„Du hast doch bestimmt diese Sache mit der Sonneneruption mitbekommen, oder?“
Torben sah überrascht auf, sah sich kurz um und erkannte, dass er der Angesprochene war. Für einen Moment sah der Azubi hilfesuchend zu den anderen Kollegen herüber. Langsam dämmerte ihm, warum die Erfahreneren ihn immer mit Ruben zusammenarbeiten ließen; und dass Ruben in letzter Zeit ständig Überstunden machte, verbesserte die Situation nicht.
„Na klar“, Torben räusperte sich. „War überall in den Nachrichten. Das Schiffsunglück und so.“
„Schlimme Sache.“ Ruben schüttelte bedauernd den Kopf. „Und es wird immer schlimmer. Wenn man sich den Verlauf der letzten Jahre mal ansieht, das Klima, dann ist es eigentlich offensichtlich.“
„Offensichtlich?“ Torben schluckte, was seinen Adamsapfel zum Hüpfen brachte. „Was ist denn offensichtlich?“
„Das Ende kommt“, sagte Ruben. „Jesus fordert uns auf, auf die Zeichen der Zeit zu achten und sie zu beurteilen.“
Torben runzelte die Stirn und verzog den Mund. „Die Zeichen der Zeit, was? Meinst du den Klimawandel?“
„Der ist ein Teil davon, ja.“ Ruben richtete sich auf und streckte den Rücken. „Und die Erdbeben, der weltweite Hunger … Die Zeichen sind offensichtlich. Der Menschensohn wird zurückkehren, und -“
„Oh, ich glaube, da ist ein Kunde.“ Torben eilte fast fluchtartig zum Empfang.
Ruben seufzte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Seine Augen juckten, nachdem er so viele Stunden verbissen auf den Bildschirm gestarrt hatte. Seine Finger schmerzten vom Abtippen der Rechnungen. In der letzten Woche hatte er verbissen so viel wie möglich gearbeitet, weit über seine eigenen Grenzen hinaus. Doch er durfte nicht aufhören. Weltlicher Schmerz würde vergehen, doch das Paradies würde ewig sein.
Ester war zuerst nicht froh gewesen, dass er mehr arbeiten wollte, statt wie besprochen aufzuhören und sich der Missionierung zu verschreiben.
„Wir werden Geld brauchen“, hatte er ihr erklärt, während sie mit enttäuschtem Gesicht in der Küche auf- und abmarschiert war.
„Was willst du mit Geld?“, hatte sie gefragt. „Jeder Cent bedeutet eine stärkere Versuchung.“
„Daniel hat mir erzählt, dass unsere Brüder in Sardinien unserer Hilfe bedürfen. Wir wollen mit ein paar Leuten dorthin und helfen. Aber die Reise kostet natürlich Geld.“
Ester war stehengeblieben und hatte ihn einen Moment angesehen.
„Sie haben zu wenig Leute und ein paar Ketzer behaupten, wir wären für das Unglück verantwortlich. Sie verstehen nicht, dass wir nur die Wahrheit gesagt und sie gewarnt haben.“
„Ja, ich habe davon gehört.“ Ester war ihm um den Hals gefallen. „Das ist so mutig von dir! Möge der Herr dich beschützen!“
Sie hatte geweint und Ruben hatte ihren Rücken getätschelt.
Nun kehrte Torben zurück. „War nur ein Besucher.“
„Torben, hör mal … die Zeichen sind wirklich eindeutig.“
„Mensch, Ruben!“, schimpfte der Azubi. „Wir sind ein Planet voll mit fehleranfälliger Technik und Müll, der unsere Erde langsam vergiftet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Klimawandel spürbar wird und bis so etwas wir die Sonneneruption passiert. Ich glaube dir ja, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, aber die sollten wir so nutzen, wie es uns gefällt. Denn eines sage ich dir, ein Gott hat damit nichts zu tun!“
Ruben zuckte zusammen und musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzubrüllen. Stattdessen reichte er Torben einen Zettel mit einer Liste. „Hol mir die Unterlagen.“ Seine Stimme war kühl.
Während Torben davon ging, konnte Ruben nicht anders, als hämisch zu denken: „Nicht mehr sehr lange, und ich werde ins Paradies eingehen. Aber dir wird alles Betteln und Flehen nichts nutzen. Oh ja – du wirst schon sehen.“
Er wollte so nicht denken, aber er konnte sich nicht helfen.
~*~
Sie waren zu acht. Zwei Austauschschülerinnen, ein Ehepaar, eine alte Frau aus Australien und ein komischer, junger Mann, sowie natürlich der kräftige Italiener, den Riikka bereits getroffen hatte. Der, der ihr Glas Moltebeeren leer getrunken hatte.
Inzwischen hatte er sich etwas erholt. Sein Name war Enrico. Er hatte zur Besatzung gehört, aber gerade Pause gehabt, als das Schiff gesunken war. Jetzt saß er im Schatten eines vertrockneten Busches und untersuchte den tiefen Schnitt an seinem Unterschenkel.
Die anderen sahen auch nicht viel besser aus. Die eine Schülerin, Fran, mit kurzen, blonden Haaren, schien nicht laufen zu können. Sun Lin hatte sie vom Strand bis in den Schatten getragen, ehe die chinesische Schülerin ihrerseits zusammengebrochen war. Die beiden waren, soweit Riikka das verstanden hatte, Au-pairs oder so in Österreich gewesen, die ihre Ferien für eine Europareise hatten nutzen wollen.
Jochen und Rita Uhlmann kamen aus Deutschland. Er war groß und dick, sie klein und dick mit den traurigen Augen und der roten Nase einer Alkoholikerin. Die beiden zankten sich ununterbrochen, seitdem sie wach geworden waren.
„Ich hab dir gesagt, eine Kreuzfahrt ist kein Ort für einen beschissenen Köter!“, brüllte Jochen und Rita keifte: „Du hast mit dieser esoterik-Tusse geschlafen, gibt es zu!“
Wie eine sehr schlechte Sendung bei RTL2.
Der junge Mann, der sich murmelnd als Gordon vorgestellt hatte, war zum Strand gegangen und wanderte zwischen den Trümmern herum. Ab und zu blieb er stehen, zog die großen Schuhe aus und schüttete das Wasser heraus. Er schien die Schiffsteile zu durchwühlen.
Hazel Gray dagegen war Riikka sympathisch. Hazel war Rentnerin und hatte zwinkernd gesagt, dass sie auf jeden Fall über 80 Jahre wäre, eine Lady ihr Alter jedoch niemals verrate. Sie machte einen jüngeren Eindruck. Die kurzen, roten Haare waren mit Sicherheit gefärbt, doch die blauen Augen funkelten und Hazel war sportlich und schlank. Obwohl ihre Kleidung durch den Schiffbruch gelitten hatte, war immer noch zu erkennen, dass es sich um ein elegantes Kleidchen gehandelt hatte. Der Begriff ‚Lady‘ traf auf jeden Fall auf sie zu.
Hazel war auch diejenige, die die Führung übernahm. Sie trennte die beiden Uhlmanns und befahl ihnen, nach Wasser und Vorräten zu suchen. Dann kam sie zu Enrico und sah sich um. „Ist einer von euch ein Arzt?“
Hazel kniete sich neben den verwundeten Italiener. „Wir müssen diese Wunde säubern …“
„Ich bin Arzt“, sagte Gordon, der herüberkam. „Ich bin Tierarzt. Ich untersuche Igeltenreks.“
„Sehr schön, dann kümmer dich um ihn, Mate!“, befahl Hazel. Als Gordon zögerte und unsicher zu Enrico sah – dabei hielt er den Kopf leicht gesenkt und blinzelte verstohlen an seinem Pony vorbei – klatschte Hazel in die Hände. „Hopp, hopp!“
Riikka sah die ganze Zeit über schweigend zu. Hazel sprach Englisch mit einem starken, australischen Akzent. Ihre gebräunte Haut passte zu Riikkas Vermutung, dass die Frau aus Australien stammen musste. Dann kannte sie sich sicher damit aus, welche Gefahren in der Wildnis eines heißen Landes lauern konnten. Schlangen und Hitzeschläge und solche Sachen.
Hazel sah zwar aus wie jemand, der mit Dauerwelle und Klatschmagazinen lebte, aber Riikka war sich sicher, dass Hazel im Grunde jemand war, der die gewöhnlichen Klatschmagazinfrauen gerne sein wollten. Wo andere verzweifelt wären, wusste Hazel, was zu tun war.
„Was ist mit dir?“ Die Frau trat nun zu Fran.
„Sie nicht kann laufen“, sagte die Chinesin Sun Lin in gebrochenem Englisch. Fahrig strich sie sich die kupfernen Haare aus der Stirn und atmete tief durch. „Sie sitzt im Rollenstuhl, sie braucht ihren Rollstuhl.“
„Der ist wohl mit dem Schiff untergegangen“, sagte Hazel spöttisch.
Sun begann, zu zittern. „Oh Gott … all diese Menschen sind tot, oder nicht? Das ist alles so furchtbar, einfach … furchtbar!“
Die Chinesin verfiel in den Singsang ihrer Muttersprache. Hazel unterbrach sie: „Reiß dich zusammen, Kind. Such ein paar lange, kräftige Stöcke und eine Plane. Du und Fran, ihr müsst einen Sonnenschutz bauen.“
„Aber ich kann doch nicht …“, begann Fran.
Hazel schnitt auch ihr das Wort ab. „Du kannst ja wohl irgendwo sitzen und Stöcke in den Boden rammen. Du da“, jetzt deutete sie auf Riikka, „hilf ihr!“
Riikka nickte. „Ja.“
Sie organisierten sich, ganz, wie Hazel es befohlen hatte. Nachdem Enricos Bein notdürftig verbunden war, schlich Gordon ebenfalls an den Strand, um bei der Suche nach Lebensmitteln zu helfen – oder um allein zu sein. Er kam Riikka wie ein Einzelgänger vor.
Enrico robbte sogar zu Fran.
„Du bist verletzt.“ Weil sie so wenig sprachen, rutschte der Satz Riikka auf Deutsch heraus.
„Kanne ich helfe!“, widersprach Enrico. „Isse nur eine Kratzer!“
Riikka zuckte die Schultern und reichte ihm einen der langen Stöcke, die sie gefunden hatte. Dann tauchten Rita Uhlmann und Gordon auf, die eine große Plastikplane herbeischleppten und über die inzwischen in einem Kreis aufgestellten Pfähle zogen.
„Wir brauchen noch lange Stöcke in der Mitte, oder der erste Regen lässt die Plane einbrechen“, befahl Hazel.
Während Riikka mit Sun Lin also weitersuchte, murmelte das Mädchen ständig vor sich hin.
„Was sagst du da?“, fragte Riikka schließlich, weil ‚Halt die Klappe!‘ zu unhöflich wäre.
„Ich bete!“, sagte Sun Lin. „Ich bete für uns alle, dass man uns rettet und dass wir hier nicht sterben.“
Inzwischen sprach sie wieder gutes Englisch. Vermutlich, weil sie den Schock zu verarbeiten begann.
„Wir sind in Italien. Hilfe kommt bald“, sagte Riikka. „Wir müssen nur ein, zwei Tage hier aushalten.“
Gleichzeitig stellte sie sich im Stillen die Frage, ob das denn die Wahrheit war. Das Schiffsunglück hätte doch jemand bemerken müssen. Warum war noch kein Anzeichen anderer Menschen zu sehen gewesen? Sie müssten doch bald kommen … brauchten sie einfach noch? Suchten sie an einer anderen Stelle, weil nicht klar war, wo das Schiff gesunken war?
Oder … würde keine Hilfe kommen?
Hazel begutachtete den Sonnenschutz, als alles fertig war. Die Schiffbrüchigen hatten sich dankbar in den Schatten zurückgezogen. In der Mitte lag die spärliche Ausbeute. Ein bisschen feuchtes Obst, Zwieback, einige Schokoriegel, enttäuschend wenige Wasserflaschen.
Hazel zögerte. „Wir sollten nachsehen, ob es in der Nähe Trinkwasser und etwas zu Essen gibt“, schlug sie vor.
„Was?“, fragte Jochen. „Und wenn in der Zeit die Rettungskräfte kommen?“
„Dann sehen sie Enrico und Fran und vor allem auch unser Zelt“, sagte Hazel selbstsicher. „Sie werden schon nicht ohne uns abziehen.“
Die Australierin scheuchte die Gruppe auf. „Los, wird’s bald? Nein, du bleibt bei Fran und Enrico.“
Damit war Rita gemeint. Riikka konnte es Hazel nicht verdenken, denn erstens schimpfte Jochens Frau noch immer bei jeder Gelegenheit mit ihrem Mann, und zweitens waren ihre Augen bedenklich trüb geworden und sie schwitzte aus jeder Pore. In diesem Zustand könnte sie irgendwo zusammenbrechen, wo man sie nie wiederfinden würde.
~*~
Der Pfeil flog lautlos, wie der flüsternde Tod. Der Hirsch riss den Kopf herum, doch da drang die Spitze auch schon hinter dem Vorderbein zwischen den Rippen hindurch ins Herz. Das Tier warf den Kopf hoch, verdrehte die Augen, dann knickten die schlanken Beine ein und es brach zusammen.
Sie erhob sich aus der Deckung hinter dem Stamm und trat zu dem erlegten Tier. Es röchelte. Die Hufe kratzten über den Boden, ein Hinterbein zitterte. Sie musste das Herz knapp verfehlt haben. Also kniete sie sich hinter den Hirsch, packte das Geweih und drehte den Kopf mit einem Ruck herum.
Sie konnte es hören. Den Seufzer ersterbenden Lebens. Die Muskeln des Tieres entspannten sich und die Zuckungen versiegten. Vorsichtig bettete sie den Kopf des Tieres auf ihren Schoss und strich über die Schnauze.
„Ich danke dir für dein Opfer.“
Dabei fiel ihr Blick auf ein Messer, das nah beim Huf des Tieres unter einer Baumwurzel lag. Ein Jagdmesser. War es so platziert worden, damit sie es fand? Nein, das ergab doch keinen Sinn! Vielleicht hatte sie sich unbewusst erinnert und es deswegen gefunden. Wenn sie doch bloß noch irgendetwas wüsste!
Sie nahm das Messer an sich, das sich kühl in ihre Handfläche schmiegte, und machte sich daran, den Hirsch zu häuten und dann das Fleisch herauszuschneiden. Sie hatte Hunger, jedenfalls ein bisschen, also steckte sie sich ein kleines Stück roh in den Mund und kaute. Sie hätte gedacht, dass das Blut und das Fleisch widerlich schmecken würden, doch das taten sie nicht. Im Gegenteil, der leicht salzige Geschmack war sogar angenehm.
Sie schnitt so viel Fleisch heraus, wie sie tragen konnte, wickelte es in das Fell und schulterte es. Dann suchte sie die Umgebung ab, doch sie fand keine weiteren Waffen und vor allem keinen weiteren Pfeil. Ihr blieb nur der Bogen und das Jagdmesser.
Sie ging los, auf gut Glück in irgendeine Richtung. Bergab. Sie hatte Fleisch und würde ein Feuer machen können, aber sie brauchte auch Trinkwasser. Wasser floss nach unten. Also war das ihr Ziel, solange sie nicht wusste, wer und wo sie war.
Ihr Plan ging auf. Es dauerte nicht lange, bis sie das Rauschen von Wasser hörte. Ein Wildbach.
Sie lief schneller und erreichte einen breiten, rasch fließenden Strom. Er warf tief und hatte starke Strömung, doch an einer Stelle lag ein Baumstamm quer über dem Wasser. Auf der anderen Seite erhoben sich Berge hinter den Bäumen, und sie konnte sogar eine Höhle entdecken.
Das wäre der perfekte Ort. Kühl genug, dass das Fleisch lange hielt, geschützt vor Raubtieren und trocken genug für ein Feuer.
Wenn der Weg dorthin nur nicht so gefährlich wäre …
~*~
Als er endlich nach Hause kam, fühlte Thomas sich wie gerädert. Das Interview mit seinem Namensvetter war sein Lebenstraum gewesen, den er sich endlich erfüllt hatte. Und dann war alles im Chaos ertrunken. Die Technik war ausgefallen, die Zuschauer beinahe in Panik verfallen und das Interview hatte natürlich abgebrochen werden müssen. Sie hatten etwa eine halbe Stunde im Studio auf Neuigkeiten gewartet. Telefone hatten kaum funktioniert. Das Netz war zwar nicht zusammengebrochen, aber massiv gestört worden, und unzählige besorgte Amerikaner, die ihre Familie und Freunde nach dem seltsamen Stromausfall anrufen wollten, hatten die Leitungen überlastet.
Nach der halben Stunde war dann ein Laufbursche erschienen und hatte ihnen mitgeteilt, dass die Sendung abgebrochen wurde, da man die verbliebenen Ressourcen für die Nachrichten aufsparte. Die Zuschauer hatten ihre Sachen gepackt, zwei oder drei hatten einen Aufstand gemacht, ihr Geld zurückverlangt und mit Klagen gedroht.
Thomas Gottschalk hatte sich gestreckt und gefragt: „Wollen wir noch einen Kaffee trinken gehen?“
Auf diese etwas inoffizielle Weise war Thomas dann doch noch zu dem Interview mit seinem großen Idol gekommen, doch nach dem Kaffee war Gottschalk zurück in sein Hotel gegangen, um herauszufinden, ob es noch einen Flug nach Hause gab.
Tja, und hier war Thomas Goldschmidt jetzt. Müde, verschwitzt – er hatte fast eine Stunde im Stau gestanden – und vor allem verwirrt. Eine solche Panne wie heute war noch nie vorgekommen, doch offenbar geschah es im ganzen Land. Was auch immer dieses ‚es‘ war, das geschah. Ein paar Wissenschaftler hatten im Radio was von Sonneneruptionen erzählt. Doch Thomas war lange genug in der Unterhaltungsbranche tätig, um skeptisch zu sein. Die Zuständigen hatten ziemlich schnell eine Lösung parat, dafür, dass das Ereignis doch angeblich so überraschend gekommen war.
Irgendwas … war seltsam.
Thomas hatte den Wohnkomplex erreicht, öffnete die Eingangstür und stieg die Stufen im Treppenhaus hinauf. Das Geländer klirrte metallisch bei dem kleinsten Druck, den er ausübte, oder wenn die dunkelgrüne Umhängetasche mit den Papieren dagegen schlug. Er blieb einen Moment stehen. Seine Beine fühlten sich so schwer an. Er war unglaublich müde, nicht nur, weil es eben wirklich spät war, sondern auch wegen der ganzen Aufregung, die das Adrenalin hochgetrieben hatte. Inzwischen fühlte er sich schon fast wie nach einer Schulstunde Sport.
Thomas atmete tief durch und stieg weiter nach oben, als er eine Stimme hörte.
„Thomas? Bist du das?“
Er hob den Blick und konnte durch den leeren Raum inmitten der Treppen nach oben sehen. Von dort spähte das von langen, schwarzen Haaren umrahmte Gesicht einer Frau zurück.
„Emmeline?“
Die Frau lächelte und kam ihm entgegen, um ihm die Tasche abzunehmen. „Hör mal, Thomas … Ich wollte bei meiner Schwester vorbeigucken. Könntest du vielleicht so lange auf Max …?“
„Natürlich, mache ich doch gerne!“, sagte Thomas.
„Aber wirklich nur, wenn du nicht selbst nach jemandem sehen möchtest oder müde bist!“, sagte Emmeline schnell. „Gott, es tut mir so leid, dass ich dich direkt damit bedränge, du hattest sicher einen langen Tag.“
„Lang nicht, nur chaotisch“, meinte Thomas. „Und dann stand ich noch im Stau.“
„Ich habe mir Sorgen gemacht, dass du so lange brauchst“, gestand Emmeline. Jetzt hob seine Nachbarin doch den Blick und musterte Thomas aus ihren grünen Augen. „Bist du dir sicher, dass das kein Problem ist? Meine Schwester wohnt drüben in North Carolina, und wenn der Verkehr wirklich so schlimm ist, wie du sagst, bin ich vielleicht morgen noch nicht zurück.“
„Ich habe Max wirklich gerne um mich herum.“ Sie hatten die Etage erreicht, in der Emmelines und Thomas‘ Wohnungen einander gegenüberlagen. Er lächelte sie an. „Das ist wirklich kein Problem.“
„Oh, danke!“, seufzte Emmeline erleichtert. „Ich bringe ihn dann gleich rüber. Oder … nein, ich bringe ihn in einer Stunde, dann hast du Zeit, ersteinmal anzukommen.“
Sie öffnete ihre Wohnungstür und war hindurch, ehe Thomas ihr erneut sagen konnte, dass er wirklich kein Problem damit hatte, auf den Jungen aufzupassen.
Er seufzte und schloss seine eigene Tür auf. Emmeline war manchmal etwas überbesorgt.
~*~
Der Inhaber des kleinen Kioskes lehnte mit den Unterarmen auf dem Tresen, um einen Blick auf den Fernseher in der Ecke zu werfen. Irgendein Fußballspiel beschallte den kleinen Laden, doch als die Türglocke klingelte, wandte der Mann im fleckigen Unterhemd den Kopf.
Ein junges Mädchen trat ein. Der Mann richtete den Blick wieder auf den Fernseher. Er war bereits daran gewöhnt, dass diese jungen Dinger von ihm eingeschüchtert waren, weshalb sich jeder Versuch einer Kommunikation eh erübrigte. Außerdem wollte er das Spiel sehen. Es war eine Wiederholung des Spiels, das letztens unterbrochen worden war, als die großen Stromausfälle gewesen waren.
„Ey!“
Er löste den Blick vom Bildschirm und stellte fest, dass das blonde Mädchen direkt vor ihm stand. Der alte Mann richtete sich überrascht auf und senkte automatisch den Blick, um zu sehen, was sie ihm wohl auf die Theke geknallt hatte, um es zu kaufen. Dieses Mädchen war auf jeden Fall deutlich selbstbewusster als die kichernden Teenies, die hier sonst aufkreuzten. Offenbar hatte sie direkt gewusst, was sie wollte, und es …
Nein. Der Tresen war leer. Er sah das Mädchen verwirrt an.
„Was möchtest du?“, brummte er über weiche Lippen.
„Eine Spezialanfertigung.“ Das Mädchen lächelte bezaubernd, doch ein spöttischer Ausdruck lag in ihren grünen Augen.
Der Mann sah zum Eingang und durch den Laden, dann seufzte er. „Was genau?“
„Ich hatte bestellt.“ Das Mädchen legte einen handbeschriebenen Zettel auf die Theke und schob diesen mit beiden Fingern vorwärts.
Der Inhaber hob eine Augenbraue. „Das Geld?“
Sie griff in die Tasche ihrer ripped Jeans und zog einen unordentlichen Haufen Scheine heraus. Die Papiere verteilten sich über die Theke, ein paar vielen zwischen die Schokoriegel und Kaugummis.
„Oh, na … das reicht wohl“, murmelte der Besitzer und kratzte sich an der kahlen Stelle zwischen den fettigen Haaren. Dann fegte er das Geld in die Kasse. „Warte hier.“
Während der alte Mann in Gummischuhen nach hinten schlurfte, erhaschte die Kundin einen Blick auf dürre, knochige, weiße Beine, die aus der kurzen Hose ragten. Der gesamte Mann war dünn und knochig, mit schlaff hängender Haut und hervortretenden Sehnen und kleinen, knotigen Muskeln. Nur sein Bauch wölbte sich wie der einer Schwangeren, wobei das neue Leben unterhalb seines Herzens vermutlich eher aus Bier und Fast-Food bestand.
Das junge Mädchen trommelte mit den Händen auf der Theke und ließ den Blick durch den Laden streifen. Es gab zwei Regale in der Mitte, und auch die Wände bestanden aus Ablageflächen für Waren. An einer Wand stapelten sich Bierkästen, es gab eine kleine Eistheke, die größtenteils leer war, Zeitschriften – überwiegend welche ab 18 – Zigaretten und natürlich die Süßigkeiten, die man von so einem Laden erwarten konnte und die vermutlich ständig Schüler der nahegelegenen Realschule herlockten.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis der Mann zurückkehrte. In der Hand hielt er ein vielleicht handtellergroßes, rechteckiges Stück eingeschweißtes Papier.
„Was dauert das denn so lange?“, stöhnte die Kundin. „Ich dachte, solche Sachen bestellt man vor, damit man eben nicht mehr warten muss!
Der Mann verzog die Lippen abfällig. „Ich bereite alles vor, klar, sonst hättest du eine Woche warten dürfen, aber den letzten Schliff gibt’s erst, wenn die Kohle da ist.“
„Der letzte Schliff?“
„Der Name. Und das Foto wird dann erst eingestanzt.“ Er reichte ihr das Papier. Es war ein Personalausweis mit dem Gesicht des jungen Mädchens darauf. Er wies sie als Iris Malone aus.
„Nice.“
„Gern geschehen.“ Der Blick des Mannes glitt zum Fernseher. Ein weiteres Tor war in der Zwischenzeit hinzugekommen.
Verdammt. Ein Tor für die falsche Mannschaft. Und das Spiel ging dem Ende entgegen.
„Willst du noch was kaufen oder warum stehst du hier?“, fragte er seine Kundin unfreundlich.
„Näh, hab’s mir überlegt.“ Sie steckte den Ausweis ein und wandte sich zum Gehen. „Schönes Leben noch.“
Als sie durch die Tür ging, piepste der Alarm. Der Besitzer fuhr in die Höhe und stieß sich das Knie am Tresen. Doch das Mädchen rannte bereits. Und sie war schnell.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte er, eilte um den Tresen herum und riss die Glastür auf. „Stehen bleiben!“
Sie zeigte ihm den Mittelfinger und sprang über die Straße, hakenschlagend zwischen den Autos vorbei. Dann tauchte sie in einer Seitenstraße ab. Der Kioskbesitzer blieb zurück, und zu allem Überfluss bemerkte er, dass die Scheine, die vom Tresen gefallen waren, ebenfalls fort waren.
Die Diebin rannte in die Gasse, dann wurde sie langsamer, ging mit schnellen Schritten und warf einen Blick über die Schulter. Als sie merkte, dass man ihr immer noch nicht folgte, ordnete sie ihre blonden Haare und verfiel in normales Schlendern. Ein schmales Lächeln legte sich auf die Lippen der frischgebackenen Iris.
Drei Stunden später hatte sie den Flughafen erreicht. Es wäre im Grunde nur eine Strecke von einer halben Stunde gewesen, doch sie nahm nie die direkte Route. Sie wollte nicht berechenbar sein.
Also war sie in einen Zug in eine ganz andere Richtung gestiegen, hatte ihn am ersten Bahnhof mit einem roten Werbeplakat verlassen und war nach dem Zufallsprinzip (oder sobald Kontrolleure auftauchten) gewechselt. Einmal war sie den Kontrolleuren nicht rechtzeitig entkommen, die natürlich gleich festgestellt hatten, dass sie keine gültige Fahrkarte besaß. Iris hatte den gefälschten Ausweis versteckt und behauptet, keinen Perso dabei zu haben. Geschweige denn die vierzig Euro Strafgeld.
„Ich habe aber ein Studententicket!“, beteuerte sie. „Ich habe es nur zu Hause.“
„Dann brauche ich deine Personalien.“ Der Kontrolleur war ein netter, dicklicher Mann mit Schnurrbart gewesen. Er hatte ein bisschen altmodisch ausgesehen, als wäre er aus einer anderen Zeit gekommen.
Iris hatte ihm Namen, Alter und Wohnort genannt. Der Kontrolleur hatte die Daten in sein Gerät eingetippt und es hatte leise gesurrt, als es suchte.
„Gut, Mara“, hatte er dann gesagt. „Das stimmt alles. Du kriegst dann eine Rechnung per Post. Wenn du dein Ticket nachzeigst, sind es nur zehn Euro.“
„Ja, danke. Tut mir sehr leid“, hatte Iris mit gespielter Beschämung gesagt und später gegrinst, als sie ausgestiegen war. Mara war einmal ihre beste Freundin gewesen, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Iris hatte die Daten immer noch im Kopf. Sie überprüfte immer wieder auf Facebook, dass die ehemalige Freundin noch nicht umgezogen war, und so lange würde Mara eben gelegentlich seltsame Rechnungen erhalten. Iris wusste selbst, dass sie kindisch und nachtragend war, aber diese kleinen Racheakte fühlten sich so gut an!
Nun war sie endlich am Flughafen angekommen, eine neue Identität, eine Menge Geld aus einem Literaturagentenbüro und einen großen Vorrat Schokoriegel in der Tasche. Nun musste sie nur noch …
Sie blieb wie angewurzelt stehen. Dann kramte sie in ihrer Tasche, jedoch nur als Vorwand, damit sich niemand über ihren Halt wunderte.
Am Eingang des Flughafens parkten mehrere Autos mit eingeschaltetem Blaulicht. In der Masse der Menschen dahinter wimmelte es vor Polizisten.
In ihrer Tasche stieß Iris auf eine Sonnenbrille und hielt diese fest. Sie beobachtete den Flughafen aus dem Augenwinkel. Die Polizisten trugen Schlagstöcke und Pistolen. Doch offenbar waren sie hier, um die aufgeregte Menge zu beruhigen, die sich vor dem Flughafen versammelt hatte. Menschen brüllten durcheinander und verlangen, in den Flughafen gelassen zu werden, doch die Polizisten kontrollierten jeden einzelnen, was natürlich Zeit kostete.
Iris setzte ihre Sonnenbrille auf und seufzte. „Das ist mal wieder typisch mein Glück.“
Ihre Hand tastete zu dem Anhänger, den sie um den Hals trug. Er hatte die Form einer kupfernen Partone. Einen Moment umschloss sie das Schmuckstück fest mit der Hand.
Dann gab sie sich einen Ruck und setzte sich in Bewegung. Ihre Entscheidung war gefallen.
~*~
Angewidert starrte Keelan auf den Brei im Plastikschälchen, den sie hier oben als Essen verkauften. Irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Essen mit einem ähnlichen Ausdruck zurückstarrte. Das als ‚Rindfleisch mit Kartoffeln und Bohnen‘ angepriesene Gericht erinnerte mehr an Urschlamm. Irgendein begabte Koch hatte alle Zutaten verrührt und in die drei Flächen der Schale gegossen. Leider war dann irgendwas durchgeschüttelt worden, und nun hatte sich alles über den gesamten Teller verteilt und war eine unheilige Verbindung eingegangen.
Keelan seufzte, fischte mit spitzen Fingern die kleine Kotztüte aus dem Fach im Vordersitz und ließ die Ursuppe hineingleiten. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, einen Löffel von dem Zeug in den Mund zu stecken. Inzwischen war das Essen auch kalt. Was sie so von den anderen Passagieren mitbekommen hatte, sie tatsächlich mutig genug gewesen waren, um einen Bissen zu probieren, hatte sie ebenfalls nicht ermutigt.
Sie knotete die Tüte zu und legte sie unter ihren Sitz. Dabei schärfte sie sich ein, dass sie diese dort nicht vergessen durfte. Sonst würden die Inhaltsstoffe sicherlich neues Leben gebären, das die Gäste der Fluggesellschaft über Monate und Jahre hinweg terrorisierte …
Mit einem Schmunzeln dachte sie darüber nach, eine Geschichte darüber zu schreiben. Eine nette, kleine Horrorgeschichte, das hatte sie noch nie versucht. Doch andererseits war sie zu müde und hungrig, um sich die Idee aufzuschreiben. Sie lehnte sich in dem schmalen Sitz zurück und schloss die Augen. Nur für einen Moment …
Eine Lautsprecherdurchsage riss sie unbestimmte Zeit später aus dem Schlaf. Verwirrt sah Keelan sich um. Hinter den ovalen Gucklöchern war nur Schwärze zu sehen. Nachdem die Ansage auf Deutsch gelaufen war, wurde sie auf Englisch wiederholt. „Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir …“
Keelan zuckte zusammen. Sie waren schon da! Wie lange hatte sie geschlafen?
Noch benommen schnallte sie sich an und lehnte sich wie alle anderen Passagiere zurück. Irgendwo hinter ihr erklang Schluchzen und Wimmern. Eine Frau mit Flugangst. Ihre hysterischen Worte konnte Keelan allerdings nicht verstehen. Die Frau sprach Deutsch, oder womöglich sogar noch eine andere Sprache. Trotzdem wusste jeder im Flugzeug genau, was der Inhalt des Gemurmels war.
„Ich will nicht sterben, ich habe Angst, ich will nicht sterben …“
Ein Mann zwei Reihen vor Keelan wandte den Kopf, stöhnte übertrieben laut und rollte mit den Augen, um seinen Unmut kundzutun. Keelan hatte sich zwar selbst gefragt, wieso man mit Flugangst unbedingt einen Flug buchen musste, doch diese Reaktion war dann auch für ihren Geschmack zu unsensibel. Die Frau konnte ja auch nichts für ihre Panikattacke. Warum sollte man also auch noch auf ihr herumhacken?
Trotzdem sagte sie nichts und konzentrierte sich auf die Lichter über ihrem Sitz. Zu allem Überfluss war der Landeanflug holperig. Das Flugzeug wackelte, schwankte, sackte ein Stück ab … Sogar Keelan drehte es den Magen um, dabei hatte sie normalerweise kein Problem mit Flügen. Das Gebrabbel der Frau vibrierte wie eine Sirene in Keelans Ohren. Irgendein Mann sagte etwas und lachte darauf nervös. Ein Kind begann, zu weinen. Weitere Menschen stimmten in das Wehklagen der Frau ein.
Beim nächsten Absacken kreischte der junge Mann neben Keelan auf. Inzwischen krallte sie selbst die Hände in die Lehne. Die Stewardessen, die alles taten, um die Fliegenden zu beruhigen, nahm Keelan kaum noch wahr. Sie schloss die Augen, drückte den Körper in den Sitz und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
Ein heftiger Ruck. Das Flugzeug setzte auf dem Boden auf und hob sich wieder in die Luft. Wind heulte um die Maschine.
Ein zweiter Ruck. Lautes Schreien. Keelan presste die Kieder fest aufeinander.
Ein dritter Ruck. Diesmal blieb das Flugzeug am Boden, rollte, wurde langsamer.
Vorsichtig löste Keelan die Finger aus dem Polster der Lehnen. Jemand schluchzte. Ein anderer begann, laut zu klatschen.
Ihre Beine zitterten, als sie sich aus dem Sitz erhob und vorsichtig in den schmalen Mittelgang quetschte. Die Fluggäste konnten gar nicht schnell genug nach draußen kommen. Keelan wurde von der panischen Menge mitgespült. Doch die Flugbegleiter waren darauf vorbereitet und winkten die Passagiere durch den langen Gang, der am Flugzeug angeschlossen wurde, hinein in den Flughafen. Alles lief ausgesprochen glatt über die Bühne, obwohl die Situation nah an einer Massenpanik war. Keelan war solche Effizienz nicht gewöhnt. War das die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit? Die Lautsprecherdurchsagen, bis eben auf Deutsch, wurden nun auf Englisch wiederholt. Über dem Stimmengewirr schnappte Keelan nur Fetzen auf.
… entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten … Schlechtwetterfront bisher unbekannter Größe … bis auf weiteres kein …
„Ich kann’s nicht mehr hören!“, stöhnte jemand in der Nähe auf Englisch.
Keelan wühlte sich durch das Gedränge. „Was sagen sie? Ich verstehe kein Wort.“ Entschuldigend deutete sie auf ihre Ohren. „Das ist der Druck.“
Der Mann, den sie angesprochen hatte, sah sie überrascht an. Er war ein etwas dicklicher Mann mit braunem Haar, dem Anschein nach keine Vierzig. Als er sie ansah, wich der genervte Ausdruck in seinem Gesicht einem freundlichen, wenn auch etwas unpersönlichem Lächeln. „Na ja, das meiste ist einfach nur eine umständlich formulierte Entschuldigung über die unsanfte Landung. Die Deutschen machen gerne viele Worte um nichts. Aber sie geben auch durch, dass das schlechte Wetter den Flugverkehr bis auf weiteres unmöglich macht.“
„Bis auf weiteres?“, wiederholte Keelan. „Aber den Anschlussflug erwische ich doch noch, oder?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, wehrte der Mann höflich ab. „Ich bin kein Angestellter des Flughafens.“
Im Strom der Menge kamen sie an einem großen Fenster vorbei, gegen das der Regen heftig prasselte. Dann staute sich die Menge. Sie kamen an einer Tür an und eine Stewardess versperrte den Fluggästen den Weg. Sie begann, auf Deutsch zu reden.
Keelans Begleiter stöhnte.
„Was sagt sie?“, fragte Keelan. „Verstehen Sie etwa Deutsch?“
„Ich bin Dolmetscher“, antwortete der Mann. Keelans nervöse Art schien ihn langsam zu nerven, doch er blieb freundlich. „Sie werden es auch gleich noch einmal auf Englisch wiederholen, aber wir kriegen Betten im Ruhebereich des Flughafens und die Fluggesellschaft kommt ebenfalls für Taxi- und Hotelkosten auf, wenn jemand nun seinen Flug verpasst hat. Und sie hoffen natürlich, dass das Unwetter sich bald verzieht und entschuldigen sich wie immer für die Unannehmlichkeiten.“
Wie angekündigt wurde der Vortrag auf Englisch wiederholt, doch Keelan hörte kaum zu. Wie betäubt stand sie inmitten der Menge.
Was, wenn sie jetzt ihren Flug verpasste? Dann säße sie in Deutschland fest, ohne auch nur ein Wort der Landessprache zu beherrschen!
Die Stewardess gab die Tür frei und führte die Passagiere durch die große Halle dahinter. Keelan ließ den Blick durch den Raum schweifen und sah unzählige Gestrandete. Das waren keine normalen Fluggäste, das erkannte sie sofort. Sie hatten diese müden, verwirrten Mienen. Manche hatten sich mit ihren Koffern Betten gebastelt oder schliefen auf dem Boden, andere telefonierten. Viele sahen einfach trübsinnig geradeaus.
Die Stewardess teilte ihnen eine Reihe Sitzbänke zu, die nicht ausreichte, damit alle sitzen konnten. Mobiltelefone wurden gezückt. Soweit Keelan es verstand, waren auch viele hier gestrandet, für die dieser Flughafen das Endziel gewesen war. Doch das Unwetter war so stark, dass die Taxifahrt vom Flughafen zur Stadt ein großes Risiko darstellte. Kaum jemand nahm es auf sich, und dann musste man noch einen Fahrer finden, der bereit war, durch den Sturm zu fahren.
Verloren sah Keelan sich um. Was für ein Alptraum! Das konnte doch nicht real sein! Sie sah auf die Anzeigen der Flüge, aber viele der Meldungen waren auf Deutsch. Und sie verstand kein Wort Deutsch!
„Hey.“
Sie sah auf. Der Mann von eben stand vor ihr. „Wir wollten einen Informationsschalter suchen. Wollen Sie vielleicht mitkommen? Sie wollen ja auch etwas über einen Verbindungsflug wissen, nicht wahr?“
Sie sah ihn dankbar an. Zwar wollte sie auf keinen Fall zur Klette werden, aber in diesem fremden Land tat es gut, jemanden zu kennen, der ihre Sprache verstand.
Hinter dem Mann standen noch sechs weitere Männer. Auf den ersten Blick schienen sie nicht viel gemeinsam zu haben, außer ungefähr das gleiche Alter.
„Ich bin übrigens Markus“, stellte sich der Dolmetscher vor.
„Keelan.“
„Sehr erfreut. Und das hier sind meine Kollegen aus dem Dolmetscherkurs.“
Keelan musste lachen. „Das ist der erste glückliche Zufall seit … seitdem ich mich von meinem Mann getrennt habe, glaube ich. Vielen Dank für die Einladung.“
Markus grinste breit. „Gern geschehen.“
Keelan folgte den sieben Männern durch das Gedränge. Ihr Magen knurrte. Verflucht, sie hatte Hunger.
~*~
Das Schiff glitt rasch über die im Sonnenlicht glitzernden Wellen. Der salzige Seegeruch, die warmen Sonnenstrahlen und das Kreischen der Möwen könnten glatt aus einem Werbespot stammen. So weit vorne im Bug musste Ethan zudem – wie vermutlich alle Menschen – an den Film „Titanic“ denken.
Hier vorne fühlte man sich wirklich wie der König der Welt! Der Vierzigährige schloss die Augen und genoss das Gefühl der Sonne auf seiner Haut. Unter ihm gab es eigentlich nur noch die Wellen, vor ihm den Horizont. Ein perfekter Moment.
Im Grunde, dachte er sich, war Keelans Entscheidung, so sehr sie ihn auch überrumpelt hatte, ein Glücksfall gewesen. Viel zu viel Zeit hatte er vorm PC oder in der Schule vergeudet, statt das zu machen, wovon er seit seiner eigenen Schulzeit träumte. Es gab eine ganze Welt zu entdecken, und er wollte nicht nur Bilder im Fernsehen oder im Unterricht darüber lehren. Er wollte wirklich da sein – die Pflanzen berühren, die Luft riechen, mit den Menschen reden.
Wie viel Zeit hatte er nur in diesem Job verbracht, den er nicht einmal wirklich leiden konnte? Ethan sah auf das Meer hinaus und konzentrierte sich auf den Moment. Auch, um nicht zu sehr über die Trennung und die Streitigkeiten nachdenken zu müssen. Er könnte Keelan dankbar dafür sein, dass sie ihm die Augen geöffnet hatte – wäre die Art, wie sie es getan hatte, nicht so absolut verletzend gewesen.
„Weißt du, ich fühle mich irgendwie noch viel zu jung für eine Beziehung!“, äffte er sie in Gedanken nach. Mit ihrer fehlgeleiteten Midlife-Crisis hätte sie ihn gerne verschonen können!
Er atmete tief durch und schob die Gedanken beiseite. Jetzt wollte er die Fahrt nach Sardinien genießen. Ohne an seine Ex zu denken.
~*~
Er drehte die Musik lauter. „Haltet einfach die Klappe!“
Natürlich verstummten die Stimmen in seinem Kopf nicht. Seth stöhnte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Dann warf er ein paar Pillen hinterher, ließ sich auf das ächzende Sofa fallen und lehnte den Kopf hinten über die Lehne.
Da waren Flecken an der Decke. Die zermatschten Überreste von Motten und Fliegen, aber auch ein paar Spuren von geworfenen Gegenständen. Seit Exodus‘ Anfall gab es zum Beispiel ein Loch recht nach bei der Lampe in der Mitte, das deutlich die Ecke einer Stuhllehne nachzeichnete. Vor der Tür gab es ein paar dunkle Schleifspuren von Seths Jacke, die er manchmal mit zu viel Schwung überzog, sodass die Reißverschlüsse über den Putz schabten. So was geschah üblicherweise, wenn er in Gedanken mit Leo stritt oder Leo sogar an die Oberfläche drängte.
Er versuchte, sich auf die Klänge von Orphan Soul zu konzentrieren. Die Musik fühlte sich mehr und mehr wie Lärm an, der die Leere der Wohnung überdecken sollte. Es war unglaublich, wie sehr er Enila vermisste. Sogar die beiden Katzen hatte sie mitgenommen, zurecht in der Sorge, dass er nicht immer die Motivation aufbringen würde, die Futterschälchen zu füllen. Er liebte die Katzen, ja, aber es gab Tage, da erschien ihm jede noch so kleine Tätigkeit wie eine unendliche Last.
Die Punkte an der Decke wanderten ein wenig. Seth erhob sich. Er war nicht zufrieden.
Schwankend schlurfte er zum Kühlschrank. Ein vorbeifahrendes Auto schien durch das Fenster herein in das Wohnzimmer zu jagen, fuhr unsichtbar im Kreis und verstummte langsam wieder. Seth öffnete die Kühlschranktür. Ein Bier und noch ein paar Pillen mehr, das war sein Plan. Das helle Licht aus dem Kühlschrank strahlte ihm regenbogenfarben entgegen.
Doch das Bierfach war leer. Seth duckte sich etwas und spähte wider besseres Wissen in das Fach.
„Verdammte Scheiße.“
Er stieß die Tür zu. Der Kühlschrank wackelte.
„Verdammt, verdammt, verdammt.“
Er musste zum Supermarkt. Oder zum Kiosk, der war näher. Seth packte sein Portemonnaie und sein Smartphone ein. Ganz kurz zögerte, dann legte er die Walther PPQ wieder hin. Verdammt, er ging nur einkaufen. Das Messer steckte er aber ein. Sicher war sicher in diesem Viertel.
Ohne sich die Mühe zu machen, die Musik leiser zu stellen, schlurfte er in den Flur. Er trampelte die Stufen hinunter und stieß absichtlich gegen das Treppengeländer. Sollte die Welt doch wissen, dass er mies gelaunt war! Die Geräusche des klingenden Metallgeländers verwoben sich miteinander zu einem bunten Teppich, der Seth nach draußen auf die Straße folgte.
Ein paar Passanten sahen ihn seltsam an. Seth war das gewöhnt. Er achtete ohnehin nicht auf andere Menschen, außer, wenn diese ihm zu nah kamen. Der Chor in seinem Kopf wurde wieder lauter. Leo, Krieg, Jack und Sorkay brüllten durcheinander.
„Seid still!“, fauchte Seth sie an und spürte Speichel im Mundwinkel. „Haltet die Fressen.“
Er bemerkte Bewegung aus dem Augenwinkel und wirbelte alarmiert herum. Doch es waren nur zwei Mädchen, die vor ihm wegliefen und jetzt, als er zu ihnen herumfuhr, noch entsetzter aussahen.
Scheiß drauf.
Seth stapfte weiter und erreichte den Kiosk. Drinnen bediente derselbe alte Mann wie immer. Übergewichtig, nach Zigaretten stinkend und angenehm wortkarg. Keiner von diesen pseudo-freundlichen Kassiererinnen, die einen mit einem endlosen Text begrüßten.
Seth schlurfte zu den Billigbieren und nahm drei Sixpacks auf den Arm. Er schlurfte zurück zur Kasse, der Besitzer nannte den Preis, Seth schob einen zerfledderten Schein über die Theke und stopfte das Rückgeld in die Tasche seiner Hose. Dann schob er zwei Sixpacks unter dein einen Arm, nahm das dritte an die Hand und machte sich auf den Rückweg.
Und dann kam die Explosion.
Ein Blinzeln, und statt der Straße lag eine große Kugel hellen Lichts vor ihm. Dann erst hörte Seth den Knall und spürte die Hitze, die ihm wie eine Faust ins Gesicht schlug. Eine unsichtbare Macht traf ihn gegen die Brust, hob ihn an und schleuderte ihn mit dem Rücken auf den Gehsteig. Die Bierflaschen zerbarsten neben ihm.
In seinen Ohren klingelte es. Mühsam kämpfte Seth sich auf die Beine und sah sich um. Menschen rannten. Er hörte gedämpftes Geschrei. Sah seltsame Lichtspiele, Figuren und Formen in den zuckenden Flammen um sich her. In seinen Ohren vermengten sich reale Töne mit fiktiven. Er hörte ganze Orchester spielen.
Seth schüttelte den Kopf.
„Es wirkt! Das Zeug wirkt echt gut!“, jubelte Jack.
„Wir müssen hier weg.“ Das war vermutlich Seth‘ eigene Stimme. Oder Sorkay. Ein Rest von Vernunft im Chaos.
Zögernd taumelte er ein paar Schritte. Er sah dunkle Flecken am Himmel, die herunterfielen. Trümmerteile. Oder Halluzinationen. Orientierungslos taumelte er zurück in Richtung des Kiosks. Das Geschrei seiner Begleiter wurde lauter. Die leckenden Flammen überall weckten Leo und Krieg. Seth fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und versuchte, im Getöse der Stimmen seine eigenen Gedanken zu hören.
Die Wohnung! Dort war alles, was er besaß. Die Pistole!
Aber dort loderte das Feuer auch am heftigsten.