„Danke, Danke!“
Thomas Goldschmidt blinzelte gegen die hellen Scheinwerfer an und deutete eine Verbeugung in Richtung der bisher nur undeutlich sichtbaren Zuschauer an, die ihn mit Applaus und beifälligem Johlen empfingen. Abwehrend hob der gebürtige Deutsche die Hände, trotzdem dauerte es eine Weile, ehe der Lärm verebbte.
„Herzlich willkommen zu ‚The Golden Talk‘ mit Thomas Goldschmidt“, sagte er dann und wurde mit erneutem Applaus belohnt. Er lächelte, was kleine Grübchen auf seinen Wangen erscheinen ließ.
„Begrüßen wir den Gast unserer heutigen Sitzung“, schlug er dem Publikum vor und schwenkte einen Arm zu der Öffnung im dunkelblauen, förmlichen Bühnenbild, aus der die Gäste jedes Mal traten. Auch diesmal reagierte der Gast auf sein Stichwort: Ein hagerer Mann, dem das feine Hemd nicht recht zu passen schien. Thomas bemerkte Nervosität in dessen Augen, die ihn jünger erscheinen ließ, als der Mann eigentlich war.
„Professor Simon Baker von der University of Copenhagen.“ Auch Simon Baker wurde bejubelt. Der hagere Mann sah sich verängstigt um, ein wenig wie eine Maus, die sich unerwartet mitten im Wohnzimmer von Katzen umringt wiederfindet. Sogar Simons Bart und Haare hatten an eine struppige Maus erinnert, bevor die Maske mit ihm fertig geworden war.
Thomas lächelte dem unerfahrenen Mann freundlich zu und umarmte ihn, ehe er ihn zu den zwei Ledersesseln, dem Schreibtisch und dem Stuhl auf dem Podium führte.
„Danke“, stammelte Baker, an das Publikum gewandt, und setze sich in einen der Sessel. Thomas nahm seinen Stammplatz hinter dem Schreibtisch ein und der Lärm aus dem Zuschauerraum wich gespannter Stille.
„Nun, Simon“, sagte Thomas. „Du hast lange Zeit an der University of Michigan unterrichtet, bis du dann vor vier Jahren spontan nach Copenhagen gezogen bist, um erneut zu studieren. Warum?“
Der etwas befangene Professor leckte sich nervös über die Lippen. Er mochte vielleicht Mitte Vierzig sein, also nur etwa fünf Jahre jünger als Thomas, wirkte aber nervös wie ein Teenager.
Thomas schielte auf seine Notizen. Simon war 46 Jahre alt, er hatte sehr gut geschätzt.
„Ich wollte unbedingt Katastrophenhilfe studieren, aber den Studiengang gab es nur in Copenhagen“, erklärte der Professor.
„Du bist ein, wie man es so schön nennt, Master of Desaster, Simon“, sagte Thomas und grinste verschwörerisch zu den Zuschauern, für die er die Ausführungen Bakers gerade weiter erklärte. „Was macht man denn da so?“
„Man lernt, auf Katastrophen zu reagieren.“ Thomas sah wohlwollend, dass Simon auftaute. Der Moderator ließ seinen Gast reden: „Was tut man, wenn ein Tsunami eine Stadt zerstört hat? Wie hilft man Opfern und Angehörigen, was muss man alles beachten?“ Simon zögerte und verstummte.
Dieser Mann war daran gewöhnt, dass sich niemand für sein Leben interessierte, das erkannte Thomas sofort. „Das klingt nicht nach einem gewöhnlichen Studiengang“, gab er eine Hilfestellung.
„Keinesfalls.“ Simon sah auf und seine Augen huschten ängstlich zum Publikum, aber Thomas verstand es, die Sinne seines Gastes auf sich zu lenken und ihm so die Angst zu nehmen.
„Wir waren auch keine gewöhnlichen Studenten“, fuhr Simon fort. „Ärzte aus Afghanistan oder Kenia, Menschen, die selbst eine Katastrophe überlebt haben …“, er lachte leise, „unser Altersdurchschnitt war von allen Studiengängen der höchste!“
Thomas lehnte sich in seinem Sessel zurück und korrigierte mit einer geübten, unauffälligen Bewegung den Sitz des Mikrofons unter seinen blonden Locken. „Kannst du uns ein Beispiel nennen, was ihr so gelernt habt?“
„Beispielsweise darf man in Afrika keine weißen Moskitonetze austeilen – die Farbe Weiß steht dort für den Tod.“
„Das hört sich sehr interessant an!“, sagte Thomas. Simon grinste und nickte, was für Thomas bedeutete, dass sein Gast keine weiteren Anekdoten mehr wusste.
„Und jetzt bist du in die Staaten zurückgekehrt – wieso?“
„Ich habe meine Heimat vermisst“, gestand Simon Baker. „Aber mehr noch als das wollte ich zurück an die University of Michigan und dort Katastrophenhilfe unterrichten. Es muss so einen Kurs auch in Amerika geben, viel mehr Menschen müssen davon erfahren. Ich war entsetzt, als Trump gewählt wurde und alle den Klimawandel plötzlich für eine große Lüge hielten! Dabei können Katastrophen immer und überall geschehen, hier genauso wie anderswo auf der Welt. Und es wird immer schlimmer.“
Thomas‘ Lächeln gefror einen winzigen Augenblick. Er konnte spüren, dass das Publikum unruhig wurde. Baker sprach einige schwierige Themen an, besonders die Politik wollte Thomas in seiner Sendung lieber nicht thematisieren. Dazu kamen Bakers Berichte von Katastrophen, die sich sehr nach Weltuntergangsgerede anhörten. Das waren Dinge, an die Thomas seine Zuhörer behutsam heranführen musste.
Er lächelte und seine blauen Augen strahlten Zuversicht aus. „Nun, Simon, zum Glück weißt du genau, was man bei solchen Katastrophen tun muss.“
~*~
Er liebte solche Nächte.
Wenn bloß Tabs nicht dabei wäre, sein lallender Anker in der Realität, dann hätte Seth die menschenleeren Straßen genießen und auf das Tappen ihn verfolgender Pfoten mit dem Klicken ihrer Klauen lauschen können.
Aber Tabs war nach der Party mitgekommen. Und Seth konnte seinen Kumpel ja schlecht mitten in der Nacht stehen lassen. Er war jetzt dafür verantwortlich, dass Tabs, den er als Teil seiner Familie betrachtete, sicher nach Hause kam – oder war es Tabs, der dafür verantwortlich war, dass Seth sicher nach Hause zu Enila kam?
Enila! Das Mädchen, das den in ihm tobenden Sturm zu einer maximal strengen Böe hat abflachen lassen. Die nun seit zwei Jahren sein Licht in der Dunkelheit dieser Scheißwelt ist, eigentlich seit drei, wenn man die Zeit vor der Trennung dazuzählt, aber die gilt irgendwie nicht.
Seth und Tabs überquerten die offene Wiesenfläche, die sich an den alten Spielplatz anschlossen. Seths Kopf dröhnte, hinter den Schläfen pochte es. Er konnte zwar immer noch mehr Stoff aufnehmen als eine Raufasertapete, aber irgendwie schien dieser Stoff mehr reinzuhauen als früher. Mit Enilas Hilfe hatte er seinen Konsum ganz schön herabgeschraubt, Alkohol trank er fast gar nicht mehr, aber wenn ein Kumpel Geburtstag hatte, wie Marco heute – gestern, es war ja schon nach Mitternacht – dann musste ein Bier manchmal halt sein, und auf Jacks Drängen waren es dann ein paar mehr geworden.
Seth stöhnte leise. Verfickte Kopfschmerzen.
Als sie die Unterführung erreichten, einen langen Tunnel mit graffitibeschmierten Wänden, der unter der Hauptstraße und den Zuggleisen hindurch führte, drehte Seth sich um.
„Was hast du?“, lallte Tabs.
„Dachte, ich hätt was gehört“, sagte Seth.
„Da is niemand“, beteuerte sein Kumpel.
Seth blieb stehen und lauschte.
„Vielleicht ja Keth!“, überlegte Tabs laut. „Hat sich verlaufen. Hey, Keth! Bist du das, Alter?“
Tabs brüllte und winkte. Seth zuckte leicht zusammen. „Das is doch nicht Keth!“ Der war nämlich schon vor fünf Straßenecken abgebogen, um zu seiner Wohnung zu laufen. Nein, Keth lag vermutlich längst im Bett und pennte.
„Lass weitergehen“, brummte Seth und lief den Tunnel entlang. Tabs schwieg wieder. Er war normalerweise ein echtes Labermaul, aber heute war er wohl müde. Es konnte ja nicht jeder wie Seth sein und sich um drei Uhr morgens noch fühlen, als würden Hochspannungsleitungen durch seinen gesamten Körper verlegt sein und knisternde Energie durch ihn hindurch jagen.
Tabs folgte ihm schlurfend. Er verstand Seths Paranoia nicht ganz, am allerwenigstens betrunken um halb vier, aber er akzeptierte es einfach, dass Seth ein vom Schicksal geficktes Arschloch war, zu kaputt für die einfachsten Dinge, weil die wenigsten ihm glauben, dass er krank war. Tabs schien das nichts auszumachen, was Seth seinem Kumpel hoch anrechnete.
Sie waren noch nicht lange im Tunnel, als er Schritte hinter sich hörte. Mal wieder.
Erst, als Tabs sich umdrehte, wurde Seth klar, dass es dieses Mal ausnahmsweise keine Einbildung war. Er drehte sich um und sah einen Kerl in dunkler Kleidung, der etwa fünf Schritte vor ihnen stehen blieb.
„Guten Abend.“
Der Typ sah irgendwie schräg aus. Er trug einen Schal über dem Mund, also war er entweder zu verweichlicht, um ein bisschen kühleren Nachtwind zu ertragen, oder er hielt sich für einen schlauen Kerl, dessen Gesicht später niemand würde beschreiben können.
Er trug eine dunkle Jacke und die Hände in den Taschen. Selbst durch den Stoff konnte Seth sehen, dass der Mann die Hände streckte und wieder zu Fäusten ballte. Das hieß zwei Dinge: Er hatte leere Hände und damit vermutlich keine Waffe versteckt. Und er nervte Seth schon jetzt unglaublich.
„Guten Abend …“, erwiderte Tabs und schien ein bisschen nüchterner geworden zu sein. Er warf Seth einen unsicheren Blick zu.
Seth dagegen hörte Schritte und drehte sich um. Da kam ein Kerl von der anderen Seite der Unterführung. Den Baseballschläger konnte er nicht sehr gut hinter dem Rücken verbergen. Seth drehte sich wieder zum ersten Mann. „Was willst du?“
Seiner Stimmlage musste der andere entnehmen, dass Seth das Spiel durchaus durchschaut hatte.
„Geld oder Leben!“
Seth hätte um ein Haar geschnaubt, wenn die Situation nicht durchaus ernst gewesen wäre. Was für ein behinderter Spruch. Ging’s vielleicht noch einfallsloser?
Tabs zog die Luft scharf ein und hob die Fäuste: „Du Scheißkerl!“
Seth griff in die Tasche und spürte den vertrauten Griff in der Hand. Klappmesser, 3,9 Zoll, er konnte die Gravur auf der Klinge spüren.
Ein Gedanke fuhr ihm mal wieder durch den Kopf. Das Schicksal, dieses sadistische Stück Scheiße, hatte einen Plan für jeden Menschen. Und es kämpfte mit allen Mitteln, damit jeder auf dem ihm zugedachten Pfad bleibt, koste es, was es wolle.
Der mit dem Baseballschläger blieb vielleicht zwei Schritte hinter ihnen stehen. Tabs funkelte den Wortführer an. Seth hatte den Kopf leicht zur Seite gedreht, um beide Fremde im Auge behalten zu können. Er rechnete sich seine Chancen aus: Beide Gegner waren kleiner als er und sahen nicht besonders kräftig aus. Er konnte ihre Körperform zwar wegen der Jacken nicht genau bestimmen, doch etwas in ihrer leicht vornübergebeugten Haltung mit hochgezogenen Schultern sagte Seth, dass sie eher der Typus Buchhalter und Schwächling waren.
„Das hier kann auf die leichte Tour laufen, oder …“ Der, der bisher gesprochen hatte, breitete jetzt die Arme aus und warf einen vielsagenden Blick zu seinem bewaffneten Kumpel. Immer noch öffnete und schloss der Redner die Hände. Das war wie ein Tick. Es machte Seth wahnsinnig.
„Die sind nur zu zweit“, hörte er Leo sagen. „Die packen wir.“
„Jetzt seid doch einfach vernünftig“, begann der mit dem Handtick.
Seth wirbelte ohne jede Vorwarnung zu dem Schweigenden herum. Der hob den Baseballschläger und holte aus, aber Seth war schneller. Er sprang den Typen an und riss das Federgewicht auch gleich von den Füßen. Der schlug mit dem Hinterkopf auf den Betonboden auf und ließ den Schläger fallen. Er schrie wie ein Mädchen, als Seth ihm die Klinge zwischen die Rippen rammte.
Das sollte bereits genügen. Der Kerl war jedenfalls ein totaler Anfänger.
Seth ließ den wimmernden Haufen Abschaum liegen und eilte Tabs zu Hilfe. Der andere Räuber hatte Tabs inzwischen in einen Faustkampf verwickelt. Seth nahm erleichtert zur Kenntnis, dass der Idiot nicht einmal eine Waffe hatte. Kurzerhand packte er ihn an der Schulter, riss ihn von Tabs weg und hielt ihm das Messer an den Hals.
„Bitte!“, flennte der Räuber dann auch noch. Seth rümpfte die Nase, als er Urin roch.
Großartig!
Tabs rieb sich die Schulter, die wohl was abbekommen hatte, offenbar jedoch nicht viel.
Der Schlägertyp lag auf der Seite, presste die Hände auf die Wunder und schrie wie am Spieß.
„Was machen wir mit denen?“, fragte Tabs, nur eine Stimme von vielen, die Seth in diesem Moment brüllen hörte. Leo und Krieg verlangten nach Blut. Jack wollte die Räuber ausrauben, immerhin könnte man das Geld für neuen Stoff ausgeben.
Ihre Stimmen wurden übermächtig. Der Räuber schrie auf, als Seths Klinge in dessen Hals schnitt.
„Seth!“, hörte er eine Stimme rufen. Sorkay.
Sofort verstummten Leo, Krieg und Jack.
„Sie kriegen raus, dass du es warst“, sagte Sorkay. „Willst du das Enila wirklich antun, dass sie dich aus eurer Wohnung zerren und ins Gefängnis stecken?“
„Du hast recht“, stöhnte Seth. Er wollte doch ein besserer Mensch sein, für Enila.
„Seth …“, begann Tabs langsam und sah ihn nervös an.
Mit einem Schnauben stieß Seth den verhinderten Räuber von sich. Der Typ konnte nicht rechtzeitig bremsen und knallte mit der Fresse gegen die Wand. Seth hätte um ein Haar gelacht.
„Lass uns gehen“, sagte er zu Tabs und stieg über den Idioten am Boden hinweg, der Rotz und Wasser heulte.
Tabs hob den Schläger auf und wog ihn prüfend in der Hand. „Geiles Ding.“ Er nahm die Waffe mit. „Die Stadt ist auch nicht mehr, was sie mal war“, sagte Tabs dann. Der Schreck hatte ihn wach gemacht, und jetzt plapperte er.
„Die war schon immer so“, antwortete Seth. „Wir sehen nur inzwischen so aus, als könnte es sich lohnen, uns zu überfallen.“ Wie oft er früher selbst auf der anderen Seite solcher Begegnungen gestanden hatte!
„Yo, stimmt auch wieder“, meinte Tabs. „Danke, Seth. Für’s Retten und so.“
„Immer, Alter“, sagte Seth und meinte das sehr viel ehrlicher, als er es klingen ließ. Für Tabs, Enila und die Handvoll Leute, die er zu seiner richtigen und zu seiner selbstgewählten Familie zählte, würde er einfach alles tun.
Wenig später trennten sich ihre Wege. Seth, der die Messerklinge an ein wenig Gras gesäubert hatte, musste geradeaus. Tabs bog ab und winkte, den Baseballschläger locker auf die Schulter gelegt.
Für beide war es nicht mehr weit, knapp eine Minute Fußweg. Seth beschleunigte seine Schritte, als er an Enila dachte. Sie schlief vermutlich schon, doch sie würde in ihrem gemeinsamen Bett liegen … Er wollte ihr unbedingt einen Antrag machen, das hatte er sich schon lange vorgenommen. Eine Frau, die ihm so viel zu geben vermochte, die trotz der ganzen Scheiße in seinem Leben bei ihm blieb, musste man einfach behalten. Wenn sie denn wollte. Seth hatte Angst, dass er Enila womöglich verlieren könnte, wenn er sie fragte. Erneut verlieren.
Die Wirkung des Alkohols war so ziemlich restlos verfolgen. Seth schob den Schlüssel in das Schloss, als plötzlich …
Eigentlich war da immer Wispern und Flüstern in seinem Kopf, die Stimmen seiner ständigen Begleiter, sogar, wenn Seth schlief.
Mit einem Mal waren sie verstummt. Seth lief ein Schauer über den Rücken … er spürte … Angst. Und eine neue Person, deren Bewusstsein an die Oberfläche drängte. Seths Finger zitterten, der Schlüssel fiel ihm aus den Händen und vor seinen Augen wurde es plötzlich schwarz.
Er merkte noch, wie er auf die Knie fiel, den plötzlich pochenden Kopf mit den Händen umfasste, während ein Wort in ihm widerhallte, ein Name, instinktiv gewählt … Exodus.
~*~
„Ey!“ – laut, aber unsauber ausgesprochen, als wäre die Zunge zu schlaff, um vernünftige Silben zu formen, jedoch mit einem herrischen Unterton gerufen.
Annika Riikka Paavola rückte ihre Brille mit den dicken Gläsern zurecht und schüttelte die Zeitung mit einer kurzen, definierten Bewegung, sodass sich der vorher heruntergeklappte Teil aufrichtete und eine Wand zwischen ihr und dem Besucher bildete.
Leider reichte das Zeitungspapier nicht als Schutz aus, denn stampfende Schritte näherten sich dem Empfangstisch und wenig später sah sie einen in einem dunkelgrünen Ärmel steckenden Ellbogen, der sich auf das helle Holz stützte – Kastanie, glaubte sie – und um den sich rasch eine kleine Pfütze Regenwasser bildete. Der Mann roch schwach nach Alkohol und stark nach ungewaschenem Mensch.
Annika legte die Zeitung beiseite und sah den dicken, ungepflegten Mann an, der ungeduldig seufzte.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich such ‘n Buch für meine Olle, was mit diesem Dingens Khan, so Romantik und son Scheiß, sie meint, da gäbs watt.“
Ana spürte, wie ihre Ohren sich kringelten und kriechend die Flucht antreten wollten. Vor ihr stand jemand, der Bibliotheken nicht sehr häufig von Innen sah.
„Sie können hier nur Bücher ausleihen, nicht kaufen“, informierte sie den Kunden.
„Das weisich doch, bin ja nicht blöde!“, schnaubte der Mann. „Denkste, ich will son Scheißding kaufen? Wenn meine Olle durch ist, muss ich den Schrott eh bei ebay einstellen, da kannichs auch gleich zurückbringen.“
Annika unterdrückte ein wehleidiges Wimmern und rückte ihre Brille erneut zurecht. „Darf ich richtig annehmen, dass Sie ein bestimmtes Buch suchen?“
„Watt?“
„Sie sagten, Ihre Frau hätte Ihnen von einem Buch erzählt, das sie gerne lesen würde.“
Der Mann lachte dreckig. „Das is meine Freundin, nich meine Frau! Will se zwar immer, aber nich mit mir. So weit komms noch!“
Riikka atmete tief durch. Geduld, sagte sie sich. Sie warf einen Blick auf das Kreuzworträtsel, an dem sie eigentlich gerade gearbeitet hatte.
‚Ungehobelter, ordin. Mensch mit fünf Buchstaben‘. P-R-O-L-L, füllte sie die Zeile aus.
„Die labert jetzt schon drei Wochen von dem dummen Buch“, knurrte ihr Gegenüber.
„Wissen Sie den Namen des Autors oder den Titel?“, fragte Annika.
„Hörense, Frau“, er warf einen Blick auf ihr Namensschild, „Pavolla:“
„Paavola“, verbesserte sie. „Finnisch, nicht Italienisch.“
„Ich hab besseres zu tun, als mir das ständige Gelaber anzuhörn“, fuhr der Mann unbeirrt fort. „Gebense mir das verdammte Buch endlich!“
„Ich weiß leider nicht, von welchem Buch Sie sprechen“, sagte Annika und sah dem Mann zum ersten Mal in die braunen Augen, mitten im aufgedunsenen, unrasierten, von fettigen Haaren umrahmten Gesicht. „Aber gehen Sie doch dort hinten in die dritte Reihe links und suchen Sie dort. Sicherlich erinnern Sie sich an den Titel, wenn Sie auf das Buch stoßen“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln und wies den Kunden damit in den Bereich für historische Romane.
Der Mann schnaubte genervt, konnte ihrer Argumentation aber auch nicht widersprechen. Mit einem gezischtem „Zicke!“ ging er los. Ehe Annika sich wieder über ihr Kreuzworträtsel beugte, sah sie den Mann mit offenem Mund auf die Regale starren, als würde ihm erst jetzt klar, dass es auf der Welt doch etwas mehr als nur zehn Bücher gab.
Es war abends und wurde bereits dunkel. Annika beendete das Kreuzworträtsel, schrieb das Lösungswort heraus und zog einen Briefumschlag aus einer Schublade des Schreibtisches. Sorgfältig schnitt sie das ausgefüllte Kreuzworträtsel aus, faltete es ordentlich und versah den Umschlag gewissenhaft mit der Adresse der Zeitung und ihrer eigenen Anschrift.
Ein Blick auf die Uhr. Es war Feierabend. Sie klebte eine Briefmarke auf den Umschlag. Ein letztes Mal sah sie sich um. Jeremy war heute nicht gekommen.
Jeremy Schneider, ein junger Doktorand der Biochemie, kam fast täglich. Annika war zuerst seine Hornbrille aufgefallen, und dann sein leichtes Lispeln. Sie lächelte ihn immer an, wenn er sich ein Fachbuch auslieh, aber ihm schien noch nicht aufgefallen zu sein, dass sie zu ihm besonders freundlich war.
Sie löschte das Licht in der Bibliothek und schloss ab. Dann machte sie sich auf den Weg zum nächsten Briefkasten, was nur ein leichter Umweg war. Dass der unfreundliche Kunde das Gebäude noch nicht verlassen hatte, war ihr nicht aufgefallen. Sie dachte erst wieder an ihn, als sie den Häuserblock, in dem sie seit ihrem zwölften Lebensjahr wohnte, fast erreicht hatte.
Ist er gegangen?, fragte sie sich. Ich habe ihn nicht gehen gesehen, dann wieder habe ich nicht darauf geachtet. Vielleicht ist er gegangen. Vielleicht ist er auch noch da. Dann findet ihn morgen die Kollegin, die die erste Schicht hat.
Im Treppenhaus wurde sie von Gekläff begrüßt.
„Komm, Töftileinchen, komm wacker bei Mama!“ – gesprochen mit zwitschernder Stimme, wie zu einem Kleinkind, und mit einem hörbaren Schnaufen in den Sprechpausen.
Auf dem nächsten Treppenabsatz stand Annika „Töfti“ und seinem Frauchen gegenüber, Amalie Surbier. Amalie wird wie immer von viel zu starkem Parfum umweht, das nur unzureichend ihren muffigen Eigengeruch überdeckt.
„Aaach, Annika, du hass doch die Tür zu?“
„Die Tür ist zu, Frau Surbier.“
„Amalie, bitte, das habbich doch schon gesacht gehabt!“, schnaubte die füllige Frau, neben deren Fuß der kleine Mischling noch kläffte. „Sonst fühlich mich noch so alt!“ Amalie lachte. „Hast du gleich noch Zeit, auf nen Likörchen vorbeizukommen?“
„Das tut mir leid, ich habe leider etwas vor“, sagte Annika. Steck dir deinen dummen Likör sonstwo hin!, dachte sie, aber sie sprach es nicht aus, denn sie war auf Amalie Surbier angewiesen, sonst hatte sie niemandem zum Blumengießen, wenn sie mal weg war.
„Dann noch viel Spaß!“ Amalie klopfte Annika auf die Schulter, wälzte sich an ihr vorbei und lachte nochmals. Laut und irgendwie verzweifelt. „Ich muss noch mittem Köter raus!“
Töfti kläffte bestätigend.
„Viel Spaß“, wünschte Annika und ging weiter nach oben.
In ihrer kleinen Wohnung angekommen löste sie ihren Dutt und die schwarzen Haare – gänzlich untypisch für ihr Heimatland – fielen ihr auf die Schultern. Sie zog ihre Pumps aus und ging direkt in die Küche, um sich etwas von dem Eintopf zu nehmen.
Heute war Donnerstag, und obwohl sie nicht mehr in Finnland wohnte, machte Annika jeden Donnerstag Erbensuppe. Sie nahm sich einen Teller und dazu ein Stück Roggenbrot und setzte sich an den kleinen Esstisch, der vor dem Fenster stand. Es gab nur einen Stuhl, auf dem sitzend man durch das Fenster auf den kleinen Balkon sehen konnte. Wie jeden Abend beobachtete Annika die Menschen auf der Straße, während das Licht der Straßenlaternen allmählich kräftiger zu werden schien – eine Illusion, da die Nacht immer dunkler wurde.
Nach dem Essen spülte sie, per Hand, wie immer, und setzte sich danach auf den Sessel im Wohnzimmer und legte eine CD mit klassischer Musik in den CD-Player.
Eigentlich mochte sie den Klang von Schallplatten lieber, doch die Schallplattenspieler haben eine Nadel, und Annika konnte Nadeln nicht einmal ansehen.
Also musste es die Musikanlage tun. Die klang auch gut, nur eben nicht perfekt.
Während die Musik lief, nahm Annika sich ein Buch. Russische Märchen. Auf Russisch. Damit hatte sie aber kein Problem.
Nach etwa einer halben Stunde klingelte das Telefon. Annika legte ein Lesezeichen in das Buch, und das Buch ordentlich auf den Beistelltisch, stand auf und strich ihren Blazer glatt, dann ging sie zum Telefon, ein altes Telefon mit Schnur, das im Flur an der Wand hing, und nahm ab.
„Hallo Mutter.“
„Hallo Annika.“
„Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut. Wie geht es dir?“
„Mir geht es auch gut.“
Annika erzählte ein wenig von ihrem Arbeitstag in der Bibliothek.
„Gehst du gleich noch zum Sport?“
„Ja, Mutter. Ich gehe gleich noch.“
„Das ist gut. Sport ist sehr gesund.“
„Ich weiß, Mutter.“
Annikas Mutter wurde in letzter Zeit etwas vergesslich. Sie wohnte alleine in Helsinki, seitdem sie nach dem Tod von Annikas Vater dorthin zurückgekehrt war. Da war Annika 17 und wohnte seit fünf Jahren in Deutschland. Sie hätte mit nach Finnland gehen können, aber dann wollte sie doch lieber die Schule beenden, und danach hatte sie den Job in der Bibliothek angenommen und war einfach geblieben. Sie hatte auch die Wohnung behalten. Jetzt schlief sie im ehemaligen Schlafzimmer ihrer Eltern und in ihrem alten Kinderzimmer standen Bücherregale und ein Heimtrainer.
„Ich habe Clarissas Marmelade heute leer gemacht“, berichtete die Mutter.
„Ich kann dir beim nächsten Mal ein neues Glas schicken.“
„Tu das bitte.“
„Das war die Kastanienmarmelade, nicht wahr?“
„Es war die Kastanienmarmelade.“
Dann berichtete die Mutter noch etwas von ihrem Tag. Dass sie einkaufen war, erwähnte sie zwei Mal, aber Annika Riikka tat so, als wäre ihr das nicht aufgefallen.
Eine weitere halbe Stunde war vergangen, als ihre Mutter unvermittelt sagte: „Es ist spät. Bis Morgen, Annika.“
„Bis Morgen, Mutter.“
Sie legte auf. Dann füllte sie die Gießkanne und wässerte die vielen Topfpflanzen in dem kleinen Zimmer. Dabei sprach sie mit den Pflanzen – zugegeben, mehr, als sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte.
„Na, hallo, meine Schönen! Comment ca va? Habt ihr Durst? It’s a beautiful day today …“
So ging es weiter in Altisländisch, Spanisch und Estnisch. Da die Pflanzen aus allen möglichen Ländern kamen, war es nur logisch, in allen Annika bekannten Sprachen zu ihnen zu sprechen. Ohnehin passierte es ihr immer wieder, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, dass ihr die seltsamsten Sprachen aus dem Mund rauschten wie Wildbäche. Annika hatte schon immer ein Talent zum Sprachenlernen, viel schwieriger war es da für sie, mit den Fremdsprachen auch wieder aufzuhören.
Nach dem Gießritual packte sie ihre Sporttasche und ging durch die dunklen und verregneten Straßen zum Dojo.
Der Kampfkunstverein, der hier seinen Sitz hatte, bot vielfältige Kurse für alle Altersklassen an. Donnerstag Abend traf die Gruppe ‚Selbstverteidigung 40+‘ ein. Während Annikas Kampfsportkollegen über Kinder, Haushalt und das Leben plauderzen, zog sie schweigend ihren Anzug an, dann den blauen Gürtel. Auch beim Training, selbst bei den Partnerübungen, sprach sie kaum ein Wort. Sie machte das Aufwärmtraining mit, die Bewegungsformen und die Übungen mit Partner, bei denen man sogar leichten Kontakt hatte. Sie hörte geduldig zu, während die Meisterin ihnen erzählte, wozu dieser und jener Tritt gut sei und dass man in einer echten Gefahrensituation vermutlich zu geschockt wäre, um das Wissen auch anzuwenden.
‚Vermutlich‘, dachte Annika.
Nach dem Sport kehrte sie nach Hause zurück und duschte. Als sie sich Bettfertig machte, wurde ihr Tagesablauf vom erneuten Klingeln eines Telefons gestört.
„Paavola“, sagte sie, nachdem sie abgenommen hatte.
„Riikka!“, flötete es am anderen Ende. „Du, ich versuch schon den ganzen Tag, dich zu erreichen, was treibst du denn?“
„Ich war arbeiten und dann beim Sport“, sagte Annika. Das wusste Clarissa, ihre beste Freundin, eigentlich auch sehr gut.
„Wie geht es dir, Schätzchen?“
„Mir geht es gut. Wie geht es dir?“
„Puuh, geht so, ich hab einfach viel zu viel zu tun! Ich mache gerade was neues, zum entschlacken. Detox, sag ich dir, musse unbedingt ma machen, buh, die freie Radikale, Mensch, die killen dich!“
„Ja“, sagte Annika.
„Und heute, die Schnepfe von nebenan, du weißt doch, die, die damals schon immer so geschimpft hat, wenn wie auf dem Schulweg über ihren Rasen …“
„Ich erinnere mich“, sagte Annika. Ihr war eben eingefallen, dass sie die Post noch nicht rein geholt hatte und das schleunigst nachholen sollte.
„Na, jedenfalls kam die heute an, so scheißenfreundlich, und will mir ihre überflüssigen Eier anbieten. Von wegen, sie hätte welche gekauft und der Mann auch und jetzt müssten sie sehen, wohin damit. Ich hab ihr natürlich erstmal nen Vogel gezeigt, ich meine: Hallo?! Ich unterstütze doch nicht die Legehennenfabriken!“
Es ging noch eine Weile so weiter.
„War echt nett, mit dir zu Plaudern! Wir sehen uns dann Samstag beim Frühstück, Riikka!“
„Ja.“
Clarissa legte auf. Annika atmete tief durch, zog sich einen Mantel über und ging nach unten zum Briefkasten, holte die Post rauf und setzte sich damit an den Küchentisch.
Sie blätterte durch die üblichen Rechnungen, als ihr ein Brief ins Auge fiel.
Das ‚Zeit‘-Gewinnspiel? Annika löste jede Woche das Kreuzworträtsel und schickte die Lösung ein. Diesmal hatte sie eine Antwort.
Mit einem Küchenmesser öffnete sie den Umschlag und holte ein zusammengefaltetes Blatt hervor. Ihre dunklen Augen weiteten sich. Dem Brief entnam sie, dass sie eine zweiwöchige Kreuzfahrt durch Italien gewonnen hatte.
~*~
Regen klatschte gegen die dichtgereihten Fenster, die eine von weißen Plastikrahmen durchbrochene Fensterfront bildeten, welche sich über die gesamte Länge der Halle zog. Das Licht, das hier einfiel, war grau und schwach, doch im Sommer war die sich nach Süden öffnende Fensterfront ein zuverlässiger Ersatz für die flackernden Neonröhren an der Decke, die umringt waren von dicken, silbernen Rohren und Stahlträgern.
Es gab keine weiteren Fenster. Die kurzen Seitenwände waren weiß und schlicht, hinten schloss sich der abgeteilte Bereich des Buffets an. Den Platz zwischen den Fenstern und den Kassen – die an die Ticketkontrollen an Flughäfen erinnerten – nahmen unzählige weiße Plastiktische ein.
Fast jeder der billigen, weißen Stühle war besetzt und das Stimmengewirr der Studenten glich dem Donnern eines Wasserfalls, nahezu ohrenbetäubend.
Eine Gruppe von vier Mädchen irrte mit beladenen Tabletten durch die wenigen Zwischenräume, die Stühle und Tische freiließen.
„Da drüben!“, sagte die Blondine, die sie anführte, und steuerte auch gleich auf ihr Ziel zu: Drei Tische waren hier zusammengeschoben worden, doch von den sechs Stühlen war nur einer besetzt. Dort saß ein dürres, blondes Geschöpf, das Gesicht von der Kapuze ihrer Jacke fast verborgen.
Die vier Mädchen hielten an und zögerten.
„Ähh, ist hier noch frei?“, fragte die Wortführerin, als nach einer Weile immer noch keine Reaktion kam.
Die Fremde hörte auf, in ihrem Essen zu stochern, hob den Blick und sah über die fünf leeren Stühle. „Kann nirgends ein Handtuch sehen.“
Dann erst besah sie die kleine Gruppe, die vor ihr stand. Drei der Mädchen sahen sich recht ähnlich, mit blonden oder hellbraunen Haaren, die glatt auf die Schultern fielen, einem Linksscheitel und dem typischen, zu einer Seite gekämmten Pony, der aussah, als müssten die drei eine Beule verdecken. Sie trugen Jeans und lockere T-Shirts mit so einfallsreichen Texten wie ‚Florida‘ oder ‚Smile and be perfect‘. Selbst die Handtaschen, die sie bei sich trugen, waren aus dem gleichen Kunststoff und von sehr ähnlicher Machart, in dunkelgrün, blaugrün und zartrosa.
Während die Handtaschenträgerinnen untereinander irritierte Blicke tauschten, stockte die Betrachtung der Kapuzenträgerin bei dem letzten Mädchen aus der Gruppe. Ihre ebenfalls blonden Haare waren kurz und standen nach allen Seiten ab, sie trug eine ein ärmelloses, weißes Top, unter dem man den schwarzen BH erahnen konnte, einen kurzen Lederrock und Strumpfhosen mit Laufmaschen, schwarze Stiefel mit Metallschnallen und einen abgewetzten Rucksack mit unzähligen Steckern – mit Bandlogos von Gruppen, die schon seit Jahren nicht mehr existierten, ‚Atomkraft, nein danke‘ und Totenköpfen.
Die Sitzende zog ihre Kapuze ab und grinste offen und freundlich. „Natürlich ist hier noch frei.“
Die Wortführerin der Gruppe hätte lieber einen Rückzieher gemacht und sich woanders hingesetzt als ausgerechnet an den Tisch mit der seltsamen, unfreundlichen Person, doch dazu war es jetzt zu spät.
„Danke“, sagte sie und setzte sich ans Ende des Tisches. Auf dieses Zeichen hin suchten alle vier sich einen Sitzplatz und Raum auf der Tischplatte für ihre Tabletts. Mit dumpfen Geräuschen wurden drei Kunststofftaschen und ein schwarzer Rucksack auf den Boden gestellt. Drei gepolsterte Jacken mit Kunstfell am Kragen und ein schwarzer Stoffmantel mit Dreiviertelärmeln und knielangem Saum landeten auf den Lehnen der vier Randstühle. Die Kurzhaarige landete auf dem mittleren Platz schräg gegenüber der Unbekannten, die sich immer noch nicht wieder ihrem Essen zugewandt hatte.
„Ich heiße Caprice“, sagte sie, kaum, dass die vier Hinzugekommenen saßen.
Die drei Handtaschenträgerin tauschten irritierte Blicke.
„Rin“, sagte die Kurzhaarige und reichte Caprice die Hand. „Eigentlich Katharina.“
„Es ist mir eine Ehre!“, sagte Caprice galant. Ihre blonden Haare waren ungekämmt und etwas kürzer als schulterlang. Sie trug keine Schminke, im Gegensatz zu den vier anderen.
Die drei anderen Mädchen stellten sich als Anna, Mareike und Virginia vor. Caprice hörte kaum zu, ihr Blick ruhte auf Rin.
„Die Asiapfanne“, bemerkte Caprice mit Blick auf Rins Teller. „Gute Wahl. Hätte ich auch genommen, aber ich mag keine Pilze.“
„Und das Schnitzel ist gut?“, fragte Rin.
Caprice verzog das Gesicht. „Ich kann es nicht empfehlen.“
Die drei anderen stocherten in ihren Salaten herum.
„Und was studiert ihr so?“
„Medizin.“ Das kam von Anna und Virginia.
„Linguistik.“ Mareike.
„Kunstgeschichte“, flüsterte Rin mit leiser Stimme. Sie war schüchtern, ein interessanter Gegensatz zu ihrem selbstbewussten Kleidungsstil.
„Eine hübsche Kette.“ Caprice deutete auf Rins Brust, wo eine kupferne Patrone an einem Lederband hing.
„Die ist nicht echt“, sagte Rin und umschloss das Schmuckstück instinktiv mit der Faust. „Das ist wegen meinem Lieblingsspiel, ‚Life is Strange‘ …“
Caprice nickte wissend. „Chloe Price?“
Rin nickte ebenfalls.
„Und was studierst du?“, mischte sich Anna ein, die es nicht mochte, aus dem Gespräch ausgeschlossen zu werden. Von Computerspielen hatte sie keine Ahnung.
Caprice zögerte. „Im Moment bin ich studentische Hilfskraft an der mathematischen Fakultät, aber eigentlich will ich hier einen Kurs in Kreativem Schreiben aufbauen.“
„Du willst Dozentin werden?“, fragte Virginia ungläubig. Caprice bemerkte, dass Virginia eine Brille trug. Das unauffällige Gestell fügte sich nahtlos in Virginias Gesicht ein, als wäre es immer ihre Bestimmung gewesen, eine Brille zu tragen.
„Gebt mir ein paar Jahre und dann fragt nach Professor Beauvillain!“, prahlte Caprice breit grinsend.
„Beauvillain? Du bist Französin?“, fragte Mareike, die Sprachwissenschaftsstudentin.
„Ähh, ja … si, si!“, sagte Caprice.
„Kreatives Schreiben!“, staunte Rin. „Weißt du, ich schreibe auch ein bisschen. So als Hobby.“
„Ehrlich?“ Caprice gab sich erstaunt, dabei hatte sie damit gerechnet. „Was ein Pech, dass der Kurs vermutlich erst startet, wenn du schon weg bist.“
Rin nickte ihrer Asiapfanne niedergeschlagen zu.
„Aber weißt du was?“ Caprice lehnte sich zurück. „Hast du deine Sachen dabei? Wenn du willst, kann ich mal drüber gucken und dir vielleicht Tipps geben. Umsonst. Ich muss ja irgendwie in der Übung bleiben, bevor die Mathematik meinen Geist vernichtet!“
Anna, Mareike und Virginia lachten pflichtschuldigst.
Rin zögerte, aber ihre Hand war wie von selbst zu ihrem Rucksack geglitten. „Ja, ich habe was dabei.“
„Ich würde es sehr gerne lesen“, sagte Caprice und griff unter ihr T-Shirt, um einen Stick an einer Silberkette zum Vorschein zu bringen.
Rin wich ihrem Blick aus. „Es ist aber nicht gut.“
„Das werde ich beurteilen“, sagte Caprice. „Wir können nach dem Essen in die Bib gehen, was sagst du?“
Rin zögerte noch immer.
„Komm, du hast nichts zu verlieren. Ich werde dir schon nicht den Kopf abreißen.“
Letztendlich nickte die Kurzhaarige und schob sich dabei eine Gabel voll Gemüse in den Mund, um nicht weiter sprechen zu müssen.
Caprice widmete sich ihrem Schnitzel und verschlang es mit großem Appetit, genauso wie die Kartoffelbeilage und die Portion Erbsen. Anna und Virginia nutzten das Gesprächsvakuum, um sich über die letzte Vorlesung auszutauschen, wodurch die Anwesenden ein paar unappetitliche Sachen über Abzesse zu hören bekamen – ein Risiko, das jeder eingeht, der mit Medizinern zusammen isst.
Die drei Handtaschenträgerinnen verkündeten, ihre Freundin Rin noch zur Bibliothek begleiten zu wollen. Unterwegs waren Anna und Virginia diejenigen, die laut sprachen, sich einen Regenschirm teilend. Caprice brachte Rin dazu, zögerlich von ihrer Geschichte zu berichten – „Es geht um ein Mädchen, das an ihrem sechzehnten Geburtstag herausfindet, dass sie ein Vampir ist …“ – trug selbst nicht einmal eine Kapuze und ließ das Wasser einfach auf ihr Haar prasseln.
Mareike war schweigsam und warf Caprice nachdenkliche bis misstrauische Blicke zu.
Sie erreichten ihr Zielgebäude.
„Wir warten draußen“, entschied Anna für ihre zwei Kopien und zündete sich eine Zigarette an.
„Jedenfalls gibt’s da diese zwei verfeindeten Clans von Vampiren“, erzählte Rin mit etwas mehr Selbstbewusstsein, als sie nur noch zu zwei waren. „Und das Mädchen lernt zwei Jungen kennen, einen aus jedem Clan.“
„Und dann muss sie sich zwischen den beiden entscheiden?“, fragte Caprice gedehnt.
„Nein, muss sie nicht“, sagte Rin und Caprice horchte auf. „Es ist bereits entschieden, dass sie den Jungen aus dem gegnerischen Clan heiratet und sie sind beide glücklich damit, weil sie sich lieben. Aber der andere Junge – der aus dem Clan des Mädchens – kommt damit nicht klar und wird eifersüchtig. Eigentlich soll die Hochzeit ja die Clans versöhnen, aber der Eifersüchtige will das nun sabotieren, um selbst das Mädchen zu bekommen.
„Huh, das ist interessant!“, staunte Caprice.
„Und der Rest nicht?“, stammelte Rin und blieb stehen.
„Nein, das habe ich so nicht gesagt!“ Caprice fasste Rins Schultern und sah ihr eindringlich in die Augen. „Aber Vampirgeschichten gibt es wie Sand am Meer, da brauch man schon einen Knüller wie diesen, um sich hervorzutun!“
Rin nickte, wenn auch noch nicht vollends überzeugt. Caprice dirigierte sie über den weichen, grauen Teppichboden zu einem der vielen, kleinen Räume, in denen die Studenten vor Lärm geschützt lernen konnten. Der Raum glich einer Streichholzschachtel, mit einem Tisch vor einem großen, nicht geputzten Fenster, zwei Stühlen davor und ansonsten nur Wänden und Tür.
Caprice schloss die Tür und Rin setzte sich, zog einen klobigen Laptop aus ihrem Rucksack und faltete danach die Hände im Schoß, während das Gerät hochfuhr.
Caprice warf ihre Jacke über die Lehne des freien Stuhls und setzte sich, ein Bein so überschlagen, dass der Fuß auf dem Oberschenkel des anderen Beins ruhte. Sie lehnte sich zurück und sah Rin an.
Die gab ihr Passwort ein, musste ein wenig warten, dann rief sie ein Dokument auf und saß dann mit hochgezogenen Schultern und ohne sich anzulehnen auf ihrem Platz.
Caprice schnappte sich den Laptop, zog das Dokument auf ihren Stick und scrollte dann durch den Text. Rin wartete auf eine Reaktion und knetete die Hände im Schoß.
„Das ist gut!“, rief Caprice schließlich aus und Rin atmete auf. „Das ist sehr gut.“
„Wirklich?“
„Dein Sprachstil ist sehr gut. Absolut kompetent. Das ist doch nicht das erste, was du schreibst, oder?“
„Die restlichen Sachen habe ich gelöscht. Und ich habe noch ein paar alte, dumme Gedichte …“, stotterte Rin.
Caprice las weiter und schüttelte ungläubig den Kopf. „Du solltest veröffentlichen.“
„Ich bin noch nicht fertig“, flüsterte Rin.
„Doch nicht gleich auf der Stelle, Dummchen!“ Caprice lachte und wurde dann ernst. Sie legte eine Hand auf Rins gefaltete Hände. „Du bist wirklich gut. Und du solltest wenigsten versuchen, professionell zu schreiben. Die Verlagssuche ist halt ein einziges Glückspiel, aber ich habe ein paar Kontakte. Ich würde dir sehr gerne dabei helfen – beim Lektorat, beim Planen, beim Veröffentlichen.“
Rin sagte nichts, sondern starrte Caprice nur mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung an. Sie entzog ihre Hände dem Griff nicht, ließ sogar zu, dass Caprice die ineinander verknoteten Finger löste und ihre eigenen Finger mit Rins verschränkte.
Ihre Gesichter kamen sich näher.
„Du hast ein unglaubliches Talent“, flüsterte Caprice. „Das sollte nicht ungesehen auf einem Laptop verstauben.“
Rin öffnete leicht den Mund und konnte immer noch nichts sagen. Im nächsten Moment lagen ihre Lippen aufeinander und … es fühlte sich gut an. Aufregend. Neu.
Kathrina hatte noch nie zuvor eine Frau geküsst, sich allerhöchstens mal einen Porno angesehen – doch die waren einfach nichts für neugierige Mädchen auf der Suche nach Zärtlichkeit – oder entsprechende Fanart im Internet gesucht. Nichts davon hatte sie auf das prickelnde Gefühl vorbereitet, auf den Geschmack von Caprice‘ Lippen, denen noch ein Hauch der scharfen Schnitzelsoße anhaftete, auf die warme Hand in ihrem Nacken, auf die Umarmung des anderen Armes, auf den Körper, der Rins Finger wie magnetisch zum Erkunden zwang. Der Regen spielte ein Lied auf der Fensterscheibe.
Sie schloss die Augen und verdrängte die Frage, ob das hier richtig war, wie es hatte passieren können, ob es wirklich geschah …
Sanft löste sich Caprice von ihr und legte ihre Stirnen aneinander. Die Hände umschlossen nun Rins Gesicht und Caprice sah ihr in die Augen.
Sie hatte grüne Augen, die Funken zu sprühen schienen.
„Wir sollten gehen. Deine Freundinnen warten.“
„Ich …“ Das war nicht das, was Rin hatte hören wollen. Doch sie fuhr den Rechner hinunter und merkte, dass ihre Ohren immer heißer wurden. Sie hatte sich kindisch benommen, war es nicht so? Hatte sie dem Kuss überhaupt zugestimmt? Im Nachhinein kam Caprice‘ Verhalten ihr übergriffig vor, dreist, verletzend. Sie packte den Rechner ein und wollte hinaus stürmen, als Caprice ihre Hand ergriff.
Erneut verschränkten sie die Finger. Rin war sofort besänftigt. Eigentlich, dachte sie, war es ja nicht schlecht. Nein, überhaupt nicht schlecht.
„Meine Nummer.“ Caprice reichte ihr einen Kassenzettel mit einigen eilig hingekritzelten Zahlen, den Rin glattstrich, zusammenfaltete und dann in ihre Hosentasche streckte. Caprice lächelte.
Der Weg nach draußen war aufregend. Jeder konnte sehen, dass sie Händchen hielten – zwei Frauen! Rin wagte es kaum, zu atmen. Und sie fühlte sich, als würde sie über Trampolinboden laufen, federleicht und schwankend. Caprice dagegen ging, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, als gäbe es nichts besonderes zu sehen. Wenn Rin ihr ein aufgeregtes Lächeln schenkte, war Caprice‘ Lächeln schwach, ein wenig spöttisch und von oben herab, aber warm. Als würde sie sagen: „Siehst du? Es gibt nichts, wovor man Angst haben müsste.“
Anna, Mareike und Virginia warteten noch, vor dem Regen vom Vordach der Bibliothek geschützt. Als sie die beiden Frauen kommen sahen, warfen sie Rin verdutzte Blicke zu. Nein, sie waren sogar eher empört … Rin war etwas schwindelig. Ihre Knie wurden weich.
Caprice ließ ihre Hand los, legte den Arm um Rins Schulter und drückte sie kurz ermutigend, ehe sie beide nach draußen traten.
Der Regen war noch einmal heftiger geworden, von dem Vordach flossen kleine Bäche.
Die Blicke der drei anderen blieben düster. Doch sie klebten nur an Caprice, Rin beachteten sie überhaupt nicht
„Du, Caprice?“, begann Mareike. In der Hand hielt sie ein paar Blätter Papier, offenbar die Ausdrucke irgendeines Textes. „Bei welchem Dozenten bist du eigentlich Aushilfe?“
„Och, bei Professor Layton“, sagte Caprice. „Wieso fragt ihr?“
Anna tippte mit den langen Fingernägeln gekonnt auf ihrem Handydisply herum. „In der mathematischen Fakultät, richtig? Ich finde überhaupt keinen Layton.“
Caprice zuckte nur unmerklich zusammen. „Er ist auch erst dieses Semester hier eingestellt worden, vielleicht ist er noch nicht im System.“
„Sicher?“, fragte Mareike jetzt und reichte Rin den Text, den sie in der Hand hielt.
Rin las die Überschrift: ‚Accessing interlexical homographs: Some limitations of a language-selective access‘ Verwirrt sah sie Mareike an, dann Caprice.
„Dein Name kam mir jedenfalls irgendwie bekannt vor“, fuhr Mareike mit einem spöttischen Unterton fort. Virginia bemerkte Rins fragenden Blick und tippte auf etwas auf dem Text – auf die Namen der Verfasser.
Rin las. „Cécile Beauvillain und Jonathan Grainger.“
Dann starrte sie Caprice an, die inzwischen verstummt war. „Was … meinen sie?“
„Sie ist eine Hochstaplerin!“, rief Anna aus. „Es gibt überhaupt keine studentische Assistenz namens Caprice, weder an der Mathematischen noch woanders an der Uni. Es gibt sie auch nicht bei Facebook oder sonstwo!“
Caprice schwieg zu den Vorwürfen. Rin starrte sie an und griff nach ihrer Hand. „Das … das ist nur ein Zufall mit dem Namen, oder? Es gibt eine ganz einfache Erklärung, ja?“ Dabei wusste sie ganz genau, dass Anna gute Kontakte zum Sekretariat unterhielt und sich vermutlich dort nach Caprice erkundigt hatte.
Caprice drückte ihre Hand, aber sie antwortete zuerst Anna und den beiden anderen aufgebrachten Mädchen. Lässig legte sie den Kopf schief. „Ihr habt ja doch was anderes im Kopf als Kerle und Schminke. Gratuliere. So schnell hätte ich nicht damit gerechnet.“
Rin sah vom einem zum anderen. Das konnte doch alles nicht wahr sein …
Caprice berührte ihr Gesicht und küsste sie. „Lebewohl, Rin!“
Dann wandte sie sich zum Gehen.
„Hey!“, rief Anna und stürmte Caprice nach. „Du glaubst doch wohl nicht, dass du so einfach davonkommst!“
Caprice rannte los.
„Bleib sofort stehen!“, brüllte Anna und rannte hinterher, ebenso Mareike. Rin starrte den dreien hinterher, während alles in sich zusammenfiel.
„Ich rufe jetzt die Polizei!“, verkündete Virginia und wählte. „Das ist bestimmt eine Trickbetrügerin.“
Rins Hand glitt zur Jackentasche und sie holte ihr Portemonnaie heraus, doch das Geld war noch da. Virginia telefonierte. Rin tastete nach der Nummer, die Caprice ihr gegeben hatte. Dann suchte sie instinktiv Halt an ihrer geliebten Halskette.
Sie erstarrte. Die Kette mit der kleinen Kupferpatrone war weg!
~*~
Schnaufend schleppte Ruben sich die Treppen hinauf. Die Einkäufe schienen mit jeder Stufe schwerer zu werden, als würde jeder Schritt in Richtung der kleinen Wohnung im zweiten Stock die Schwerkraft für die beiden Taschen erhöhen.
Als er endlich vor der Tür stand, war ihm leicht schwindelig. Er setzte die Taschen ab, klingelte an der Haustür und stemmte mit pfeifendem Atem die Arme in die Hüften. Seine kräftige Brust hob und senkte sich, der Bauch schmerzte.
Es dauerte ungewöhnlich lange, bis die Tür geöffnet wurde. Heraus sah sein Sohn Jonas.
„Wo ist denn eure Mutter?“, fragte Ruben verdutzt.
„Nebenan. Füttert die Katze von Sieglinde.“ Jonas öffnete die Tür und kehrte in sein Zimmer zurück. Es schloss sich ebenfalls die Tür zu Hannahs Zimmer, nachdem das Mädchen vermutlich nachgesehen hatte, wer für das Klingeln verantwortlich war.
Ruben ging in die kleine Küche und räumte die Einkäufe ein, hauptsächlich frisches Obst und Gemüse. Eine Tüte Haribo Lakritzschnecken versteckte er im Regal hinter einigen Bibeln.
Er war gerade fertig, als ein Schlüssel im Schloss umgedreht und die Tür geöffnet wurde.
„Guten Tag, Schatz!“, sagte Ruben.
„Oh, du bist schon zurück!“, sagte Ester und strich sich erschöpft eine der kinnlangen, kastanienbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Und du hast das Mittagessen schon fertig!“, konterte Ruben mit einem Grinsen zu dem Topf, der auf dem Herd köchelte.
Ester musste ebenfalls grinsen. „Du bist doch später noch unterwegs, da solltest du was im Magen haben!“
„Eine gute Idee.“
„Deckst du bitte den Tisch?“
Ruben unterdrückte ein Murren und verteilte Teller, Besteck und Gläser, während Ester noch ein paar Mal durch die Kartoffelsuppe rührte und den Topf dann auf den Tisch stellte.
„Jonas, Hannah – Essen!“, rief sie.
Beide Kinder kamen aus ihren Zimmern und setzten sich an den Tisch. Gesprochen wurde kaum ein Wort, jedenfalls nicht zwischen Eltern und Kindern. Hannah zeigte ihrem Bruder irgendwas auf ihrem Handy, was Ruben und Ester mit Kopfschütteln missbilligten.
„Du solltest noch ein Hemd drunter ziehen, es ist recht frisch“, riet Ester Ruben. Der warf einen Blick aus dem Fenster und nickte. „Ich habe beim Einkaufen schon gefroren. Jonas, reichst du mir bitte die Butter?“
Der Junge stöhnte und reichte ihm das Gewünschte. „Hier, bitte!“, schnaubte der Teenager mit einem spöttischen Unterton.
Ruben verengte leicht die Augen. „Danke.“
Das Klappern von Metall auf Porzellan füllte die entstehende Stille. Hannah tippte schon wieder auf dem Display herum. Aber für sie und Jonas war es ohnehin zu spät. Beide hatten sich von der Wahrheit abgewandt und lebten nur noch hier, bis sie volljährig sein würden, was für Jonas drei, für Hannah vier Jahre waren.
Kaum waren die ihre Teller leer, waren beide Kinder auch schon wieder in ihren Zimmern abgetaucht. Ruben atmete erleichtert auf und lehnte sich leicht zurück.
Ester warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Dabei musste es ihr mit dieser Situation noch schlechter gehen. Als jemand, der sein Leben lang nichts anderes gekannt hatte, zusehen zu müssen, wie die eigenen Kinder an den Teufel fielen … aber sie und Ruben hatten wirklich alles versucht, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als den Nachwuchs aufzugeben.
„Wie war die Arbeit?“, fragte Ester.
„Ganz in Ordnung“, sagte Ruben. „Es war wenig zu tun, also habe ich Torben ein bisschen herumgeführt.“
„Immer noch kein Erfolg?“, fragte Ester.
„Er hört mir wenigstens zu, das ist ein Erfolg, aber meist lacht er“, gestand Ruben.
„Du weißt, dass unsere Arbeit nicht leicht ist, trotzdem …“
„… trotzdem versuchen wir, so viele Seelen wie möglich zu retten.“ Ruben nickte und schob den leeren Teller von sich. „Ich werde dann mal gehen, sonst lasse ich Daniel warten.“
Ester nickte und begann mit dem Spülen, während Ruben das verschwitzte Oberteil gegen ein sauberes, weißes Hemd eintauschte. In seiner Freizeit oder auf der Arbeit trug er meist ein einfarbiges T-Shirt und Jeans, aber wenn er missionieren ging, sollte er einen ordentlichen Eindruck machen, das hatten die Ältesten empfohlen und er würde sich daran halten.
Zum Abschied gab er seiner Frau einen Kuss auf die Wange, nahm die Tasche mit den Handzetteln und einen ‚Wachturm‘ und machte sich auf den Weg.
Daniel wartete wie jedes Mal an der Ecke vor einem Supermarkt, ebenfalls adrett gekleidet. Der Blonde lächelte, als er seinen kräftiger gebauten Freund nahen sah.
Beide Männer begrüßten sich mit „Hallo!“, dann besprachen sie kurz die Route, die sie heute gehen würden, und zogen ohne Umschweife los.
„Wie geht es dir und deiner Frau?“, fragte Daniel.
„Ganz gut.“ Ruben seufzte. „Die Kinder hängen dagegen nur noch an diesen Mobiltelefonen.“
Daniel klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast getan, was du konntest. Leider ist der Teufel manchmal stärker als wir Sterbliche.“
„Ich weiß“, sagte Ruben. „Ich mache mir nur Sorgen. Sie sitzen mit den Dingern sogar am Esstisch, es ist einfach … widernatürlich.“
Er war froh, dass er Daniel gegenüber so offen sein konnte. Deutlich offener als zu seiner Frau, was nicht nur daran lag, dass Ruben und Daniel nur ein Jahr trennte – statt zehn Jahre. Daniel wusste so gut wie alles über Ruben, er wusste sogar von den verbotenen Lakritzen und dass Ruben gelegentlich der Versuchung einer Blutwurst erlag. Nur von der größten Versuchung, in die der Teufel Ruben ständig führte, wusste Daniel nichts, doch davon abgesehen konnte Ruben seinem Freund blind vertrauen. Daniel war niemand, der zuhörte und später zu den Ältesten lief und petzte.
„Rahel war letztens wieder bei uns“, berichtete er Daniel weiter.
„Wieder wegen ihres Mannes?“, fragte Daniel.
Ruben nickte. „Sie ist diesmal eine Woche geblieben, und es waren immer noch nicht alle Flecken verheilt, als sie ging.“
„Arme Frau“, sagte Daniel.
„Aber sehr stark“, meinte Ruben. „Sie erträgt ihn in ruhigem Vertrauen, sie will auf keinen Fall ausgestoßen werden.“
Daniel nickte ernst.
Sie hatten die erste Haustür erreicht und klingelten. Seite an Seite, die Hefte vor der Brust, stellten sie sich hin und warteten. Nichts geschah. Nach einer Weile klingelte Daniel noch mal.
„Niemand da“, entschied Ruben nach einem prüfenden Blick durch den Türspion, der auf der anderen Seite nur Dunkelheit erkennen ließ. Sie gingen zur nächsten Tür, stellten sich auf und klingelten wieder.
Diesmal öffnete eine junge Frau, vielleicht Anfang dreißig, sicherlich etwas jünger als Ester. Sie hatte dünne, dunkelbraune Haare, die ihren Kopf in wirren Locken umgaben, hängende Mundwinkel und ein fliehendes Kinn.
„Guten Tag, haben Sie vielleicht einen Moment Zeit, um mit uns über Gott, unseren Herrn, zu sprechen?“, fragte Daniel höflich.
Die Frau starrte sie einen Moment an, musterte jeden von ihnen von oben nach unten, dann schnaubte sie: „Die verdammten Zeugen Jehovas? Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich habe gerade genug Probleme am Hals!“
„In dieser Stunde der Not will Gott Ihnen die Hand reichen, um Sie ins Licht zu führen“, setzte Ruben an, worauf die Frau ihm gegenüber hysterisch auflachte.
„Dann kann Gott gerne in meinem Wohnzimmer erscheinen und den beschissenen Haushalt machen oder die vollen Windeln wechseln! Und ihr, verpisst euch!“
Sie schlug die Tür zu.
Ruben ließ sein professionelles Grinsen verblassen und schüttelte den Kopf. „Die arme Frau wird niemals in das ewige Reich einziehen dürfen!“
„Mach dir nichts daraus.“ Daniel zog ihn weiter.
„‚Soll Gott doch meinen Haushalt machen und mir am besten noch die Füße massieren!‘“, äffte Ruben die Frau leise nach.
Daniel schmunzelte. „Jähzorn ist auch eine Sünde, mein Freund!“
Ruben seufzte. „Du hast ja recht.“
An der nächsten Tür öffnete ihnen ein vielleicht zwanzigjähriger Mann mit längeren Haaren und strahlend blauen Augen, dem womöglich eine steile Karriere als Model bevorstand.
„Hört mal“, wehrte er höflich ab, nachdem er sie ausreden gelassen hatte, „ich habe bereits einen Glauben und bin nicht daran interessiert, ihn zu wechseln.“
Als sie nicht locker ließen, nahm er zuerst zögerlich einen Handzettel an.
„Denken Sie noch einmal darüber nach“, beschwor Daniel den Jüngeren. „Bereuen Sie Ihre Sünden!“
„Ja, klar“, meinte der junge Mann, nun etwas weniger höflich, und schloss die Tür.
„Er hätte es verdient, gerettet zu werden“, murmelte Ruben.
„Wenn er nicht bereit ist, die ausgestreckte Hand zu ergreifen, muss er wie alle Sünder in der Hölle brennen“, erwiderte Daniel kompromisslos.
Die nächste Wohnung war scheinbar verlassen, obwohl Ruben sich sicher war, gesehen zu haben, wie kurz vor ihrem Klingeln eilig das Licht gelöscht wurde. Er drängte Daniel dazu, es mehrfach zu versuchen, doch nach dem fünften Klingeln gaben sie auf. Es folgten unzählige Türen, an denen sie als Fanatiker beschimpft und mehr oder weniger höflich abgewiesen wurden. Langsam wurde Ruben frustriert und er bekam Hunger. Mit einem Griff zog er die Tüte Lakritzschnecken hervor.
„Willst du auch?“, bot er Daniel an.
„Nein.“ Ruben konnte sich auch nicht vorstellen, dass Daniel die Regeln brechen würde, nicht einmal für etwas so köstliches wie Lakritz.
Er nahm drei Schnecken, steckte sie sich in den Mund und kaute genüsslich, während er die restliche Tüte wieder wegsteckte. Er dauerte nicht lange, bis sich das schlechte Gewissen aufdrängte. Und der Wunsch, noch eine vierte Schnecke zu essen. Doch sie hatten die nächste Tür erreicht. Ruben hielt den ‚Wachturm‘ vor seinen zugegeben sehr ausgeprägten Bauch und lächelte, genau wie Daniel.
Diesmal öffnete ihnen ein Kahlkopf, etwas kleiner und etwas breiter als Ruben, die Arme mit Tattoos übersäht, was man gut sehen konnte, da der Mann nur ein fleckiges Unterhemd trug.
Ruben und Daniel blinzelten ihn an.
„Was wollt’n ihr?“, grunzte der Mann. Der Mund befand sich unter einem weißen Schnauzbart, der aussah, als bestünde er aus Draht statt Haaren. Die Augen hatten ausgeprägte Tränensäcke.
„Entschuldigen Sie“, sagte Daniel, der offenbar seine Stimme wiedergefunden hatte. „Wir kommen mit einer wichtigen Botschaft: Das Ende naht.“
Der kahlköpfige Mann starrte die ‚Wachturm‘-Heftchen böse an und stöhnte. „Son Bullshit. Alles, was hier naht, ist die zweite Halbzeit, und die will ich nicht wegen euresgleichen verpassen!“
Er wollte die Tür zuschlagen, war aber nicht schnell genug.
„Wollen Sie Ihre Seele der ewigen Verdammnis überantworten?“, fragte Daniel eindringlich. „Von den irdischen Freuden werden Sie nach dem jüngsten Gericht nicht mehr viel haben!“
Ruben setzte noch einmal nach. „Wollen Sie, wenn Sie in der Hölle unvorstellbare Qualen erleiden, sich daran erinnern, diese Chance leichtfertig in den Wind geschlagen zu haben?“
Der Mann vor ihnen stöhnte lauter und eine ausgeprägte Bierfahne wehte den beiden Freunden entgegen. „Und wann kommt sie denn, eure Apokalypse, häh? Es wird doch jedes Jahr das Scheißende dieser Scheißwelt vorhergesagt, so gesehen sind wir alle schon längst tot und ihr Spinner seid die Teufel, gekommen, um mich zu foltern!“
Ruben erschauderte. Das waren Worte, die nur der Teufel diesem Mann in den Mund gelegt haben konnte, um die Wahrheit zu verdrehen, bis sie unkenntlich geworden war. Hatten sie überhaupt eine Chance, diesen Sterblichen zu retten oder vor dem nahenden Unheil zu warnen? Doch es war ihre Pflicht, es wenigstens zu versuchen.
„Das Ende kommt!“, beharrte Ruben, wie er es gelernt hatte. „Und es ist nah. Wie es in der Bibel steht, Offenbarung 6, 12 bis 15: ‚Und ich sah: Das Lamm öffnete das sechste Siegel. Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt, und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt. Und die Könige der Erde, die Großen und die Heerführer, die Reichen und die Mächtigen, alle Sklaven und alle Freien verbargen sich in den Höhlen und Felsen der Berge.‘ Nur diejenigen, die reinen Herzens und Glaubens sind, die dürfen in das Himmelsreich einziehen!“
Der Mann blinzelte Ruben an. War er beeindruckt? Verängstigt? Ruben konnte es nicht direkt sagen, aber Hoffnung flammte in ihm auf.
„Jeder irdische Besitz wird nichtig, wenn das Ende erst einmal hereinbricht. Die sündige Erde ist es nicht wert, dafür die eigene, unsterbliche Seele zu verdammen! Wenn alles, was du jetzt liebst, weg ist – was bleibt dir dann noch? Nur der Glaube kann überdauern.“
Bitte, dachte Ruben, bitte lass mich nur einem einzigen Menschen heute helfen können, lass mich nur eine einzige Seele retten, bitte lass mich –
„Spinner!“, schnaubte der Kahlkopf. „Mir doch scheißegal, ob die Welt morgen untergeht!“
Er knallte die Tür ins Schloss, sodass das Echo noch eine Weile im Hausflur nachhallte, in dem sie standen.
Ruben sackte in sich zusammen. „Ich war mir so sicher, dass er dabei war, die Augen zu öffnen!“
Daniel drückte stumm seine Schulter.
Ruben steckte den ‚Wachturm‘ ein. „Lass und Schluss machen.“ Immerhin war inzwischen die Sonne untergegangen.
„In Ordnung“, stimmte Daniel zu. Und wenig später, als sich auf der Straße ihre Wege trennten, fügte er hinzu: „Wir sehen uns morgen auf der Versammlung.“
„Ja, bis morgen!“, sagte Ruben und winkte, ehe er alleine und erschöpft in Richtung Zuhause schlurfte.
Sein Weg führte ihn auch durch die Einkaufsstraße. Als er die Auslage einer Metzgerei bemerkte, verlangsamte er seine Schritte und sah die Straße hinauf und hinunter. Blutwurst, Biergeruch aus den Kneipen und die Verführungen der weltlichen Welt stürzten auf ihn ein.
~*~
Hallo und willkommen zum Ende der Welt!
Ganz wichtig: Wenn eine deiner Figuren hier aufgetreten ist und dir irgendwas an der Figur oder ihrem Umfeld nicht gefällt, sag mir bitte direkt Bescheid. Ich muss die Figuren erst noch „kennen lernen“, also kann es sein, dass ich da Fehler mache. Diese würde ich gerne möglichst schnell ausbügeln, ehe diese sich noch festsetzen. Halte dich da nicht zurück, und wenn ich den kompletten Abschnitt neu schreiben muss. (In diesem Fall wird es am Anfang des nächsten Kapitels eine Anmerkung mit einer Zusammenfassung der Änderungen geben, damit niemand doppelt lesen muss.)
Ich habe jetzt darauf verzichtet, bei jedem Absatz kenntlich zu machen, um welche Figur es geht (teilweise auch, um nicht zu spoilern). Hoffentlich war das trotzdem noch übersichtlich und gut zu lesen. Ich würde das gerne beibehalten, genauso wie die unterschiedlichen Abschnittlängen. Ich will einen Text nicht künstlich strecken müssen, wenn eigentlich nichts passiert, werde mich aber bemühen, alle Hauptfiguren halbwegs gerecht zu behandeln, sodass niemand untergeht. Innerhalb eines einzelnen Kapitels kann es da aber zu Schwankungen kommen.
Im nächsten Kapitel wird der Weltuntergang dann losgehen. Das Ergebnis der Umfrage werde ich noch nicht veröffentlichen (da auch noch nicht alles feststeht), aber ein paar Sachen kann ich schon einmal verraten:
- Es wird keine Zombieapokalypse. Ich habe nur Stimmen dagegen und niemanden, der sich das wünscht.
- Es wird eher eine „reale“ Apokalypse mit einem Zusammenspiel mehrerer Katastrophen – und einem winzigen bisschen Fantasy/SciFi.
- Und es wird eine Apokalypse, die sich langsam und schleichend aufbaut. Ich hoffe, du hast ein bisschen Geduld eingepackt.
Die Entscheidungsfragen zu den Charakteren werden im Laufe dieser Woche eintrudeln. Versuch bitte, zeitig zu antworten, denn ansonsten werden Lebenspunkte abgezogen!
Ja, richtig gelesen! Ich gehe mit dieser Geschichte ein kleines bisschen in Richtung RPG. Jeder Charakter hat eine individuelle Anzahl Lebenspunkte zugewiesen bekommen (abhängig davon, ob es Haupt- oder Nebenfigur ist, sowie von den mitgebrachten Fähigkeiten, die dem Charakter das Überleben erschweren oder vereinfachen werden). Deine Entscheidungen und hin und wieder auch das von mir ausgewürfelte SCHICKSAL entscheiden, ob dein Charakter Lebenspunkte gewinnt oder verliert. (Zum Schicksal: Durchsucht dein Charakter beispielsweise ein leerstehendes Haus, kann er entweder nützliche Dinge wie Essen oder Medizin finden, gar nichts oder gar einen tollwütigen Hund!)
Im Moment ist die Anmeldung übrigens noch offen. Besonders Nebenfiguren hätte ich noch gerne, und ein, zwei Hauptfiguren finden vielleicht auch noch Platz (eine der Hauptfigur habt ihr übrigens auch noch nicht kennengelernt, die kommt erst im nächsten Kapitel!). Und keine Sorge, das wird keine Textlängenapokalypse, denn die einzelnen Abschnitte pro Person werden sicherlich etwas kürzer, sobald die Charaktere aus ihrem normalen Umfeld heraus sind und die Geschichte sich mehr auf die Entscheidungen fokussiert. Heute gab es erst einmal den Einstieg, der möglichst viele Aspekte von jeder Person darstellen sollte.
Das war’s dann von mir. Ich hoffe, dass dir dieses erste Kapitel gefallen hat. Vielen Dank für’s Lesen!
dein Grauwolf
~*~
Nebenfiguren-Adoption:
Für den Fall, dass dir eine der Nebenfiguren gefällt, möchte ich dir anbieten, diese zu übernehmen. (Mitspieler können beliebig viele Nebenfiguren übernehmen und/oder selbst erstellen, also verringert das nicht deine Chancen, eine Hauptfigur erstellen zu dürfen.)
Die „Regeln“ bei Nebenfiguren besagen, dass du alle Eigenschaften übernehmen musst, die im Text bereits erwähnt oder dargestellt werden. Du darfst aber natürlich für diese Figuren Entscheidungen treffen und auch beliebig viele zusätzliche Sachen erfinden.
Vorgeschlagene Figuren sind:
Rin – Katharina, Hobby-Autorin, frisch und unglücklich verliebt (Deutsche)
… weitere Figuren nach Absprache und unter Vorbehalt, da viele den Mitspielern gehören.
Quellen:
Zum „Master of Desaster“-Studiengang: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/katastrophenhilfe-studieren-master-of-disaster-a-706292.html
https://finland.fi/de/leben-amp-gesellschaft/donnerstags-gibts-in-finnland-erbsensuppe/
https://de.wikipedia.org/wiki/Zeugen_Jehovas
~*~
Hallo, kleine Mücke!
Du bist ja noch da. Ein mutiger Schritt, dich dem Lied des Todes und dem Tanz der Regentropfen auszusetzen. Nein, wirklich – ich bewundere dich.
Da wir diese Reise nun gemeinsam wagen werden, wird es Zeit, dass wir uns einander vorstellen!
Mir wurde die Bezeichnung ‚Wolf‘ verliehen, das kommt einem Namen noch am nächsten. Und du … dich werde ich ‚Mücke‘ nennen. Jetzt schau nicht so geknickt, es ist doch eine sehr zutreffende Bezeichnung! Und es passt doch: Der Wolf und die kleine Mücke, die sich dem bittersten Sturm stellen, den die Menschheit jemals erleben muss – denn nach ihm wird es vermutlich keine Menschen mehr geben.
Hörst du schon, wie es beginnt? Dieses Geräusch, das klingt wie das leise Tapsen weicher Pfoten? Es sind die sanften Melodien zaghaft fallender Regentropfen, die ersten Vorboten des Monsuns.
Die Welt hält den Atem an und erzittert. Und nun beginnt es … langsam, fast unmerklich. Wie ein Flüstern, das sich verbreitet, bis es aus tausend Kehlen erklingend zum Brüllen eines Orkans anschwillt. Wie das fast unhörbare Tappen von Fingernagel auf Fingernagel im Kolosseum im alten Rom, wenn das Publikum mit der Vorstellung absolut nicht zufrieden war. Ein Geräusch, das noch heute, Generationen später, jedem Krieger einen Schauer über den Rücken laufen lässt, bedeutet es doch, dass Blut fließen muss … ein Geräusch, das sich tief in das genetische Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat, genau wie die Angst vor Spinnen.
Spürst du es? Keine Angst, keine Panik, sondern stummes Grauen, ein Entsetzen, das die Welt erbeben lässt. Halte dieses Gefühl fest. Es schärft deine Sinne, weckt uralte Instinkte und vergrößert deine so geringen Chancen, zu überleben. Du magst es für Magie halten, doch es fast verlorene Reflexe eines jeden Wesens.
Ganz genau, kleine Mücke: Es ist soweit.