okay, Ruben … wir … können darüber reden.“
Ruben blieb liegen. Als Ethan sich an seine Seite kniete, stellte er fest, dass der andere die Augen geschlossen hatte. Er musste ohnmächtig geworden sein. Offenbar war das alles zu viel für ihn gewesen.
Besorgt drehte Ethan ihn auf die Seite. Er fühlte sich immer noch wie betäubt. Trotzdem wusste er, dass er Ruben niemals so viel Angst machen wollte, dass er einfach umfiel! Behutsam wollte er Rubens Kopf auf das Gras betten, als seine Finger auf Flüssigkeit trafen.
Ethan drehte den Kopf des Gefallenen ein Stück weiter und sah Blut. Sein Atem stockte, als er hartes Metall fühlte, das aus Rubens Haar ragte.
„Ruben …“ Sein Flüstern war schrill. Er drehte den Liegenden ganz auf die Seite und starrte auf die Splitter. Sie mussten schon vorher in seinem Schädel gesteckt haben, aber durch den zweiten Sturz hatte Ruben sie tiefer hineingetrieben.
Kälte kroch Ethans Finger hinauf, während er vergebens nach einem Puls tastete. Er konnte endgültig nicht mehr verstehen, was passiert war.
~*~
Der Motor des kleinen Flugzeugs stotterte, als es sich schwankend auf den Hang senkte. Die Winde des heraufziehenden Sturms beutelte die kleine Maschine, und das Gelände war nicht eben ideal, um zu landen, aber der Pilot wagte es trotzdem.
Der Amerikaner umklammerte die Steuerknüppel verbissen. Kleine Adern traten an seiner Schläfe hervor, als die Räder des Flugzeugs aufsetzten und den Kontakt zum Boden wieder verloren.
Rita schrie unwillkürlich auf, als das Flugzeug über die Wiesen hüpfte. Ihr Magen wollte sich umdrehen.
„Nicht loslassen!“, rief der Mann ihr auf Englisch zu.
Rita war so ziemlich die einzige aus der Gruppe, die noch fit genug war, um als Copilotin einzuspringen – was nicht viel bedeutete, denn ihre Finger zitterten und ihr stand Schweiß auf dem ganzen Körper. John, ihr Helfer, hatte sie kurz eingeführt, während Musa den kläglichen Rest ihrer Gruppe ins Flugzeug gebracht hatte. Jetzt ging ihnen allerdings der Treibstoff aus und sie mussten landen. Glücklicherweise waren sie nah an ihrem Ziel, einem Flüchtlingscamp in Deutschland. Dieses befand sich in einer Ferienhaussiedlung auf einem Hügel in einem großen Tal. Aus dem Augenwinkel saß Rita, dass sich einige Menschen aus der Siedlung lösten und in ihre Richtung kamen.
Wieder setzte die Maschine auf. Ächzend riss John an den Hebeln und Schaltern. Wieder verloren sie den Kontakt. Doch dann – setzten sie auf und rollten.
„Yes!“, ächzte John erleichtert. „Fucking yes!“
Gemeinsam mit ihm zog Rita die Bremsen an, bis das Flugzeug endlich zum Halt kam – leicht schief auf der Bergwand.
„Okay, los jetzt“, rief John. „Könnt ihr die Verletzten tragen?“
Rita stand auf, lud Fran auf ihren Rücken und stieg schwankend aus dem Flugzeug, noch bevor Musa Enrico überhaupt losgeschnallt hatte. Verbissen und schweigend schleppte sie sich den Hang hinauf, den Blick grimmig auf den Boden gerichtet, bis die fremden Helfer bei ihr waren und ihr Fran abnahmen.
Es waren mehrere Männer und eine Frau, die aus irgendeinem Grund das Kommando zu haben schien. Fragen wurden gestellt, zuerst auf Deutsch, dann in verschiedenen anderen Sprachen, als Rita nicht reagierte. Jemand ergriff ihre Schulter und schüttelte sie sacht.
„Sie sind … alle tot“, brachte sie hervor.
~*~
Er rannte. Sein Atem rasselte in seinen Ohren, doch Jayden wurde nicht langsamer. Er hielt sich geduckt im Graben, den Rücken krumm, und rannte trotz der schmerzenden Muskeln einfach weiter.
Ein Graben wie im Kriegsfeld. Jederzeit könnte ein Schuss fallen, würde ihn zerfetzen, wenn er auch nur kurz den Kopf hob. Seine Ohren waren noch immer wie betäubt nach der Explosion. Er schmeckte Ruß im Schweiß, der ihm über das Gesicht lief.
Irgendwann wurde es so dunkel, dass er den Erdboden und seine Füße nicht mehr erkennen konnte. Er stolperte weiter, immer noch geduckt, doch wenn er zur Seite taumelte, spürte er keine schützenden Erdwälle mehr. Trotzdem hielt er nicht an. Er wurde nicht einmal langsamer.
Sein Körper hatte einen Rhythmus gefunden und hielt diesen durch.
Manchmal vergaß er, wovor er wegrannte. Dann schreckte er auf. Lief er in die richtige Richtung? War er womöglich am Ziel vorbei?
Irgendwann, es war bereits wieder Mittag, hob Jayden den Kopf und sah ein Autobahnschild vor sich.
Atlanta. Noch zwei Meilen.
Er schluchzte auf und fiel in den Dreck, als seine Beine mit einem Mal versagten.
Neben ihm lag das Foto, das Seth ihm gegeben hatte.
Enila. Sein Versprechen. Er erinnerte sich wieder, ehe seine Augen zufielen und eine Bewusstlosigkeit ihn mit sich nahm.
~*~
„Und dann mussten wir nur noch über die Berge hierher fliegen. Euer Camp war zwar weiter weg, aber die Verletzten schwebten nicht in unmittelbarer Gefahr und ihr habt hier deutlich mehr Mittel als das Camp in Italien.“ Musa lehnte sich zurück, nachdem er seinen Bericht abgeliefert hatte.
„Erstaunlich“, meinte Keelan, die das Camp hier leitete, und musterte die Gruppe mit neuem Respekt. „Ihr habt so viel durchgemacht.“
„Jetzt sind wir immerhin in Sicherheit.“
„Ich weiß nicht …“, murmelte Keelan leise. „Im Radio ist so eine Ansage, dass eine Frau hinter allem steckt. Sie hat die Funknetze gestört und steuert auch die Katastrophen mit einem riesigen Team aus Wissenschaftlern oder so.“
Rita wandte den Blick endlich von der Whiskeyflasche auf dem obersten Regal ab und spitzte die Ohren. Es gab eine Schuldige?
„Das ist doch lächerlich. Eine Person kann nicht …“
„Vielleicht doch. Es gibt so merkwürdige Türme, die wir zerstören sollen. Manche ganz in der Nähe.“ Keelan deutete durch das Fenster den Hügel hinauf. „Da wäre direkt so einer. Und es ist schon seltsam, dass jetzt dieser Sturm aufzieht. Hier oben sind wir hoffentlich sicher, aber wer weiß, was als nächstes kommt?“
Rita stand auf.
„He, wo willst du hin?“ Einer der Männer sah ihr nach.
Rita deutete auf den Alkohol. „Darf ich den da haben? Mein Mann ist tot, wisst ihr?“
Nach einem kurzen Blickwechsel zuckte der Mann mit den Schultern, stand auf und holte ihr die Flasche herunter. „Mein herzliches Beileid.“
„Danke.“ Rita umklammerte die Flasche wie einen Schatz und trat nach draußen.
Das Gespräch der Überlebenden interessierte sie wenig. Ihre Gedanken kreisten um Alkohol und um Jochen.
Wenn jemand für seinen Tod verantwortlich gemacht werden konnte, dann würde sie ihn zur Strecke bringen. Vielleicht traf Musa doch keine Schuld, und dafür diese merkwürdige Turmfrau.
Was sie vorhatte, begriffen die anderen erst, als sie das Flugzeug starten hörten. Da war es bereits zu spät.
„Auf dich, Jochen!“, sagte Rita und prostete mit der Flasche ins Nichts. Sie nahm einen gewaltigen Schluck, während sich die Maschine schwankend in den Himmel erhob. Ein glückliches Seufzen entrang sich ihr, als der prickelnde Nektar ihre Kehle entlangrann.
Der Sturm beutelte das Flugzeug. Rita lenkte es auf den Turm zu – und dann nach unten.
Die Explosion malte rote Linien an die Unterseite der Sturmwolken.
~*~
Allmählich kam Jayden wieder zu sich.
Schmerz hämmerte in seinem Kopf. Langsam drangen Stimmen durch den Nebel, der sich über seine Sinne gelegt hatte.
„Aber wenn das stimmt, müssen wir die Türme um jeden Preis vernichten.“
„Das kann einfach nicht stimmen. Das klingt wie Science-Fiction!“
„Hast du mal aus dem Fenster gesehen?“
Blinzelnd öffnete Jayden die Augen. Er erblickte eine weiße Decke und als er sich bewegte, stellte er fest, dass er auf einer weichen Matratze lag.
Langsam setzte er sich auf und die Stimmen verstummten.
„Alles klar, Kumpel? Wir haben dich vor der Stadt aufgelesen. Hast ganz schön was hinter dir, oder?“
Jayden konnte den Mann, der mit ihm sprach, nur verschwommen erkennen. Ebenfalls ein Schwarzer, wie alle im Zimmer. Es war ein kleiner Raum, eng vollgestellt mit Betten. Eine Art Lazarett.
„Bist du auch auf diese Kerle gestoßen, die den Highway blockieren?“
„Ja“, krächzte er. Seine Stimme wollte ihm kaum gehorchen. „Ein Freund von mir … hat sie … in die Luft gejagt. Aber er …“
Jayden verstummte. Die anderen Männer und Frauen sahen ihn beeindruckt an.
„Das habt ihr geschafft?“, fragte einer schließlich. „Dann bist du ja ein Profi im Zerstören. Wir könnten jemanden wie dich gut gebrauchen, wir wollen da nämlich einen Sendemast kaputt machen.“
„Ich habe davon gehört“, meinte Jayden, der sich wage daran erinnerte, vom Turm gehört zu haben. Er stand auf. „Aber … tut mir echt leid, Jungs, das ist nicht mein Kampf. Ich habe ein Versprechen gegeben, ich muss es einlösen.“
Die Fremden sahen ihn an. „Du willst schon gehen?“, fragte einer unsicher. „Bist du dir sicher, dass du …“
„Ich komme schon zurecht.“ Jayden lächelte leicht. „Viel Glück mit dem Turm.“
„Und dir viel Glück mit deinem Versprechen.“ Einer deutete auf eine der Türen. Jayden öffnete sie und trat auf eine von Schutt übersäte Straße.
Es war Zeit, Enila zu finden.
~*~
„Die Welt ist vermutlich wichtiger als zwei Personen“, murmelte Juan.
Chiara seufzte. „Das sehe ich ähnlich.“
Beide schwiegen einen Moment und sahen auf ihre Tastaturen.
„Dann wäre ja alles geklärt“, meinte Iris und senkte die Finger auf die Tasten. „Verbreiten wir die Botschaft und stürzen die Türme!“
„Du willst ihnen auch nicht helfen?“, fragte Juan.
Iris zuckte die Achseln. „Was gehen mich zwei Kerle an?“
„Sie haben uns erst ermöglicht, Carmen anzugreifen“, sagte Juan und seine Stimme wurde schärfte. „Carmen, die du auf die Welt losgelassen hast, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Carmen, die ihr längst hättet unschädlich machen können, statt sie einfach nur gefangen zu halten.“ Iris funkelte Juan an. „Also nein. Ihr mischt euch nicht in meine Entscheidung ein.“
„Wir können sie doch nicht einfach im Stich lassen“, widersprach Juan.
„Dann hilf du ihnen doch – ich kenne die Kontaktdaten von FBI-Agenten, von hohen Militärs, ich kann ich in jede wichtige Datenbank hacken. Meine Fähigkeiten werden hier deutlich eher gebraucht als bei den beiden Losern.“
„Ich muss aber auch meine Verbindungen einsetzen.“ Juan kaute auf seiner Unterlippe, sichtlich unglücklich mit der Erkenntnis.
Iris dagegen suchte bereits die richtigen Seiten aus und bereitete ein Datenset vor, dass sie teilen wollte. Wenn noch irgendwelche Gruppen aktiv waren, die etwas bewirken könnten, so würde sie sie erreichen. Geheimdienste weltweit würden die Botschaft von Carmens wahnsinnigem Plan erhalten.
„Ich schreibe die Mafiosi an, die ich kenne“, sagte Juan leise seufzend. „Wir brauchen ihre Hilfe.“
„Und ich will Radios, Fernsehsender und alles weitere kapern“, sage Chiara. „Aber wisst ihr was? Ich schreibe den beiden. Falls sie … noch irgendwelche letzten Worte haben.“
„Tröstlich“, brummte Iris.
„Ist das jetzt wirklich alles, was wir ihnen anbieten können?“, fragte Juan.
Chiara sah auf und nickte ernst. „Wenn wir sie retten und die Welt deswegen untergeht, hilft ihnen das auch nicht weiter. Es ist … das kleinere Übel.“
Während der Gangster immer noch leise meckerte, stürzte sich Iris auf die Ruinen des Internets. Manche ihrer geliebten Pfade waren gar nicht mehr zugänglich, überwuchert von Serverausfällen oder verschüttet unter den Lawinen panischer Rufe, die in der Leere des virtuellen Raums verhallt waren. Sie ließ die offizielleren Kanäle aus, um die Chiara sich kümmern würde, und sichte nach weniger bekannten Wegen, ihre Informationen zu verteilen. Nach und nach schickte sie das vorbereitete Datenpaket in Chatrooms.
Es dauerte nicht lange und sie sah die ersten verwirrten Nachfragen, aber sie reagierte nicht.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren. Sobald Carmen etwas merkt, wird sie versuchen, uns aufzuhalten“, erklärte Chiara ihnen angespannt.
„Sie kann nicht überall gleichzeitig blocken“, knurrte Juan entschlossen.
Iris enterte die nächste Plattform und hielt inne. „Sagt Bescheid, wenn ihr ein Profil seht, das eindeutig Carmen gehört. Ich habe noch ein, zwei Stör-Bots, die wir einsetzen können.“
Dann fiel konzentriertes Schweigen über den Computerraum, nur durchbrochen vom Klappern der Tastaturen und dem Surren von PCs und Monitoren.
„Sie haben geantwortet“, sagte Chiara schließlich.
„Wer?“
„Thomas und Simon. Auf meine Frage nach letzten Worten.“
„Und?“, fragte Juan.
Chiara seufzte. „Ich will die Schimpfwörter lieber nicht in den Mund nehmen.“
Während Iris ungerührt weitertippte, schwiegen die anderen beiden einen Moment.
„Verdammt“, brummte Juan. „Jetzt ist es zu spät.“
„Es war die richtige Entscheidung.“
„Nichts daran war richtig. Aber es war die einzige Wahl, die wir treffen konnten.“
„Um euch mal aufzumuntern …“, warf Iris ein. „Ich kriege gerade die Meldung rein, dass die Russen den ersten Turm angegriffen haben. In Italien und Finnland ist auch irgendwas offline gegangen.“
„Es funktioniert also.“ Juan klang nicht begeistert.
Iris grinste. „Ich wette, Carmen tobt gerade. Ich bestelle ihr mal liebe Grüße von Chiara Moretti.“
„Halt – nein!“ Chiara fuhr auf.
„Zu spät.“ Iris hieb auf die Enter-Taste. „Sie soll doch wissen, wer ihr das antut.“
Chiara fuhr sich über das Haar. „Das ist ein dummes Risiko. Wenn wir es nicht schaffen, sie zu vernichten, wird sie Rache nehmen!“
„Dann … beeil dich lieber damit, sie gründlich zu vernichten. Und hört auf, euch über diese Fremden Gedanken zu machen.“
~*~
Gordon stolperte rückwärts, nicht fähig, den Blick von der Waffe abzuwenden. „I-ich …“, stammelte er.
„Gehörst du etwa auch zu Moretti?“, fuhr die Fremde ihn an. „Hat dich diese verrückte Alte geschickt? WER BIST DU?“ Mit schwankenden Schritten kam sie auf ihn zu. Panisch wich Gordon weiter zurück.
Dann drehte er sich um und rannte. Ein Schuss krachte, neben ihm wurde Erde aufgewirbelt. Er hielt nicht an, bis er sich plötzlich im Meer wiederfand. Als kühles Nass seine Füße berührte, schreckte er mit einem leisen Schrei auf und sah zurück.
Die Frau war ihm gefolgt. Sie atmete schwer, als wäre sie verletzt. Als sie sah, dass Gordon stehengeblieben war, zog sie die Pistole hoch.
Ein zweiter Schuss. Schmerz grub sich in Gordons Bauch, die Wucht des Aufpralls riss ihn nach hinten, in die Fluten. Er schnappte nach Luft. Salzwasser brannte in der Wunde.
„Und jetzt … sag mir … wer du bist!“ Die Fremde ragte über ihm auf. Er konnte keine Wunde an ihr erkennen. Vielleicht war es auch eine Mischung aus Wut und Panik, welche sie so komisch werden ließ.
„Ich … ich bin Gordon“, brachte er wimmernd hervor. Schock hatte den Schmerz betäubt, doch er starrte weiterhin auf das Blut, das seine Hände bedeckte.
„Und wie hast du mich gefunden, Gordon?“
„Ich wusste nicht …“
„Halt mal. Du …“ Ihre Augen weiteten sich. „Du weißt nicht, wer ich bin.“
Stumm schüttelte er den Kopf und sah flehend zu ihr auf.
„Ich bin …“ Im nächsten Moment schrie sie auf und wirbelte herum, als offenbar etwas ihren Fuß berührte. Sie starrte ins Wasser und auf ihrem Gesicht malte sich weiterer Schrecken aus. „Nein! Verdammte Scheiße!“ Ihre Wut verrauchte mit einem Mal und wich Resignation, während sie sich zusammenkauerte und ihren Fuß betastete.
Fragend stemmte Gordon sich auf die Ellbogen. Er konnte durch das Wasser einen winzigen Einstich in ihrem Knöchel erkennen, aus dem ein Blutstropfen ins Meer schwebte.
Warum hatte sie denn so geflucht?
„Das war ein Petermännchen“, erwiderte Carmen. „Ich hätte es eigentlich besser wissen sollen, als hier ins Wasser zu gehen.“ Sie setzte sich neben ihn und ließ die Pistole in den Schlamm sinken. „Ausgerechnet so geht es wohl zu Ende.“
Ihr Wandel verwirrte Gordon mehr, als es die Ereignisse der letzten Tage getan hatten. „Petermännchen?“
„Ein Fisch. Normalerweise wäre ihr Gift kein Drama. Aber in der momentanen Lage …?“ Sie bemerkte, dass er zu der Pistole schielte. „Nimm ruhig. Ich habe zu lange auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation verzichtet. Ich bin im Grunde einfach nur müde. Da es auch keine medizinische Hilfe mehr in Italien gibt, wird mich das Gift so oder so töten.“
Gordon ließ die Pistole, wo sie war. Er versuchte, möglichst flach zu atmen, denn jede Bewegung schmerzte.
„Ich bin Carmen“, stellte sich die Frau vor. „Carmen Manzanares.“
„G-Gordon Watts.“
Carmen schlang die Arme und die Knie und sah zum Horizont. „Das war’s dann wohl. Ich bin gescheitert.“
„Was wolltest du denn tun?“
„Ich dachte wirklich, ich könnte die Welt zu einem besseren Ort machen. Einem Ort ohne Klimawandel. Den Preis dafür habe ich in Kauf genommen.“ Sie sah ihn ernst an. „Und die Feinde, die ich mir damit machen würde.“
Er nickte, obwohl er nichts verstand. Gar nichts. Das Wasser machte ihn müde. Die letzten Sonnenstrahlen färbten den Himmel rot.
„Carmen … ist Madagaskar noch sehr weit weg?“
Sie sah ihn verwundert an. „Madagaskar?“
„Da sind meine Tenreks. Ich hab‘ auf der Karte geguckt, wohin ich laufen muss. Aber ich fürchte, ich habe mich verirrt.“
Sie schüttelte einen Moment stumm den Kopf, ehe sie sich einen Ruck gab. „Nein, keine Angst, Gordon. Du bist ganz nah.“
Er sank in die Fluten, die ihn leise schaukelten. Seine Augen fielen zu und Wasser verschloss seine Ohren, während sein Körper den Kontakt zum Grund verlor.
Den letzten Schuss hörte er nicht mehr.
Und dann rollte nur noch das Meer gegen den Strand, rot glühend wie flüssiges Feuer, und am Himmel eilten verspätete Möwen zu ihrem Nest.
The highway is for gamblers better use your sense.
Take what you have gathered from coincidence.
The emptyhanded painter from your streets
is drawing crazy patterns on your sheets.
The sky, too, is falling over you.
And it′s all over now, baby blue.