Jepp, es hat etwas gedauert. Entschuldigung dafür. :D Ich hatte ein bisschen viel mit Uni um die Ohren und war zwischendurch auch noch krank. Entsprechend sind natürlich die Rückmeldefristen verschoben und ich muss vielleicht gucken, ob ich das nächste Kapitel wieder rechtzeitig schaffe. Das werden wir dann wohl sehen.
Erst einmal aber viel Spaß:
Zuerst konnte sie sich nicht rühren. Ihr Rücken und ihr Nacken kribbelten, als würden tausende Ameisen über ihre Haut wimmeln. Sie musste den Atem angehalten haben, denn plötzlich schnappte sie nach Luft. Ihre Hände zitterten.
Kitsune musste sich zwingen, den Blick von der in Blut geschriebenen Botschaft zu lösen. Das Beben ihrer Finger war mit bloßem Auge sichtbar. Nicht ein Muskel ließ sich rühren. In ihren Ohren dröhnte das Pumpen ihres Herzschlags.
Ihr Blick fiel auf die Leiche. Auf die Blutspritzer an den Wänden, die von der Brutalität zeugten, mit der Bruce vorgegangen war. Wie von selbst ballten sich ihre Hände zu Fäusten, so fest, dass die Krallen an den Enden ihrer Finger in ihr Fleisch eindrangen. Warmes Blut lief zwischen ihren Fingern hervor, ein harter Kontrast zu den weißgewölbten Knöcheln. Bebend drang etwas aus ihrem Innersten herauf, zwängte sich zwischen ihren zitternden Lippen hindurch. Ein Grollen, so tief, dass sie es zuerst nicht wahrnahm und dann kaum als einen Laut aus ihrer Kehle identifizieren konnte. Ihre Augen brannten von Tränen oder Zorn – sie konnte es nicht unterscheiden. Mit einem Schnauben blecke sie die Zähne und blähte die Nüstern. Ihre scharfen Sinne nahmen einen Geruch wahr, eine feine Spur.
Mit langsamen Schritten setzte sie sich in Bewegung. Ihr Kopf zuckte leicht.
~*~
„Hol dein Flugzeug“, entschied sie. „Aber lande auf den Wiesen. Ich bringe Sun so weit ich kann.“
Der Fremde – Nurrudin – nickte und setzte sich mit hastigen Schritten in Bewegung.
Riikka sah auf Sun hinab. Ein Schlaganfall. Auch das noch! Und noch dazu bei einem so jungen Mädchen. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihnen.
Vielleicht hatte der Stress den Anfall ausgelöst. So oder so war sich Riikka sicher, dass sie ein weiteres Problem dieser Art nicht überstehen konnte.
Sie hob Sun Lin an und hievte sich das Mädchen auf die Schultern. Ächzend kämpfte sie sich auf die Beine und taumelte auf die Düne zu. Mit welcher Kraft sie das Kind bis zum Lager zurückschleppte, konnte sie nicht sagen. Sie war hungrig, die Sonne schien sie zu braten und wann immer sie den Blick hob, war ihr Unterstand keinen Zentimeter näher gekommen. Dann erklang allerdings ein spitzer Schrei – Fran hatte sie entdeckt – und Jochen kam ihr entgegen, um ihr die Bewusstlose abzunehmen.
„Schlaganfall“, berichtete Riikka atemlos. „Gleich kommt ein Flugzeug … zwei Leute, Sun Lin muss sie am Strand getroffen haben … sie helfen uns, aber … ich vertraue ihnen noch nicht.“
Der ansprechbare Rest der Gruppe starrte sie an.
„Ein Flugzeug?“, fragte Fran schließlich.
Riikka nickte. „Am Strand war ein Mann. Er sagt, er heißt Nurrudin und wäre Pilot. Offenbar ist noch jemand bei ihm, aber den hab ich nicht gesehen. Sie müssen mit einem kleinen Flugzeug in der Nähe gelandet sein und wollten das Wrack plündern, als sie auf Sun Lin gestoßen sind.“
„Aber das ist doch großartig!“, sagte Jochen. „Wir werden endlich gerettet!“
„Solange Nurrudin nicht gelogen hat“, dämpfte Riikka seine Freude. „Ich hab nur gesehen, wie er sich über Sun beugt und sie wie tot im Sand liegt.“
„Lin“, murmelte Fran leise. „Ihr Vorname ist Lin.“
Riikka ignorierte sie. „Wir haben keine Wahl, als es zu versuchen. Hier sind Hazel, Lin und vermutlich auch Enrico und Rita dem Tode geweiht. Wir brauchen ein Krankenhaus. Aber bleibt unter allen Umständen wachsam!“
Ein leiser Motor am Himmel kündigte das Flugzeug an. Es war tatsächlich eine kleine Maschine. Riikka war schon froh, dass sich an dem Ding kein Propeller befand.
Sie trat aus dem Gebüsch und winkte, aber Nurrudin musste ihre Plane bereits gesichtet haben. Er landete auf den verwilderten Wiesen zwischen ihrem Versteckt und dem Strand. Das kleine Flugzeug pflügte eine Schneise durch das hohe Gras und wurde immer langsamer, bis es kaum zwanzig Meter von ihrem Lager entfernt zum Stillstand kam. Der dunkelhäutige Nurrudin sprang heraus, gefolgt von einem mittelalten Mann in einem weiten, bunten Hemd. Er hatte dunkle Haare und olivfarbene Haut. Während Nurrudin am Flugzeug einen Aufstieg ausklappte, kam der Andere auf die Gruppe zu.
„Musa bin Osman“, stellte er sich vor und gab Riikka, Jochen und Fran nacheinander die Hand. Dann warf er einen Blick auf den Rest ihrer Gruppe und verzog das Gesicht. „Das sieht nicht gut aus …“
„Ach“, murmelte Riikka.
Musa rückte seine Brille zurecht. „Soweit ich weiß, steht in Italien kein Krankenhaus mehr. Wir müssen vermutlich …“
„Wie, hier steht nichts mehr?“, unterbrach Riikka ihn. Sie hatte sofort auf höchste Alarmstufe geschaltet, obwohl Musa ihr eigentlich recht sympathisch war. Aber Sympathie war nur eine Frage des Auftritts.
„Es gab eine Reihe von Erdbeben. Habt ihr die nicht mitbekommen?“, fragte Musa. Er beantwortete seine Frage selbst. „Dann seid ihr vermutlich erst danach gekentert. Es kann auch sein, dass die Erdbeben den Schiffskompass gestört haben. Hier in der Gegend sind viele Schiffe gekentert, entweder vom Kurs abgekommen oder durch die Wellen nach den Beben gesunken. Die Rettungskräfte waren natürlich heillos überfordert, denn sie wurden überall gleichzeitig gebraucht.“
Riikka atmete tief durch. „Wohin sollen wir dann?“
„Im Endeffekt in die Ukraine“, sagte Musa. „Wir haben Funksprüche erhalten, dort haben sie die Lage erstaunlich gut im Griff. In China ebenfalls, aber das ist etwas weit.“
„Ukraine!“, entfuhr es Riikka entsetzt.
„Unser erstes Ziel wird das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien“, beschwichtigte Musa sie. „Ein Bekannter von mir arbeitet dort als Arzthelfer. Sie haben nicht besonders viele Vorräte, aber für die Erste Hilfe wird es reichen. Sobald alle Verletzten stabiler sind, ziehen wir weiter in die Ukraine. Dort kann man uns besser versorgen.“
Riikka stimmte mit einem resignierten Nicken zu. Hierbleiben war nunmal keine Option.
„Es ist alles soweit“, verkündete Nurrudin. „Ich habe Platz gemacht. Bringen wir die Verletzten rein.“
Riikka trat zur Seite, als Nurrudin und Musa einen Liegenden nach dem Anderen in das kleine Flugzeug trugen. Im Inneren vermutete sie vielleicht zwanzig Sitzplätze, trotzdem wunderte sie sich, dass alle Platz fanden.
Jochen trat zu ihr. „Riikka … was ist mit Gordon?“
Sie erwiderte Jochens Blick kühl. „Was soll mit ihm sein? Er ist weggerannt und unverletzt. Wir müssen uns um diejenigen kümmern, die unsere Hilfe brauchen und wollen.“
~*~
„Thomas? Was soll ich ihnen sagen?“ Anne stand noch immer vor ihm und sah ihn fragend an.
Thomas blinzelte ein paar Mal. Wie lange hatte er sie jetzt angestarrt, ohne etwas zu sagen? Seine Gedanken hatten sich überschlagen.
„Tut mir leid“, sagte er und merkte, wie seine Zunge über die englischen Worte stolperte. Das war ihm schon ewig nicht mehr passiert. Er lebte schon so lange in Amerika, dass ihm Englisch zur zweiten Muttersprache geworden war, doch nun brauchte er einen Moment, um wieder zu sich zu kommen.
„Hast du dich entscheiden?“, fragte Anne und fügte hinzu, als wäre sie nicht sicher, dass er sich erinnerte: „Die Leute mit dem Kranken stehen noch unten vor der Tür.“
„Wir müssen sie wegschicken“, sagte Thomas schweren Herzens. „Wir können nicht riskieren, dass irgendeine Krankheit hier um sich greift.“
Anne nickte bedrückt. „Ich gehe und …“
„Nein, ich mache das.“ Thomas hielt sie sanft an der Schulter fest. „Ich habe die Entscheidung getroffen.“
Anne nickte dankbar. Er konnte sehen, wie ihr eine Last von den Schultern genommen wurde. Dass er sich selbige Last selbst aufbürdete, fühlte sich wie ein breites Band an, das ihm die Luft einschnürte. Er hatte mal einen transsexuellen Mann für ‚The golden Talk‘ interviewt, der einprägsam erzählt hatte, wie bedrückend Binder waren. Thomas hatte sich niemals irgendwelche Brüste abbinden müssen, doch er fühlte sich wie in der Beschreibung des jungen Mannes. Als gäbe es nicht genug Platz für seine Lunge, um sich zu dehnen und seinen Körper mit der nötigen Menge Sauerstoff zu versorgen.
Entsprechend war er außer Atem, als er am Fuß des Treppenhauses ankam und die Tür öffnete. Draußen auf der Straße stand ein junger Mann, dem Aussehen nach wenigstens zur Hälfte Mexikaner. Er beugte sich über einen älteren Mann, der sich auf den Bordstein gesetzt hatte und sich in einem Hustenanfall vorbeugte. Als Thomas die Tür öffnete, sah der jüngere Mann auf.
Der Ausdruck der Hoffnung in seinem Gesicht fühlte sich für Thomas an wie ein Schlag in den Magen.
Der Mann las wohl Thomas‘ Gesichtsausdruck, denn der hoffnungsvolle Glanz seiner Augen wich einem flehentlichen Blick. „Bitte, du musst uns helfen!“
Thomas konnte ihnen kaum in die Augen sehen. „Wir können das Risiko nicht eingehen …“
„Bitte, mein Vater stirbt, wenn wir keine Medizin bekommen! Es ist zu kalt für einen Mann seines Alters …“
Thomas wünschte sich, er hätte daran gedacht, Decken und Medizin mitzunehmen, die er ihnen geben konnte. Doch er war zu abgelenkt gewesen und nun war es zu spät. Der junge Mann stürmte auf ihn zu und Thomas musste die Tür eilig zwischen sie bringen. Der Sohn hämmerte mit den Fäusten dagegen. Er würde zweifellos in das Gebäude eindringen, so verzweifelt und zornig, wie er war.
„Das könnt ihr nicht machen! Das ist unser Todesurteil!“
Im Hintergrund rang der Ältere röchelnd um Atem. Sein Körper war bereits ausgezehrt, das konnte Thomas unter der dünnen Jacke sehen.
„Wartet …“, sagte er.
Der jüngere Mann ließ von der Tür ab und Thomas zog seine Jacke aus. Er reichte sie dem Sohn durch den Türspalt. „Nehmt das.“
Der jüngere Mann nahm die Jacke und starrte darauf. Dann stieß er einen wortlosen Schrei aus und pfefferte die Jacke auf den Boden. Mit einem Blick, als würde er ihn in der Luft zerfetzen wollen, sprang er auf die Tür zu. Thomas warf sie ins Schloss und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Durch das gesamte Treppenhaus hallten die Schläge und Beschimpfungen des verzweifelten Jungen. Bis dessen heisere Rufe verstummten und Thomas ein Schluchzen hörte.
Er sank an der Tür auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Verzweifelt redete er sich ein, dass er die restlichen Menschen gerettet hatte.
Doch das leere Gefühl in ihm blieb. Schließlich gab er sich einen Ruck und öffnete die Tür.
Die Straße war leer.
Nur seine Jacke auf dem Boden kündete von den abgewiesenen Hilfesuchenden.
~*~
Juans Taktik bestand darin, dass sie der Autobahn folgten, bis sie eine kleine Ortschaft entdeckten. Hier schlugen sie sich durch das hohe Gras am Rand weiter Felder.
Eigentlich wollten sie nur im Supermarkt einkaufen, die Nachrichten hören und dann Kontakt zu Chiara Moretti aufnehmen. Doch je näher sie der Siedlung kamen, desto deutlicher erkannte Iris, dass das Dorf verlassen war.
„Da ist ja niemand mehr!“, rief sie schließlich aus, worauf die Gangster stehenblieben und die Blicke hoben.
„Bist du dir sicher?“, fragte Juan mit scharfem Unterton.
„Absolut.“ Iris nickte bekräftigend. „Da vorne steht ein Auto mit offenen Türen, da hat sich seitdem wir laufen nichts geändert. Man sollte denken, innerhalb von einer Viertelstunde hätte der Besitzer abgeschlossen oder jemand den Wagen geklaut.“
„Hättest du ihn so schnell geklaut?“, fragte Hector herablassend.
Iris nickte. „Zweitens sind da die dunklen Wolken. Vermutlich Fliegenschwärme über Kadavern. Oder Leichen.“
Diese Worte brachten die Gangster endgültig zum Verstummen.
„Ich bleibe mit Lina hier“, entschied Fernando. „Das ist nichts für ein Baby.“
„Lina?!“, fragte Iris.
„Sie braucht einen Namen!“, verteidigte sich Fernando.
„Hast du überhaupt nachgeguckt, ob es eine sie ist?“, gab Iris zurück.
Fernando lief rot an. „Natürlich nicht, ich bin doch kein …“
„Jungs!“, zischte Juan und schlagartig wurden sie still. Der Anführer der Gangster hatte seine Männer im Griff wie ein Kampfhundetrainer. „Fernando bleibt hier. Der Rest: Sucht Vorräte. Lebensmittel, Waffen, Decken, alles, was uns nützlich sein könnte.“
„Wir sollen sie einfach beklauen?“, fragte Mateo zweifelnd. Der Fahrer gehörte wohl nicht zu den abgebrühten Gangstern.
„Siehst du hier irgendjemanden, der sein Zeug zurückfordern will?“, fauchte Juan. „Jetzt mach, was ich dir sage.“
Demütig liefen seine Hunde los, bis auf Fernando und Iris.
„Und seid vorsichtig“, rief Juan ihnen in etwas milderem Tonfall nach.
„Wovor hast du Angst?“, fragte Iris auf Englisch. „Vor der Zombieapokalypse?“
„Vor einstürzenden Häusern“, verbesserte Juan. „Und übrigens galt mein Befehl auch für dich!“
Iris hob eine Augenbraue. „Ich nehme keine Befehle entgegen.“
Juan zückte ohne Umschweife eine Pistole und richtete sie auf Iris. Fernando stieß ein erschrecktes Keuchen aus und drehte sich so, dass sein Körper den Säugling abschirmte.
„He! Ich habe euch das verdammte Leben gerettet!“, rief Iris aus.
„Das war deine Entscheidung“, sagte Juan kalt. „Aber ich werde nicht zulassen, dass du meine Männer gefährdest. Wir brauchen das Zeug aus dem Dorf, und zwar schnell. Also hilf mit oder geh uns aus dem Weg.“
Iris hob genervt die Hände. „Schon gut … Ich wollte ja sowieso looten.“
„Das ist kein … verdammtes Videospiel!“, knurrte Fernando, nachdem er Lina die Ohren zugehalten hatte, ehe er das Schimpfwort aussprach.
Iris ignorierte ihn und trottete in das Dorf. Aus Gamerperspektive sah es vielversprechend aus: Viele offene Türen, kreuz und quer parkende Autos und unbewachte Supermärkte. Doch anders als in Spielen stieg ihr der Leichengeruch deutlich in die Nase. Im Näherkommen bemerkte sie mehrere tote Körper in den Straßen, und der Anblick jeder einzelnen ließ Kälte über ihren Rücken rieseln.
Eine unglaubliche Macht war durch die Straßen gefegt. Sie hatte Türen aus Autos gerissen und Fensterläden umgeknickt. Mehreren Häusern fehlten Dachziegel oder gleich das ganze Dach. Ausgerechnet die Bäume hatten größtenteils überlebt und ragten nun aus verschiedenen Trümmerlandschaften in den Himmel.
Das war nach dem Sandsturm an der Straße genauso gewesen. Straßenschilder und Autos hatte der Wind erwischt, doch die Pflanzen waren glimpflich davongekommen.
Iris folgte den Straßen und fragte sich, ob dieser Sturm wirklich von einem Menschen programmiert worden war.
Sie kam an ein Auto und bückte sich hinein. Im Fußraum lag eine halbleere Flasche Cola, die sie sich schnappte und austrank, während sie das Chaos weiter durchfühlte, das der Sturm angerichtet hatte. Die Tür auf der Fahrerseite fehlte und dort, wo sie mit dem Auto verbunden gewesen war, wies das verbogene Blech die Spuren grober Gewalt auf. Eine dünne Blutspur bewies, dass der Fahrer in diesen Vorfall verwickelt gewesen war. Scheinbar war er gegen das Auto gestoßen – tiefe Delle mit dem ersten Blutfleck – und dann über den Asphalt geschleift worden, mitsamt der Tür. Blut und tiefe Kratzer und Brandspuren vom Metall zogen sich bis zum Straßengraben.
Im Auto fand Iris nicht viel, doch sie steckte einen Müsliriegel und die Geldbörse ein. Dann schlug sie einen Bogen um den Straßengraben und betrat eines der Häuser, dessen Tür offen stand. Sie schlenderte durch Diele und Wohnzimmer, fand eine geräumige Handtasche, die sie kurzerhand leerte. Lippenstift und Zettel warf sie weg, aber einen Autoschlüssel steckte sie ein, gefolgt von Messern, Wasser und haltbaren Lebensmitteln aus der Küche, noch mehr Bargeld und ein wenig Schmuck, der sich für einen guten Preis verkaufen ließ. Doch die ehemalige Besitzerin hatte sich weitestgehend für billigen Schmuck entschieden, den Iris liegen ließ.
Als sie mehrere Häuser später wieder nach draußen trat, näherte sie sich einem kleinen Supermarkt, der aussah, als wäre er privat geführt worden. Sie holte einen Autoschlüssel nach dem anderen heraus und betätigte ihn, worauf sich die Autos in der Straße blinkend meldeten.
Iris grinste breit. „Jackpot!“ Einer der Schlüssel gehörte zu einem roten Geländewagen, den der Sturm nicht schwer beschädigt hatte. Inzwischen hatten sich entlang der Wege einige Taschen angesammelt, denn sie hatte ihre Ausbeute jedes Mal vor der Haustür abgelegt. Jetzt sammelte sie alles zusammen und lud es hinten auf den Transporter.
Dann wandte sie sich dem Supermarkt zu. Jetzt musste sie sich keine Sorgen mehr um Platz machen, da konnte sie den Supermarkt als allererste Person plündern. Bereits durch das Fenster sah sie auch Windeln und Babynahrung, doch es gab zusätzlich Dosen, Getränke, Haushaltsgegenstände, Gartenmöbel, Pflanzensamen, Decken und einen Grabbeltisch, der offenbar verschiedenste Sonderangebote enthielt.
Während sie noch den Rover belud, tauchten die Gangster auf. Juan und seiner Crew fielen fast die Augen aus den Köpfen, als sie den Geländewagen sahen.
„Wo hast du den denn her?“, fragte er sie überrascht.
Iris warf ihm den Schlüssel zu. „Es ist vielleicht besser, wenn einer von euch fährt. Ich hab keinen Führerschein mehr.“
Sie drehte sich zu dem kleinen Supermarkt, als dessen Dach mit einem fürchterlichen Knacken ein Stück nach unten sackte. Dachziegel prasselten auf die Straße und schlugen kurz vor Iris auf den Gehsteig auf.
Mit einem Schreckensschrei sprang sie zurück. „Oh, scheiße! Das Ding stürzt ein!“
„Ganz ruhig, da ist nur was nachgerutscht“, sagte Juan und betrachtete den Markt mit zusammengekniffenen Augen. „Aber wir wissen nicht, wie lange das ruhig bleibt.“
~*~
„Verdammte Scheiße!“ Seth traute seinen Augen nicht, als er aus der Schule trat.
Wer zur Hölle stahl denn einen Geldtransporter?!
„Eigentlich eine echt dumme Frage“, warf Krieg ein.
Seth knurrte unwillig und ließ den Rucksack auf den Boden fallen, den Jayden gepackt hatte. Jayden hatte die Schule gründlich auf den Kopf gestellt und bei dieser Gelegenheit eine fast schon besorgniserregende Menge verschimmelte Lebensmittel gefunden. Vom vergessenen Pausenbrot bis zur Milchtüte im hintersten Winkel des Kühlschranks im Lehrerzimmer war alles dabei gewesen. Zum Glück war nicht alles verdorben, besonders in der Cafeteria hatten sie eine Menge gefunden.
Jetzt hatten sie aufbrechen wollen. Seth war immer noch entschlossen, zu Enila zu fahren, und Jayden hatte ohne Zögern beschlossen, ihn zu begleiten.
Der Andere trat soeben hinter Seth aus der Öffnung der zerbrochenen Glastür. „Was ist denn?“
„Der Wagen ist weg“, brummte Seth, während es in ihm tobte. Schlimm genug, dass aus heiterem Himmel das Ende der Welt begonnen hatte. Doch nun wurde ihm auf seinem Weg zu Enila ein weiterer Stein vor die Füße gelegt, als hätte das Schicksal es persönlich auf ihn abgesehen und wollte seine Reise so schwierig wie möglich gestalten. Und das ausgerechnet jetzt, wo es gerade so ausgesehen hätte, als könnten sie mit Auto und Vorräten weiterziehen.
„Das kann doch nicht sein!“, rief Jayden aus und rannte ein Stück vor, um die Straße hinauf und hinter zu sehen.
Seth betrachtete blinzelnd die Gegend, in der die Schule lag. Gestern war er noch zu dicht gewesen, um sie wirklich wahrzunehmen. Nun wanderte sein Blick über Graffiti, Müllberge und Wiesen, die eigentlich nur noch aus Zigarettenstummeln bestanden. Er hatte ja bisher schon nicht gerade in der feinsten Gegend gewohnt, aber das hier war noch mal eine Nummer härter.
In so einer Gegend hatte ein Geldtransporter vermutlich einen ähnlichen Effekt wie Licht auf Motten.
Seth gab sich einen Ruck, hob die schwere Tasche wieder auf und folgte Jayden zur Straße. Der Arzt raufte sich die Haare.
„Gehen wir“, schlug Seth vor. „Wir finden schon noch ein neues Auto.“
Die Straße war zwar verdächtig leer – er war sich sicher, dass hier gestern Abend noch weitaus mehr Fahrzeuge gewesen waren – doch keine Bande der Welt konnte alle Autos stehlen. Sie würden einfach zu Fuß weitermachen und schon irgendwas finden.
„Nein“, widersprach Jayden. „Die Schule hat doch noch Strom, oder? Ich lade jetzt mein Handy und dann suchen wir eine Autovermietung.“
„Was? Du glaubst doch nicht, dass so was noch offen hat!“ Seth starrte den Schwarzen ungläubig an.
Jayden zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber das wäre mir lieber, als später die Polizei am Hals zu haben.“
Seth schnaubte genervt. „Gut, gehen wir.“ Er sah bereits vor sich, wie die Stunden vergingen, während Jayden seine fruchtlose Suche durchführte.
Zu seinem Erstaunen brauchte Jayden keine halbe Stunde, um eine Liste mit den Adressen der Vermietungen in der näheren Umgebung zusammenzustellen. Den engbeschriebenen Zettel drückte er Seth in die Hand und scrollte auf seinem Handy, während sie losliefen. Neben dem Navi rief er außerdem Twitter auf.
„Draußen ist die Hölle los“, murmelte er.
„Ich weiß“, brummte Seth. Gegen den einsetzenden Nieselregen hatte er die Kapuze aufgesetzt. Als er diesen Morgen nüchtern erwacht war, hatte er festgestellt, dass er nur in Jeans, dunklem T-Shirt und einer grauen Stoffjacke losgerannt war. Fröstelnd zog er die Ärmel über die Hände. In der Schule hatte er außerdem ein Paar graugrüner Handschuhe gefunden, die er über seine verbrannten Hände gezogen hatte. Trotzdem war ihm kalt.
„Wenn ich bloß wüsste, was los ist.“ Jayden scrollte weiter.
„Auf Twitter kriegst du das nicht raus.“ Seth hielt dem Schwarzen sein eigenes Smartphone vor die Nase. „Selbst die öffentlich-rechtlichen haben keinen Plan, aber wenigstens konnten sie bestätigen, dass es kein Krieg ist.“
„Das sind doch gute Neuigkeiten!“ Jayden grinste. „Und du hast die Wartezeit genutzt.“
„Klar“, brummte Seth und machte das Handy wieder aus. Er hatte auch versucht, Enila zu erreichen, doch ihr Handy war offenbar tot. Das gefiel ihm kein Stück.
„Was weißt du noch?“, fragte Jayden und konzentrierte sich jetzt vollkommen auf das Navi.
„Irgendwas hat die ganzen Radarsysteme flachgelegt. Schiffe, Flugzeuge, so was“, fasste Seth zusammen. „Dann gab es Erdbeben und dadurch Lawinen, Sturmfluten und wasweißich. Internet zusammengebrochen, Apokalypse gestartet.“
Jayden rieb sich den linken Oberarm und verzog das Gesicht. „Nicht so schön.“
„Verletzt?“, fragte Seth ihn knapp.
Jayden sah verwirrt auf, merkte, was er tat, und schüttelte den Kopf. „Es ist nichts. Ah, da vorne sollte die Vermietung sein.“
Sie bogen um eine Ecke und starrten auf einen leeren Parkplatz vor einem kleinen, heruntergekommenen Gebäude. Die Scheiben waren eingeschlagen, offenbar eine frischere Verwüstung, drinnen lagen einige Metallteile und ein kaputter Reifen auf dem Boden.
„Sieht aus, als wäre jemand vor uns auf die Idee gekommen.“ Seth blickte die Straße hinab und sah einen Wagen, den jemand vor einen Baum gesetzt hatte.
Für einen Moment konnte er die quietschenden Reifen förmlich hören, die Schreie und das Hupen von panischen Menschen, zuckende Flammen, er hörte und fühlte den scharfen Ruck des Sicherheitsgurtes, als der Wagen gegen das Hindernis prallte …
So, wie es aussah, hatten verzweifelte Familien aus den weniger begüterten Bereichen der Stadt die Autovermietung gestürmt, um fliehen zu können.
„Tja, dann … auf zum nächsten Laden!“, schlug Jayden mit etwas zu viel gekünsteltem Optimismus vor. Seine Stimme zitterte leicht.
~*~
Weil ein paar Leute ihrer Kleingruppe Nahrung gestohlen hatten, wurden die Gestrandeten gezwungen, ihre Taschen auszuleeren. Ihr Besitz wanderte dabei entweder an den kommunistischen Allgemeinfont, über den die ehemalige Besatzung des Schiffes wachte, oder wurde als wertlos erachtet und zurückgegeben.
Sie waren auf sich allein gestellt, Hilfe würde keine kommen. Das war inzwischen offensichtlich. Um die Kontrolle zu behalten, hatten die Angestellten der Reisegesellschaft ein strenges Regime aufgebaut. Persönlicher Besitz war nur noch erlaubt, wenn es sich dabei um unnützen Tand handelte. Alles Brauchbare wurde verwahrt und an diejenigen ausgeteilt, die es am nötigsten brauchten.
Auch Ruben stand in der langen Schlange von Menschen, die ihre Koffer abgeben und alle Taschen leeren mussten. Er war nervös, wie die meisten anderen auch, dabei hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Trotzdem fürchtete er, dass man ihm alles nehmen könnte.
Als er den Inhalt seiner Geldbörse offenlegte – damit auch ja kein Krümmel zwischen den Münzen verborgen geschmuggelt werden konnte – stieß er auf das Foto von Ester, das er immer im Portemonnaie mit sich trug.
Jetzt war das Bild freilich zerlaufen und das Papier gewellt. Wie auch Rubens Bargeld war das Foto ein Opfer ihres Schiffbruchs. Esters Züge waren kaum noch zu erkennen.
Doch mehr als der Verlust seines Geldes – das war immerhin bloß weltliches Gut – schockte ihn, dass er kaum einen Gedanken an seine Frau verschwendet hatte. Für die letzten Tage hatte er eine Ausrede. Er hatte Schiffbruch erlitten und viel zu viel andere Sorgen gehabt, um an sie zu denken. Aber auch während der Kreuzfahrt hatte er sie komplett vergessen.
Hätte er sie nicht mal anrufen sollen? Sich melden, als liebender Ehemann auf Reisen?
War es irgendeine Sünde, dass er so wenig an seine Ehefrau dachte?
Der junge Mann in der Uniform des Personals, über der er eine dicke Winterjacke trug, beugte sich mit misstrauischem Blick über Rubens Koffer. Er nahm alles heraus und tastete sogar die Seiten des Gepäckstücks ab. Offenbar war Ruben so bleich geworden, dass er schuldig aussah.
In dem wenigen Gepäck, dass am Strand angespült worden war, befand sich allerdings keine verbotene Ware. Alles an Essen, das er gefunden hatte, hatte Ruben bereits abgegeben, und so enthielt der Koffer nur Treibgut aus Kleidung, die er am Tag zuvor getrocknet hatte.
Er erhielt den Koffer zurück, der ebenfalls Treibgut war und nicht der Koffer, den Ruben auf dem Schiff zurückgelassen hatte. Mit langsamen Schritten entfernte er sich von der Schlange.
Wie es Ester wohl gerade ging? Sicherlich hatte sie von dem Schiffbruch erfahren und machte sich furchtbare Sorgen.
„Welches Team?“, fragte eine Frau mit schnippischer Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Häh?“, fragte Ruben eloquent.
„In welchem Team bist du? Jäger?“
„Oh, nein, ich … ich bleibe im Camp.“
Die Frau hob spöttisch eine Augenbraue. Dann reichte sie ihm ein stumpfes Schälmesser. „Die Küche braucht Hilfe.“
„Natürlich. Möge der Herr dich beschützen.“ Ruben lächelte freundlich, worauf die zickige Aufseherin die Augen verdrehte. Während Ruben mit seinem geliehenen Arbeitsgerät zu den Zelten schlenderte, in denen ihre provisorische Küche untergebracht war, bekämpfte er den brodelnden Zorn in seinem Inneren.
Hinter ihm brach Tumult aus. Jemand brüllte: „Gib das wieder zurück!“, während zwei kräftige Männer vom Bordpersonal den Mann festhielten. Die Frau, die die Koffer untersuchte, lag auf dem Boden und hielt sich das Kinn, in der Hand hatte sie eine Notration aus dem Rettungsboot, die sie offenbar gefunden hatte. Und darauf musste der Mann sie angegriffen haben.
Ruben tat das einzig Vernünftige und beschleunigte seine Schritte.
Leider reichte das nicht aus, um dem Ärger aus dem Weg zu gehen.
Die Küche lag etwas abseits, damit Speiseabfälle keine Krankheiten begünstigten. Der Weg führte entlang eines Gestrüpps durch ein verwildertes Feld. Als Ruben etwa die Hälfte des Weges geschafft hatte, hörte er plötzlich Stimmen.
„Ist mir egal, was du hier für Ausreden bringst“, knurrte ein Mann. „Fakt ist, dass du uns alle verhungern lassen willst!“
„Das ist mir echt zu albern!“, entgegnete eine andere Stimme in gebrochenem Deutsch.
Ruben erkannte die Stimme sofort: Ethan. Der Amerikaner klang resigniert.
Ruben stoppte und lauschte mit angehaltenem Atem. Die beiden Männer standen unterhalb des Hangs, den das Gebüsch bedeckte. Als Ruben dastand, entdeckte er einen Pfad zwischen Brennnesseln und niedrigen Büschen, der hinunter zum Strand führte.
Er duckte sich leicht, um nicht entdeckt zu werden, und spähte über das Feld – doch es war sonst niemand in der Nähe.
„Albern?“, knurrte der fremde Mann gereizt. „Du findest unsere Situation also albern, du scheiß Ami? Hältst du das hier für einen Witz?“
„N-nein, natürlich nicht“, stammelte Ethan. Seine Stimme klang hilflos.
„Wir sind hier gestrandet und du bist auch noch zu feige, um ein bisschen Fleisch reinzuschaffen. Jeder muss hier seinen Teil leisten, hörst du? Jeder!“
„Ich hatte doch Beeren …“
„Ich scheiß auf Beeren! Das können die Frauen gerne essen, aber wenn wir Männer körperlich arbeiten sollen, brauchen wir Protein!“
„W-wie bitte?“
„Oder hast du den Hasen extra laufen lassen? Willst du uns alle töten, hm?“
Die Stimme des fremden Mannes war lauter und aggressiver geworden. Ruben hörte Geräusche, die auf Schritte hindeuteten. Dann hörte er das Rascheln von Kleidung und gedämpftes Knurren. Ein Handgemenge.
Wieder sah er sich um, aber weder an dem Küchenzelt noch in ihrem Lager stand jemand, der zu ihm herübersah und dem er etwas signalisieren konnte, um Hilfe zu erhalten. Er war auf sich allein gestellt.
Einen Moment schloss er die Augen. Es war seine Pflicht, seinem Nächsten zu helfen. Erst recht Ethan, dem er seine eigene Rettung zu Beginn der Reise verdankte. Jetzt konnte er sich endlich revanchieren!
Ruben atmete einmal tief durch und trat auf den steilen Pfad hinunter zum Strand. Er sah Ethan und einen großgewachsenen, muskulösen Mann mit kahlgeschorenem Kopf, der Ethans Hemd festhielt, während der Andere sich zu befreien versuchte.
„In solchen schwierigen Zeiten sollten wir gemeinsam stehen und uns nicht zerstreiten“, sagte er.
Beide Männer wirbelten herum. Auf Ethans Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus.
„Häh?“, brummte der Breitschultrige und starrte Ruben an. „Bist du einer von diesen Bibelfutzis?“
„Ich … ja, genau“, sagte Ruben. „Interessieren Sie sich für das Wort Gottes?“
„Bah, nein!“ Der Mann ließ Ethan los und stampfte an Ruben vorbei. Er versuchte, Ruben mit der Schulter zu rammen, doch dieser war schneller. Schnaubend stieg er den Hang hinauf und ging.
Ruben atmete auf. Der Macho hatte deutlich schneller aufgegeben, als er erwartet hatte.
~*~
Mit angehaltenem Atem kauerte sie hinter dem Baumstamm. Als sie das Gewicht verlagerte, knackte ein Ast unter ihren bloßen Füßen.
Ihre Beute drehte den Kopf und starrte in die für sie undurchdringliche Finsternis. Bruce hockte vor einem Busch und hatte die Hose unten. Jetzt sprang er in die Höhe und sein Atem beschleunigte sich.
„Ki-kitsune … wenn du das bist … ich schwöre, ich bringe dich um …“
Kit verursachte kein weiteres Geräusch. Leise zog sie die Sehne zurück und zielte. Der Bogen stammte aus dem Labor, doch als Pfeil besaß sie nur einen spröden Ast, den sie leicht angespitzt hatte. Er würde beim Kontakt mit festem Widerstand bersten. Eine schmerzhafte Angelegenheit.
Durch das Training, das sie im Tank hatte absolvieren müssen, wusste Kit ganz genau, wie man tötete. Ein Pfeil ins Auge war riskant. Man konnte leicht verfehlen, doch dafür wäre das Opfer sofort tot. Traditionell zielte man zwischen den Rippen hindurch auf das Herz, damit die Beute rasch verblutete.
Sie beabsichtigte weder das eine noch das andere. Sie zielte auf den Bauch und ließ den Pfeil von der Sehne.
Bruce schrie auf, als der Stock sich in seinen Magen bohrte und Splitter in seine Gedärme drangen. Die Wucht warf ihn auf den Boden, in den Kothaufen, den er frisch dort platziert hatte.
Kitsune stand auf und trat auf ihn zu, das Messer in der Hand.
Bruce tastete nach einer Waffe, die er offenbar am Rücken trug. „Du Hure! Verdammtes Miststück!“ Endlich erblickte er sie im Mondschein. „Was … was hast du vor?“
Kit beugte sich über ihn, bohrte die Krallen in sein Schienbein und durchtrennte die Sehnen in seinen Kniekehlen mit einem schnellen Ruck.
„Jetzt hab dich nicht so, mein Schöner …“, flüsterte sie. „Hier hört dich sowieso niemand.“
Bruce‘ Augen weiteten sich, als er seine eigenen Worte erkannte.
Kitsune lächelte. „Ich habe so lange darauf gewartet …“
~*~
Ethan strich sich Sand von der Hose, ehe er Ruben ansah. Seine Hände zitterten leicht, obwohl er bis eben vollkommen ruhig gewesen war.
„Danke“, sagte er mit einem ehrlichen Grinsen. „Das war vermutlich in letzter Sekunde.“
„Meine Hilfe kommt von dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.“
Ethan schüttelte grinsend den Kopf. „Dann danke ich euch beiden.“ Er kletterte den Hang hinauf.
„Was wollte der Mann?“, fragte Ruben, der ihm kurzatmig folgte.
Ethans Blick wurde wehmütig. „Ich … hab einen Fehler gemacht. Er hat es gesehen.“ Dann runzelte er die Stirn. „Ich bin mir sicher, dass er nicht lockerlassen wird. Ich denke, ich melde mich am besten für einen der Suchtrupps. Je weniger Zeit ich im Lager verbringe, desto besser.“
„Das klingt vernünftig“, murmelte Ruben.
„Außerdem ist es bestimmt schön, wenn man zu den Leuten gehört, die endlich eine Stadt finden oder so.“
„Hm …“
Ethan drehte sich um und streckte Ruben die Hand hin. „Komm mit mir! Bitte.“
~*~
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Keelan, als Lucas einen weiteren Hustenanfall bekam.
Der kleine, dickliche Dolmetscher hatte sowieso schon auf dem halben Weg gekeucht, doch nun japste er förmlich und krümmte sich alle paar Meter in einem heftigen Anfall, der klang, als wolle er sich die Lunge aus dem Leib husten.
Er rang um Atem und sah mit tränenden Augen auf. „Nur … mein … Asthma …“
„Oh, du hast Asthma?“, fragte Keelan mitleidig. „Sollen wir etwas langsamer …“
„Nein!“, knurrte Fynn. „Es wird schon dunkel, wir sollten bald da sein. Wir laufen eh schon zu lange.“
Kopfschüttelnd sah Keelan ihm hinterher, als Fynn weitermarschierte. Bis auf die Haare – die beide lang und offen trugen – hätte man Fynn und Lucas niemals für Brüder halten können. Wo Fynns Gestalt einer Kugel ähnelte, was Lucas dünn, geradezu hager, und mit dem leicht fettigen Haar und der vorspringenden Nase erinnerte er Keelan an ihre Vorstellung von Snape, als sie vor Jahren ‚Harry Potter‘ gelesen hatte.
Jetzt brüllte Fynn: „Hey, Markus! Wie weit noch?“
Ihr Fremdenführer hielt an und sah sich ratlos um. Keelan konnte erkennen, wie es in ihm arbeitete. Dann gestand er widerstrebend. „Ich weiß es nicht. Wir hätten schon längst dort sein müssen.“
„Was?!“, brüllte Fynn so laut, dass Keelan zusammenzuckte. „Das ist nicht dein Ernst.“
Fynn vergas vor Schreck das Keuchen. „Wir haben uns verlaufen?“
„Es ist Jahre her, dass ich hier war!“, rechtfertigte sich Markus. „Und weit kann es nicht mehr sein.“
„Das ist mir echt zu dumm!“ Fynn war in Fahrt und sprühte förmlich Funken. „Ich will keine Nacht hier draußen verbringen – gehen wir zurück.“
„Auf keinen Fall!“, widersprach Markus.
Keelan sah sich unglücklich um. Seit einiger Zeit wanderten sie nun schon durch einen Außenbereich der Stadt, dessen Häuser sehr nach Feriendomizilen aussahen. Sie waren klein, teilweise überwiegend aus Holz, mit großen, jedoch oft verwilderten Gärten. Es parkten verdächtig wenig Autos auf den Straßen und Grundstücken.
Ja, sie waren im richtigen Bereich der Stadt. Aber es gab hier immer noch eine Vielzahl an Gebäuden, die sie absuchen mussten.
„Mach doch, was du willst!“ Schnaubend wandte Fynn sich von Markus ab und marschierte an Keelan und Lucas vorbei. „Ich habe keine Lust mehr auf den Scheiß.“
Sprachlos beobachtete Keelan, wie einer nach dem anderen umdrehte und Fynn folgte. Nils, Richard, Malte und schließlich Maximilian.
„Geh doch zur Hölle!“, knurrte Markus an Fynn gerichtet.
„Ich will nicht den ganzen Weg zurück!“, hauchte Lucas. „Markus, bist du sicher, dass wir bald da sind?“
Markus nickte selbstbewusst. Dann sah er Keelan an. „Und du?“
„Ich bleibe.“ Es war nicht so sehr die Frage, ob sie Markus‘ Führung vertraute oder nicht – aber sie wollte die zwei nicht vollkommen alleine lassen.
Markus wirkte zufrieden mit ihrer Entscheidung. Sie warteten eine Weile, während Lucas Atem schöpfte. Dann folgte Markus Fynns Gruppe in einigem Abstand.
„Ähm …“ Keelan sah ihn verwirrt an, nachdem sie den Anderen einige Straßen später immer noch folgten.
„Ich glaube, ich bin nur irgendwo zu spät abgebogen“, erklärte Markus.
„Warum sagst du das denn nicht?!“ Keelan überlegte, ob sie losrennen und den Rest zurückholen sollte.
„Die dürfen ruhig eine Nacht im Freien verbringen, das schadet ihnen schon nicht.“ Markus grinste. „Wir machen es uns gemütlich und morgen kommen sie dann angekrochen.“
Keelan schüttelte den Kopf. „Männer. Und wenn sie nicht zurückfinden?“
„Hey, das sind zwar nette Leute, aber ich kenne die noch keinen Monat.“ Markus hob abwehrend die Hände. „Ich bin da zu nichts verpflichtet.“ Er blieb an einer Kreuzung stehen, sah sich um und bog nach links. „Hier entlang. Da, ich hätte mich an das Haus erinnern müssen.“
„Fynn wird bestimmt kommen“, meldete sich Lucas leise zu Wort. „Er lässt nie jemanden im Stich.“
„Falls es dir nicht aufgefallen ist – er hat uns gerade im Stich gelassen!“, knurrte Markus.
„Nur, weil er glaubt, dass das der beste Weg ist. Aber er würde mich nie zurücklassen. So ist er nicht!“
Keelan sah Lucas verwundert an. Nicht, dass sie ihm seine gute Beziehung zu seinem Bruder missgönnte, aber er schien ein bisschen zu erpicht darauf, sich Fynns Treue zu vergewissern. So, als müsse er sich das selbst überhaupt einreden.
Dann betrachtete sie Lucas‘ Frisur, die genau wie Fynns Frisur aussah, nur unwesentlich kürzer. Keelan vermutete einen anderen Grund hinter Lucas‘ Überzeugung.
Ihre Gedanken wurden durchbrochen, als Markus in eine der Hecken entlang des Weges stolperte und sich erbrach.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie alarmiert und eilte zu ihm.
Zunächst drehte er sich weg, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte, dann gab er es offenbar auf. „Mir ist kotzübel.“ Zur Unterstreichung hielt Markus sich den Magen.
„W-was …? Hast du was Falsches gegessen?“ Keelan dachte zurück, doch seit dem Flughafen hatten sie kaum etwas gegessen. Im Hotel waren sie nicht mehr dazu gekommen, nachdem man sie wegen der Schimmelpilze …
Schimmelpilze!
„Glaubst du, du hast eine Vergiftung?“, fragte sie ihn.
Markus stieß ein paar deutsche Wörter aus, die sie nicht kannte, aber dem Tonfall nach waren es Schimpfworte.
„Glaubst du?“, hakte sie nach.
Markus nickte mit zusammengepressten Lippen.
„Wieso hast du nichts gesagt?“, schimpfte Keelan. „Das geht bestimmt schon länger so.“
Markus wich ihrem Blick aus und nickte die Straße entlang. „Da hinten, das blaue Haus. Hol … hol mir einfach Wasser, bitte.“
Keelan folgte seinem Blick. Das fragliche Haus war ein ganzes Stück entfernt. Markus wankte ein paar Schritte und ließ sich dann erschöpft auf den Boden sinken. Es musste ihm wirklich übel gehen, wenn er die Symptome so lange verschwiegen hatte, wie er konnte.
„Bleib bei ihm“, sagte Keelan zu Lucas und rannte im Laufschritt die Straße hinunter.
Sie erreichte das Haus nach vielleicht fünf Minuten, in denen sich ihre Schritte immer weiter beschleunigten. Als sie zurückblickte, schien Markus auf dem Boden zu liegen und Lucas rüttelte an seiner Schulter.
Verdammter Sturrkopf! Hätte Markus früher was gesagt, hätte er sich schonen können. Hätte er früher zugegeben, falsch abgebogen zu sein, wären sie auch früher am Haus gewesen. Und zwar alle zusammen, nicht nur zu dritt, mit mehr Leuten, die sich um Markus hätten kümmern können.
Es war surreal, wie schnell alles aus dem Ruder gelaufen war.
Das blaue Haus besaß eine weiße Tür und weißgestrichene Fensterläden. Keelan rüttelte an der Tür und stellte fest, dass sie verschlossen war.
„Natürlich …“ Hilflos sah sie sich um.
~*~
Sie hatten für den Weg zum Auto gepackt, nicht für einen Fußmarsch durch die halbe Stadt. Als sie auch die dritte Autovermietung geschlossen vorfanden, gab Jayden seinem protestierenden Rücken nach. Er stand Schmiere, während Seth das Schloss eines größeren Familienwagens knackte.
Es war ein schwarzer Viersitzer mit geräumigem Kofferraum, in dem sie endlich alle Umhängetaschen aus der Schule abstellen konnten. Die Bänder hatten sich tief in Jaydens Schultern gegraben und rote Striemen hinterlassen.
Falls Seth ähnliche Schmerzen hatte, ließ er sich allerdings nichts anmerken. Er stieg auf den Fahrersitz und schloss den Wagen kurz, wenig später erwachte der Motor knurrend zum Leben.
„Nicht mal halb voll“, brummte Seth nach einem Blick auf die Tankanzeige. „Da wartet wohl jemand auf günstige Benzinpreise.“
Jayden saß schweigend auf dem Beifahrersitz und lehnte die Stirn gegen das Fenster. Ihm war inzwischen klar geworden, dass Seth selten eine Antwort erwartete, wenn er so leise vor sich hinmurmelte. Und Jayden war viel zu müde, um über die Benzinhaushaltung irgendeines Familienvaters zu philosophieren.
Der Wagen rollte bald auf die Straße und Jayden erlaubte es sich, kurz die Augen zu schließen. Er hatte in letzter Zeit viel zu wenig Schlaf bekommen. Das Brummen des Motors, die Heizung und die sanfte Vibration schläferten ihn ein.
Jedenfalls so lange, bis Seth mitten auf dem Highway bremste.
„Scheiße.“
Jayden öffnete die Augen. „Was ist denn …? Scheiße.“
Der Highway war zu. Dutzende parkende Autos versperrten den Weg nach vorn. Sie standen kreuz und quer, Fahrer waren jedoch keine zu sehen. Auch in der letzten halben Stunde war ihnen weder ein Fahrzeug entgegengekommen, noch hatte jemand sie überholt.
„Da geht’s nicht weiter. Verdammte Scheiße“, murmelte Seth.