„Letzte Worte? Die spinnen doch!“, rief Thomas.
Simon starrte wie betäubt auf den Bildschirm. Für einen Moment fühlte er sich schwindelig.
„Das können die nicht machen! Das werden sie nicht machen! Oder?“
Simon schluckte. „Doch.“
Thomas sank neben ihm auf den Boden. „Nein. Ich … ich will nicht sterben.“
Simon fühlte sich leer. Er konnte nur hoffen, dass es das wert war.
Vielleicht wären das gute letzte Worte. Er schrieb es ins Textfeld: ‚Ich hoffe, ihr könnt die Welt retten.‘ Es war ein tröstliches Gefühl, wenn sein Tod wenigstens einen Sinn hatte.
Er sah zu Thomas, der an der Wand des Flurs saß und auf seine Schuhe starrte. Inzwischen stand ihnen beiden der Schweiß auf der Stirn. Schwerfällig erhob sich Simon und trat zu dem Moderator. Er ließ sich neben ihn sinken.
„Sie haben zu viel damit zu tun, die Welt zu retten. Und mal ehrlich: Die Welt ist wichtiger als wir beide.“
Thomas seufzte und nickte. „Ja. Das stimmt wohl.“ Er klang resigniert. „Und jetzt müssen wir hier auf den Tod warten?“
„Wir können uns auch Geschichten erzählen“, schlug Simon vor.
Thomas starrte ihn an. „Geschichten?“
Simon nickte. „Ich habe mal ein Eichhörnchen gerettet.“ Er grinste.
Thomas sah ihn auffordernd an. „Wann war das?“ Da schimmerte wieder ein Stück des sympathischen Moderators durch, den Simon kennengelernt hatte.
„Da war ich noch ganz klein. Ich glaube, sieben oder so. Eine Katze hatte es in unserem Hinterhof in die Ecke gedrängt. Das Eichhörnchen hatte das Fell gesträubt und biss nach der Katze, aber die war größer. Ein erfahrener Straßenkater. Er hat nur auf einen günstigen Moment zum Zupacken gewartet.“
„Das arme Eichhörnchen“, murmelte Thomas.
„Als ich das gesehen habe, hab ich mir den Besen geschnappt und bin rausgerannt“, erklärte Simon. Das Atmen fiel ihm schwer und er lachte keuchend. „Ich hatte ebenso viel Angst vor der Katze wie das Hörnchen. Trotzdem habe ich mit dem Besen nach ihm geschlagen. Nicht direkt so, dass ich ihn getroffen hätte. Aber der Kater hat sowieso sofort das Weite gesucht. Und dann kam das beste: Das Eichhörnchen ist nicht direkt geflohen. Einen Moment saß es da und starrte mich an, so richtig ungläubig. Als könnte es nicht fassen, dass ein fremdes Tier ihm zu Hilfe gekommen wäre.“ Simon seufzte lächelnd. „Ich glaube, das war der Moment, in dem ich beschlossen habe, dass ich anderen helfen möchte. Etwas Gutes tun. Einfach nur, weil ich es kann und weil es richtig ist.“
Er war fertig, doch er bekam keine Antwort. Als er zur Seite sah, war Thomas in sich zusammengesackt. Simons eigene Sicht wurde immer düsterer.
Er lehnte den Kopf an die Wand. „Ja“, murmelte er. „Ich wollte immer nur helfen.“
~*~
Nachdenklich betrachteten sie die beiden Leichen im Wasser. Es war kein schöner Anblick. Immerhin hatte es knapp eine Woche gedauert, bis sie ein Flugzeug ergattert hatten.
Chiara richtete sich von ihrer Untersuchung der Leichen auf. „Das ist sie.“ Sie atmete durch, erleichtert, als hätte vor dieser Feststellung noch irgendein Zweifel bestanden. „Es ist vorbei.“
„Wer ist der Mann?“, fragte Juan, der es vermied, zu den Leichen zu sehen. Für einen Gangster war er ein ziemliches Weichei. Dann wiederrum musste selbst Iris zugeben, dass die Toten ausgesprochen unerfreulich aussehen.
„Ich weiß es nicht. Offenbar hat Carmen ihn erschossen.“
„Und woran ist sie gestorben?“
Chiara zuckte mit den Schultern. „Ihr Bein sieht merkwürdig aus. Vielleicht ein Gift. Vielleicht war es auch ein Schlaganfall, weil ihr Lebenswerk zerstört wurde.“
Iris schnaubte belustigt. „Ein passendes Ende.“
Sie erhielt einen bösen Blick von Juan.
Chiara streckte sich. „Kommt, bringen wir sie unter die Erde.“
„Was?“
Die ältere sah Iris an. „Was denn? Dachtest du, wir sind den ganzen Weg geflogen, nur, um uns Leichen anzusehen?“
„Wir beerdigen sie? Nach allem, was Carmen angerichtet hat? Das verdient sie nicht.“
„Ob sie es verdient oder nicht, ist völlig egal“, brummte Chiara. „Die Welt verdient es nicht, noch länger unter ihr zu leiden. Wenn wir sie aber einfach im Wasser verwesen lassen, wird am Ende noch jemand krank. Verstanden?“
Iris nickte zähneknirschend. „Damit kann ich leben.“
„Dann fangt mal an“, sagte Chiara grinsend. „Ich suche so lange Carmens Zeug zusammen.“
„Ach – du drückst dich auch noch vor der Arbeit?“
„Ja, Iris. Oder Caprice. Oder wie auch immer. Ich drücke mich vor der stumpfen Arbeit, um zu verhindern, dass so etwas wie jetzt jemals wieder passiert.“
Kopfschüttelnd sah Iris der Wissenschaftlerin nach, die zu Carmens verlassener Schaltzentrale ging. Dann seufzte sie, nahm die Schaufel von Juan entgegen und machte sich mit ihm an die Arbeit.
Mateo hatte sie ebenfalls begleitet, da er neben dem Führerschein auch einen Pilotenschein besaß. Allerdings ruhte er sich nach dem Flug jetzt in der kleinen Maschine aus. Hector war aus der Gang verbannt worden und Fernando in Spanien geblieben, um sich um die kleine Lina zu kümmern. So war nur noch Felipe da, der mit ihnen schaufelte. Iris sann darüber nach, wie sehr sich alles verändert hatte, seit jenem Moment, da man sie gefangengenommen hatte.
„Boss?“, fragte Felipe leise. „Was machen wir jetzt?“
„Gräber schaufeln“, brummte Juan.
„Ja, aber danach. Was machen wir dann?“
Leicht keuchend stützte sich Juan auf die Schaufel. Seine Verletzungen waren noch nicht gänzlich verheilt. Er fuhr sich durch das dunkle Haar. „Um ehrlich zu sein … ich weiß es nicht. Drogenschmuggel ist momentan vermutlich eher weniger gefragt.“
„Ihr könntet eure Fähigkeiten doch nutzen, um stattdessen Essen zu schmuggel“, schlug Iris vor. „Allerdings ganz offen und legal. Ihr habt Erfahrung damit, eine Infrastruktur aufzubauen.“
„Du meinst, wir sollen die Welt mit Nahrung versorgen?“
„Oder vielleicht das Internet neu aufbauen. Ihr könnt doch auch hacken.“
Juan grübelte. Er sah Iris nachdenklich an. „Zu viert sind wir etwas zu wenig Leute. Iris, du kannst doch gut Gräber zuschaufeln. Willst du uns helfen?“
„Was hat das Schaufeln damit zu tun?“
„Wenn wir schon die Kontrolle übernehmen, müssen wir unsere Fähigkeiten auch dafür einsetzen, die Welt etwas besser zu machen.“
„Deine Vorstellung von Verbesserung gefällt mir.“ Iris lächelte. „Aber ich bin eher nicht so der Typ für eine feste Anstellung.“
„Das war auch keine Einladung in unsere Familie“, sagte Juan mit verengten Augen. „Du wärst eine freie Mitarbeiterin, die uns dabei unterstützt, das Internet aufzubauen. Und mit aufräumt, wenn wir jemanden aus dem Weg schaffen müssen, der sich aufspielt.“ Er machte eine Pause. „Und wenn du mich nervst, bist du diesen Posten ganz schnell wieder los.“
Zum sichtlichen Erstaunen des Gangsters grinste Iris breit. „Klingt gut. Bin dabei.“
~*~
„Alles war schön und gut“, beendete Musa die Einführung, „bis die böse Carmen kam!“
‚Warum habe ich mich dazu überreden lassen?‘, fragte sich Keelan, als sie auf die Bühne trat. Die Kinder im Publikum quiekten auf, als sie die Arme in ihrem Kostüm hob und brüllte. Dann stapfte sie in ihrer besten Godzilla-Impression über die Bühne und warf die ‚Häuser‘ um, bunt angemalte Kartons.
„Carmen hat viele Stürme und Fluten geschickt, und Erdbeben. Sie war nämlich eine sehr mächtige Magierin“, erklärte Musa den staunenden Kindern. Weiter hinten im Publikum übersetzten einige von Keelans Freunden halblaut für Kinder, die kein Englisch verstanden.
„Aber Carmen hatte eine Schwäche! Und zwar brauchte sie ihre magischen Türme, um die Katastrophen zu schicken.“
Auf der Bühne erhoben sich vier Leute mit spitzen Zylindern auf den Köpfen. Die ‚Türme‘ umkreisten Keelan.
„Und dann kam unsere Heldin!“, erklärte Musa und hob die Stimme. Der Dunkelhaarige war eindeutig in seinem Element. Er sprang herum und erzählte so lebhaft, das die kleinen Zuschauer atemlos an seinen Lippen hingen. „Chiara Moretti.“
Eine zweite Frau trat als ‚Chiara‘ auf, gekleidet in eine Ritterrüstung aus Pappe und mit einem großen Schwert. Sie fällte zwei der Türme. Dann trat Keelan vor und stieß erneut ein Brüllen aus.
„Aber Chiara alleine war nicht stark genug!“, berichtete Musa. „Sie brauchte unsere Hilfe. Wollt ihr alle helfen?“
Die Kinder brüllten „Ja“. Keelan atmete auf, weil der Zirkus bald vorbei sein würde. Für den dramatischen Effekt tat sie, als würde sie mit ‚Chiara‘ ringen, während die beiden Türme sie von hinten stützten.
„Ja?“, fragte Musa. „Dann müssen wir jetzt alle gaaanz doll zusammenarbeiten. Wir können unsere magische Bombe Rita schicken, um Chiara zu helfen. Seid ihr so weit? Dann rufen wir jetzt alle ganz laut ‚Rita‘.“
„Rita“, donnerte es über den kleinen Platz. Keelan tat, als würde sie aus dem Gleichgewicht gebracht werden, fing sich dann wieder und kämpfte weiter.
„Oh nein“, rief Musa. „Wir müssen noch lauter werden.“
Der Mann hatte offenbar schon keine Trommelfelle mehr. Keelan biss die Zähne aufeinander, als die Kinder noch lauter kreischten. „Riiita!“
Wieder stürzte sie fast. Sie hörte entsetzte Rufe aus dem Publikum.
„Wir haben es fast geschafft. Noch einmal, so laut ihr könnt!“, wies Musa den Kreischhaufen an.
„RIIITAAA! Rita, Rita, Rita!“
Die beiden ‚Türme‘ setzten sich. Keelan ließ sich zu Boden fallen, während ‚Chiara‘ Ihr die Schwertspitze auf die Brust setzte. „Haha! Ich habe dich besiegt, böse Carmen.“
„Oh nein!“, heulte Keelan mit so viel Elan, wie sie noch aufbringen konnte. „Nein, mein böser Plaaan!“
Ihr Auftritt wurde mit hämischem Gelächter quittiert. Dann folgte Jubel, als ‚Chiara‘ nach vorne ging, um den Kindern für ihre Mithilfe zu danken.
Keelan blieb liegen. Wenn die echte Chiara nur mal auftauchen und sich bedanken würde! Aber nein, seitdem Carmen besiegt worden war, hörte man von Chiara nur, dass sie das alles getan hätte. Gerade baute die unbekannte Heldin die UNO und die Reste anderer Regierungen wieder auf. Die Auswirkungen waren langsam tatsächlich spürbar, denn die Infrastruktur wurde besser. Es gab wieder Lebensmittellieferungen und das Internet wurde neu aufgebaut, um den Kontakt zwischen einzelnen Organisatoren wie Keelan herzustellen. So gesehen machte Chiara alles richtig.
Aber für die arme Rita war das kein Trost.
Keelan hatte die Frau nicht gekannt, die den Turm vor einem Monat ausgeschaltet hatte. Sie fand nur, dass eine Heldin wie Rita mehr Anerkennung verdiente. Und sicherlich gab es noch viele andere, die im Kampf gegen Carmen ihr Leben gelassen hatten.
Waren diese jetzt einfach vergessen worden?
~*~
Es war nicht leicht gewesen, sie zu finden. In Philadelphia gab es viele Menschen, viele Flüchtlinge und viel Verwirrung. Viele hatten in den Wirren ihre Häuser verloren, waren durch verschiedene Einrichtungen geirrt und hatten immer weniger Spuren hinterlassen.
Erst jetzt, da das Internet langsam wieder überall funktionierte, hatte Jayden sie finden können und ein Treffen vereinbart.
Fast ein halbes Jahr, nachdem er sein Versprechen gegeben hatte, saß er der Frau namens Enila in einem Café mit einer fehlenden Wand gegenüber. Sie war hübsch. Eine taffe, junge Frau, die auch vor der Katastrophe bereits ihren Teil vom Leid gesehen hatte.
„Du kanntest also Seth?“, fragte sie, als Jayden sich ihr gegenübersetzte.
Keine Begrüßung. Sie sah müde aus. Traurig.
„Ich bin eine Weile mit ihm gereist“, erklärte Jayden. „Und ich dachte, du willst vielleicht wissen, dass … und wie … er gestorben ist.“
„Vermutlich hat er irgendeine Dummheit begangen, um an neuen Stoff zu kommen“, erwiderte Enila bitter.
„Drogen? Nein.“ Jayden schüttelte ernst den Kopf. „Er war ein Held.“
„War er das?“
„Er hat sich geopfert, um mich zu retten“, gestand Jayden leise. Er sah den Schock auf Enilas Gesicht. Vorsichtig zog er das Foto hervor, das Seth ihm damals in die Hand gedrückt hatte. Enila sah auf das zerknitterte Bild ihres Gesichts. Tränen schimmerten in ihrem Blick.
„Als ich ihn getroffen habe, war er tatsächlich noch auf einem Trip“, erklärte Jayden leise. „Da ging alles gerade erst los.“
Langsam und leise berichtete er Enila von ihrer ersten Begegnung, Jaydens Flucht, von seinem unbezähmbaren Willen, zu Enila zu kommen.
Sie lachte leise auf, ein Geräusch, das fast in einem Schluchzen endete. Erschrocken presste sie sich die Hand auf den Mund.
„Er war ein echter Sturkopf“, meinte Jayden mit einem traurigen Lächeln. Er wollte nur kurz von ihren Übernachtungen in der Schule berichten, von ihrer Irrfahrt, aber dann fiel ihm immer wieder ein neues Detail ein oder Enila fragte ihn etwas.
„Hat er bei dir auch schon mal eine Glastür mit der Hand eingeschlagen?“, fragte Jayden.
„Oh ja, er war furchtlos!“, sagte Enila mit hörbarem Stolz.
Eine Weile ging es angeregt hin und her, doch als Jayden zu den Banditen kam, der Straßensperre, der Schießerei, wurde Enila wieder still.
„Wir hockten im Gras. Diese Kerle kamen immer näher. Und es gab keine Richtung, in die wir fliehen konnten. Und dann reicht er mir plötzlich dieses Foto …“ Jayden stockte. Einen Moment konnte er seiner Stimme nicht trauen. „Dein … dein Foto. Und er sagt zu mir … ‚Versprich mir, dass du sie findest. Versprich es mir.‘“
Enila weinte, ohne das geringste Geräusch von sich zu geben.
Er schloss die Augen, als er von Seths letzten Momenten berichtete. „Wie ich schon sagte. Er war ein Held.“
~*~
Der flache Grabhügel am toskanischen Strand bot einen traurigen Anblick. Ethans Herz wurde schwer, als er an diesen Ort zurückkehrte, an dem er Ruben nur hastig und behelfsmäßig hatte bestatten können. Es gab keinen Grabstein und kein Kreuz, jedenfalls noch nicht. Rubens Frau, Ester Schönfelder, hatte eines mitgebracht.
Er war der einzige Gast der kleinen Gesellschaft, der nicht zu den Zeugen gehörte. Eigentlich war er gar nicht eingeladen. Doch Daniel hatte ihn in den Sozialen Netzwerken gefunden und ihm von der geplanten Feier erzählt.
Ethan hatte selbst mit dem Gedanken gespielt, zurückzukehren. Heute jährte sich Rubens Tod zum ersten Mal. Im vergangenen Jahr hatte ihn der furchtbare Tag am Turm immer wieder beschäftigt.
Eine warme Brise beugte das dürre Gras. Der Trauerrede hörte Ethan nur halb zu. Seine Gedanken schwirrten um Ruben.
Der andere hatte ihn gemocht. Wirklich gemocht. Und wenn Ethan ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er sich ebenfalls für Ruben interessiert. Hätten sie nur mehr Zeit gehabt und wären nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, zu überleben … hätte es dann Hoffnung gegeben?
Inzwischen war er sich sicher, dass die Antwort ‚Ja‘, lautete. Er hatte Ruben gemocht. Er hätte ihn lieben können. Doch er hatte viel zu spät erkannt, dass der andere es ebenso sah.
Und dann dieser dumme Unfall! Es zerriss Ethan das Herz. Ruben hatte nicht sterben müssen. Das hatten sie beide nicht verdient.
Er spürte einen schmerzhaften Kloß im Hals. Seine Augen brannten und er senkte den Blick, um seine Tränen zu verbergen. Verflucht, selbst Ester schien ihren Mann nicht so schmerzlich zu vermissen wie er! Wobei sie vermutlich wirklich glaubte, dass Ruben jetzt bei Gott und glücklich war.
Ethan grub die Hände in die Taschen. Das alles war so ungerecht. Wieso hatte das Timing nur so scheiße sein müssen?
Das Kreuz wurde platziert und das Grab damit markiert. Ethan starrte das Holzkreuz mit neuentwickeltem Hass an. Wenn es einen Gott gab, wieso ließ er zu, dass zwei Menschen so viel Unglück erlebten? Wieso schenkte er ihnen diese bittere Erkenntnis zu spät? Wieso …?
Er konnte kaum noch atmen. Die Trauer schnürte ihm die Kehle zu.
Ester trat vor. Sie hob die Hand mit einer Schere und zum Erstaunen aller schnitt sie sich eine Haarsträhne ab und legte sie stumm auf das Grab. Ethans Sicht verschwamm.
Er hätte so gerne mehr Zeit mit Ethan verbracht. Ihn kennengelernt, womöglich auch seine Welt bei den Zeugen. Geblieben war ihm nur die Erinnerung an verpasste Gelegenheiten.
Daniel trat zu ihm, als sich alle auf den Weg zu dem kürzlich eingerichteten Landeplatz machten.
„Wie geht es dir?“, fragte er Ethan leise.
„Beschissen“, murmelte Ethan ehrlich.
„Der Tod ist ja nicht das Ende“, sagte Daniel tröstend. „Rubens Körper ist fort, aber seine Seele bleibt für immer bei uns.“
Ethan seufzte. Er konnte nicht daran glauben. Nicht wirklich. Rubens Glaubensbrüder hätten ihn für seine letzte Tat vermutlich verdammt.
Andererseits hatte Daniel niemandem von dem Kuss erzählt.
Beruhigend legte der andere eine Hand auf Ethans Schulter. „Wenn du reden willst, du kannst mich jederzeit anrufen.“
„Danke“, murmelte Ethan mit einem schwachen Lächeln. Vielleicht würde der Schmerz irgendwann so weit nachlassen, dass er tatsächlich darüber sprechen könnte.
~*~
Ein Hornstoß erklang von den Mauern. Kits Ohren zuckten, als sie herumwirbelte. Auf den hohen Barrikaden sahen die Wachen auf.
Die Barrikaden bestanden aus entrindeten Baumstämmen, die die Lücken zwischen den Ruinen der Gebäude versperrten. Als Lager hatten sie die Innenstadt gewählt, und so umfasste das Lager einen großen, offenen Platz sowie die breite Straße davor, einige Supermärkte, die sich sehr leicht abriegeln ließen – man musste nur den Hintereingang versperren – und einige von Ranken überwucherte Bürogebäude. Auf den Dächern hatten sie Erde angesammelt und pflanzten ein paar Nahrungsmittel an, doch die Arbeiten daran waren noch lange nicht abgeschlossen. Zum Glück zogen draußen immer größere Herden von Hirschen durch die nun menschenleeren Städte.
Kit war auch gerade wieder auf dem Weg gewesen, auf die Jagd zu gehen. Nun allerdings lief sie, den Bogen in der Hand, auf den Wehrgang, der sich hinter der Brüstung erstreckte.
Jane stand bereits über dem Tor. „Halt! Wer seid ihr?“
Wie der Hornstoß angekündigt hatte, standen Menschen auf der Straße vor dem Lager. Kit sah eher scheu über die Baumstämme. Ihr Anblick konnte Fremde irritieren, also hielt sie sich bei solchen Verhandlungen im Hintergrund.
Es waren zwölf Leute. Sie hatten drei Kinder dabei und sahen zerschlagen aus. Staunend betrachteten sie das Lager.
„Die Gerüchte stimmen also. Hier gibt es eine Stadt“, rief einer hinauf.
„Wir lassen nicht jeden herein“, entgegnete Jane selbstbewusst. Das Geflecht von Brandnarben, das sie von der Explosion des Turms behalten hatte, ließ sie einschüchternd wirken. „Ihr müsst euch an unsere Regeln halten. Könnt ihr arbeiten?“
Die Überlebenden gaben frühere Berufe und Fähigkeiten an. Handwerker, ein Mechaniker, ein ehemaliger Elektrotechniker. Allerdings waren auch ein Maler und eine Versicherungsvertreterin in der Gruppe. Ganz zu schweigen von den Kindern, die nicht viel arbeiten könnten.
Jane sah fragend zu Kitsune herüber.
Kit überlegte. Sie spürte, dass auch die anderen Überlebenden sie musterten und ihre Entscheidung abwarteten.
Sie nickte.
Jane gab das Signal und die Tore wurden geöffnet. „Kommt herein.“
„Vielen Dank“, rief einer der Männer herauf. „Vielen, vielen Dank.“
„Dankt nicht mir“, sagte Jane zu den staunenden Neuankömmlingen, deren Blicke die Ruinen der Stadt streiften, die Risse im Pflaster, aus denen Obstbäume wuchsen, dieses Chaos aus zerstörter alter und blühender neuer Welt. „Dankt ihr.“
Jane wies auf Kit, die sich von der hohen Barrikade heruntersprang. Sie landete vor den Neuen auf dem Pflaster und richtete sich auf. Sprachlose Blicke bedachten sie.
„Sie ist unsere Anführerin“, erklärte Jane ruhig.
~*~
Der Priester verließ die Bühne. Unter Fanfarenstößen trat Chiara vor, Bestseller-Autorin und Präsidentin der globalen, demokratischen Regierung.
Sie hielt eine Ausgabe ihres Buches in der Hand, als sie vor die aufgereihten Bilder trat.
Es gab keine Fotos von allen, deswegen hatten sie sich für Zeichnungen entschieden. Die beiden Zeichnungen vorne in der Mitte zeigten einen früher bekannten, nun weltberühmten Moderator und einen Wissenschaftler.
Thomas Goldschmidt und Simon Baker. Namen, die nun jedes Kind kannte.
Chiara legte das Buch vor den beiden Zeichnungen ab. Denn ohne sie, das wusste sie, würde der Wälzer keine einzige Zeile enthalten. Er wäre niemals gedruckt worden. Das hier war mehr als nur ein Buch, es war eine Geste. Das erste Druckwerk seit fünf Jahren. Der Beweis für einen weiteren Teil Normalität, den sie sich erkämpft hatten. Die Geschichte des Kriegs gegen Carmen. Es war eine Aufarbeitung der Vergangenheit, ein Schwur für die Zukunft, ein Manifest.
Manche nannten ‚Carmen und ich‘ scherzhaft die Chiara-Bibel. Sie verbesserte sie nicht. Diese Autobiografie mit ihrer Analyse von Carmens Aufstieg enthielt viele ihrer Ideen für die neue, bessere Welt. Eine Welt, die keine zweite Carmen sehen würde.
Nachdem sie eine Weile mit gesenktem Kopf verharrt hatte, trat Chiara vor das Mikrofon.
„Vielen Dank, dass ihr alle heute gekommen seid“, sagte sie zu den Versammelten. Menschen aus aller Welt, die nach Amerika gekommen waren. „Heute möchten wir die Helden ehren, die Carmen zu Fall gebracht und uns alle gerettet haben. Ihre Namen sollen niemals vergessen werden, denn nur, weil sie ihr Leben ließen, können wir heute leben.“
Ihr Blick schweifte über die Menge. Für einen Moment erblickte die Juan und Iris. Die Gangster hielten sich mehr am Rand, und Iris war auf eine niedrige Mauer geklettert und baumelte mit den Beinen. Andere Gesichter kannte sie nur flüchtig, wie etwa Ethan, der etwas zu Ruben sagen würde, oder de deutsche Unterpräsidentin Keelan, die mit ihren Eltern angereist war. Überhaupt waren die Staatsgrößen der neuen Welt heute alle erschienen, um jenen Respekt zu zollen, die diese neue Welt ermöglicht hatten.
Ihre Ansprache hielt Chiara kurz, denn sie stand nicht so gerne im Mittelpunkt, wie man es als Präsidentin vielleicht sollte. Zum Glück konnte sie das Mikro heute schnell weitergeben. An Max.
Der Elfjährige trat nervös vor die vielen Menschen.
„Hallo. Ich bin Max Harrison. Ich möchte heute über Thomas reden.“ Der Junge sah ängstlich zur Menge. Sein Blick fiel auf Chiara und sie lächelte ihm ermutigend zu.
„Thomas war unser Nachbar“, begann Max. „Er wohnte direkt nebenan. Wenn Mum arbeiten musste, durfte ich immer zu ihm. Er hat auf mich aufgepasst, mir bei den Hausaufgaben geholfen, mir Malstifte gekauft. Aber als ich diesmal zu ihm gebracht wurde, ahnte ich bereits, dass es nicht wie immer sein würde. Die Nachrichten warn voll von Flugzeugabstürzen. Mum wollte weg, zu unseren Verwandten. Ich wusste damals nicht einmal, ob ich sie wiedersehen würde, ich wusste nur, dass ich bei Thomas in Sicherheit war. …“
Chiara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und atmete durch.
Ja. Es war vorbei.
It’s all over now …
So, euer Autor noch mal kurz. :3 Ich möchte mich nur noch einmal in aller Form bei euch für’s Lesen bedanken. Besonderes Lob geht natürlich an die teilnehmenden Charakterautoren, die fleißig Entscheidungen getroffen und mich in völlig neue Themengebiete gezwungen haben. Ich hoffe, man hat mir meine Überforderung mit Romantik, Drogen und Religion nicht zu sehr angemerkt. :D Und ich hoffe, ihr hattet Spaß und seid glücklich mit eurem Charakterarc.
Die Geschichte hätte niemals ohne Teilnehmer funktioniert und ich bin sehr glücklich mit dem verrückten Mix, den wir hinbekommen haben. Es gibt sicher Logiklücken und Unstimmigkeiten, und einiges an dem Konzept würde ich im nächsten Let’s Write anders angehen. Darum also erst recht noch einmal vielen Dank, dass ihr das Chaos mit mir durchgestanden habt.
euer Marvin Grauwolf
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Wenn du möchtest, kannst du mir für deine absoluten Lieblingswerke ein paar Brotchips über Ko-fi spendieren: https://ko-fi.com/grauwolfautor
Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich nochmals für's Lesen!