Es kribbelte ihm am gesamten Körper, so als liefen aberhunderte Ameisen darauf herum. Er glaubte gar einen Schleier vor den Augen. Es schien, als sehe man durch schlierendes Glas.
Sie verließen den seltsam anmutenden höhlenartigen Gang, wie sie ihn zuvor betraten. Unspektakulär und gänzlich ohne Hinweise darauf, wo sie sich befanden, noch wohin dieser führte. Und dennoch ... etwas war anders. Ungleich deren, was er vermutlich erwartet gar in seinen Vorstellungen zurecht gesponnen haben mag.
»Habe ich es dir nicht gesagt?« Erkundigte sich der Bringer, der die Unsicherheit des Jungen bemerkt haben musste, als er abermals neben ihn trat. Seine Hand ruhte auf dessen Schulter.
»Toll, Bringer. Wir sind draußen. Was ist daran so besonders und was bitte soll er denn nun gesehen haben?«
»Raya, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wirst du wohl niemals verstehen. Wenn ich dir sage, dass dieser Junge hier anders ist als du, solltest du es hinnehmen oder dich, wie so oft, bei deinem Vater ausweinen.«
Arryn blinzelte und sah vom Bringer zu seiner Sitznachbarin, die verduzt dreinschaute und zurück. Er rechnete mit Widerworten, doch hielt das Mädchen unerwarteter Dinge den Mund. Das hat gesessen. Alte Zicke. Doch, was sagte er gleich? Ich sei anders? Wie meint er das?
Nach und nach traten die Begleiter aus dem Tunnel und ins Freie. Sie legten übergeworfene Felle und wärmende Westen ab und sogen die frische Luft in ihre Lungen. Es war für die Jahrszeit unnatürlich warm. Zu warm, wie er urteilte.
»Wie ich bereits sagte: Wir genießen auf Hort die Jahreszeiten anders. Während sich am Fuße des Berges die Erntezeit dem Ende neigt und sich die Menschen auf die Besinnung vorbereiten, wechseln sich hier Blütezeit und Reifezeit ab.«
»Aber ...«
»Och du Dummie! Wenn der Bringer es doch sagt. Nimm es einfach hin, ja?« Sie sah zu dem Mann hinüber und schenkte ihm ein erzwungenes Grienen wie Wimpernschlag.
Arryn hob die Brauen und sah zu besagter Person neben sich. Dieser verzog die Lippen und deutete ein Lächeln an. Er schüttelte mit dem Kopf und verdreht kommentarlos die Augen. Der Bringer schritt voran und hob winkend seinen rechten Arm.
Arryns Gedanken überschlugen sich und versuchten die vielen Eindrücke des vergangenen Tages und derer des Heutigen miteinander in Einklang zu bringen. In einem verborgenen Ecklein seines Kopfes mahnte eine Stimme zur Vorsicht. All dies könne weder sein, noch rechtens sein. Alles, was geschah, passierte auf Grund eines vorherbestimmten Planes. Schicksal hatte sein Großvater dazu gesagt und ihm eingebläut, dass alles was er tat oder eben nicht, also sein Wirken, eine Ursache habe. Es gebe einen vorausbestimmten Weg, den er beschritt, aber wie er es tat, oblag einzig und allein ihm. Jeder ist seines eigen Glückes Schmied. Die Zukunft steht nicht in Stein gemeißelt.
Seine Nasenflügel arbeiten und blähten auf. Es roch nach reifen Ehren. Nicht nach Heu, gedroschenem Stroh und Laub. Eben so, wie es zur weibischen Zeit üblicherweise die Nase umwölkte. Nein, es durchdrang ihn. Er konnte es nicht nur riechen. Sein Gespür verriet ihm dasselbe. Die Luft wurde davon förmlich durchdrungen. Frische.
Eine Zutat des Lebens, als stünde alles auf diesem Berg in reinster Blüte.
Sein Herz machte Sprünge. Er glaubte gar, er vernehme dessen Jauchzen und könne es springen fühlen. Ein Gefühl, welches er bisweilen nur aus Erzählungen kannte. Vikka, die alte Vettel, sprach ab und an von jenem. Wenn junge Mädchen und Knaben ihren Rat ersuchten, sprach sie von solch Empfinden. Ihm schien, als sei er daheim.
Zuhause bei seinem Großvater fühlte er sich behütet und behagen. Ja, genau so ein Wohlsein umgab ihn. Sein Innerstes offerierte ihm ... Sicherheit.
Shalti trabte an dem Karren vorbei und stupste wiehernd seinen rechten Arm. Mit den Vorderläufen hüpfte sie auf und ab; gab lautstark von sich Kund.
»Was hat sie«, erkundigte sich Raya mit einem Fingerzeig auf sein Pferd.
Arryn blinzelte eine Träne fort und zog die Nase rauf. Mit dem Ärmel wischte er sich dieselbige. »Ich glaube ... sie spürt nachhause zu kommen«, erklärte Arryn nahezu flüsternd.
»Nach ... Hause? Du kommst doch gar nicht von Hort. Du hast es gesagt.« Unsicher wie siegessicher drehte sie sich ihm zu und erwartete eine Erklärung. »Nun?« Wie bereits mehrfach gesehen, verschränkte sie ihre Arme vor der Brust. Immer dann, wenn sie sich so gab, war sie sich ihrer sicher.
Noch bevor der Junge zu antworten vermochte, erhob sich direkt voraus eine von Menschenhand gebaute Mauer. Nicht minder zehn Schritte in die Höhe ragte diese zinnenbewehrte Feste vor ihnen auf. Durchbrochen wurde jene von einem sich öffnendem Tor, welches den Blick auf halb zerfallene Gebäude frei ließ.
»Nachschub! Kunde! Der Bringer naht! Öffnet das Tor!«