Wahrhaftig. Um sie herum wurde es sichtlich dunkler. Durchgehend des Seitentores bis zum gegenüberliegenden Ende, durchfuhren sie einen für Arryn seltsam präzise angelegten Tunnel. Staunend saß der Junge mit geöffnetem Munde da und schaute abwechselnd von links nach rechts. Brennende Fackeln, welche jedweder ihrer Bewegungen wie tanzende Schatten an die Wände nachzeichneten, säumten den Weg. Er glaubte zwei, wenn nicht sogar drei, nach oben führende Scharten und etliche Löcher innerhalb der Decke erspäht zu haben. Allein schon dieser kurze Weg durch die Mauer war ihm die Reise mehr als wert gewesen. Arryn schien sichtlich interessiert, obgleich er von der Stadt an sich noch gar nichts zu sehen bekam.
Das Tor hinterrücks schloss sich, kaum dass sie dieses passierten. Für einen kurzen Moment, es konnten nicht mehr als drei Atemzüge gewesen sein, glich dieser Gang einer einzigen Falle. Eingesperrt innerhalb einer meterdicken Mauer.
Ein gegenüberliegender Spalt öffnete sich und warf grelles Tageslicht auf den Weg. Ein zusätzliches Tor, eine weitere Sicherheitsmaßnahme. Was muss eine Stadt bewegen, sich einem solchen Schutz auszusetzen, wenn doch die Seeseite offenstand? Fragen über Fragen überwarfen sich in seinem noch jungen Geiste, die er vorhatte, seinem Großvater zu stellen. Inständig hoffte er, keine dieser zu vergessen.
»Junge. Du findest den Wall schon eindrucksvoll? Warte nur, bis du die Bauten dahinter erblickst. Ein erwachsener Mann durchschreitet die Mauer mit nicht weniger als fünfundzwanzig Schritten. Selbst die Armee des Marschlandes würde die Zinnen weder übersteigen noch den Weg durch die Befestigung hindurch überstehen.«
»Aber ... sie können das Tor kaputtmachen.«
Der Hauptmann lachte und Arryn glaubte gesehen zu haben, wie sein Großvater die Augen verdrehte. Hat er etwas Falsches gesagt? »Das könnten sie in der Tat. Drei aufeinander folgende Fallgitter würden sie jedoch an ein Weiterkommen hindern. Du hast bestimmt mitgezählt und so auch die Löcher gesehen. Öl, egal ob heiß oder kalt, ist kein Geschenk.«
»Genug davon, Baltha. Arryn ist noch zu Jung, als dass er sich mit Kriegstreiberei befassen sollte. Diese Sache liegt ihm nicht«, beendete Ighert das Thema und lenkte den Blick des Hauptmannes auf sich. »Lass es gut sein. Der alten Tage willen.«
Der Bogner teilte den lebhaften Stolz seines Freundes offensichtlich nicht. Was auch immer die Zwei einst verband, eine ebensolch tiefe Kluft hielt sie einander fern. Arryn schien sich dessen sehr sicher. Wenn sein Großvater es ihm zugestand, würde er ihm so manche Frage stellen. Er hoffte darum, war er doch schließlich ein Kind und Kinder waren nun einmal neugierig.
Kaum das sich das Innentor hinter ihnen schloss, zog Ighert an den Zügeln. Das Zugpferd wieherte, lediglich Shalti verhielt sich gelassen und stupste seinen Nachbarn beruhigend an. Der Karren stand und Arryn nutzte die Zeit, sich umzuschauen.
Sie hielten sich in einem inneren Hof auf, gänzlich von hohen Mauern umgeben. Zur Linken schwang ein Schmied einen schwer aussehenden Hammer. Immer wieder drosch dieser auf rot glühendes Eisen. Zur Rechten pflegten Soldaten Pferde in Unterständen und andere inspizierten Waffenständer. Ringsherum und hoch gelegen wie ein Balkon eines zweistöckigen Wohnhauses, umspannten hölzern bewehrte Gänge den gesamten Innenhof. Hinter ihnen, zu beiden Seiten, führten breite steinerne Treppen hinauf zu den Zinnen des Walles.
Hauptmann Baltha nickte indes und sprang vom Bock. Er schenkte dem neugierig dreinblickenden Jungen ein Augenzwinkern. Ighert hingegen hielt er die Hand hin. Es dauerte mehrere Momente, in welchen Arryn bereits annahm, dass sein Großvater den Gruß nicht erwidere.
»Ighert«, begann Baltha. Er hob seinen Arm noch ein Stück weit höher.
Der alte Bogner schnaufte und schluckte eine Erwiderung herunter. So als wäre nicht er der Erwachsene, sondern sein Enkel, ersuchte er um dessen Bestätigung. Dieser lächelte und lupfte eine Braue, dessen Gestik seinem Oheim ein Lächeln abforderte. Er wuschelte abermals und wie so oft dessen Haar. »Recht hast du, mein Junge.«
An seinen Freund gewandt schwand dieses Schmunzeln hingegen. Dennoch, er ergriff dessen Handgelenk und beide tauschten einander viel sagende Blicke. Sie führten ein unausgesprochenes Wortgefecht, ohne das ihre Lippen Laute formten. Ighert nickte. »Auf das wir uns wieder sehen ... alter Freund.«
Für Baltha schien dieser Abschied, diese Floskel jedoch nicht das Ende zu sein. Er hielt den Bogner weiterhin fest im Griff. Mehr noch. Es hatte den Anschein, er wolle ihn vom Bock ziehen.
»So sehr ich mich freue dich wiederzusehen, auch die Bekanntschaft mit deinem Zögling machen zu dürfen ...«
Arryn stutzte der Worte, ebenso sein Großvater. Dieser runzelte die Stirn und blickte verstohlen auf. »Junge. Halte die Zügel. Ich muss mir das Rad ansehen, irgendetwas stimmt nicht. Hoffentlich ist die Nabe nicht gebrochen.«
Er schwang sich zu Boden und nestelte fachkundig am Rad ihres Karrens. Er rüttelte, schwenkte und zerrte. Die drei wussten, dass der Wagen einwandfrei war, und daher schwieg Arryn vorsorglich. Ihn beschlich wieder einmal ein ungutes Gefühl.
»Was passiert hier«, forderte Ighert zischelnd zu erfahren.
Anstatt zu antworten, winkte sein Freund lautstark zwei Soldaten herbei. »Bringt Wasser für den Knaben. Für den Mann ein Bier. Wird es der Karren bringen oder soll ich den Schmied rufen?« Das stete Hämmern pausierte, als eben jener aufsah. Er trat bereits einen Schritt vor seinem Amboss und wischte sich grinsend die Hände an einer schmuddeligen Schürze, als er den Blick Igherts begegnete. Dieser hob allmählich den Kopf und zog die Stirn kraus. Seine Augen sprachen scheinbar Bände und veranlassten die Schultern des Schmiedes zu zucken. Dieser schüttelte im Gegenzug nun seinen Kopf, als das rhythmische Schlagen von Metal auf Eisen erneut begann.
»Der König umgibt sich neuerdings mit Fremden.«
»Das tun Könige nun einmal. Gehört wohl zu deren Aufgaben, habe ich mir sagen lassen.«
»Mmh. Mag sein aber diese Leute ...«
Harsch zog Ighert den Hauptmann in die Hocke und deutete mit der Hand auf eine Stelle unterhalb seines Karren. »Um mir das zu erzählen, hältst du mich auf? Hier?«
»Er hat eine neue Einheit ausgerufen. Sie untergraben Autorität und bestehende Ordnungen. Rekrutieren sich aus Gesindel, bekannten Strolchen, der Regimenter und meinen Männern. Aus offiziellen Verlautbarungen heißt es, dass diese Truppe für Ordnung und Sicherheit einstünde. Diese Männer und Frauen würden unsere Wachgänger unterstützen und Grenzen sichern.«
»Was ist so verkehrt daran?« Die Stimme Igherts wurde merklich ungehaltener.
»Niemand weiß, wer sie sind. Auch woher sie kommen, ist ungewiss. Unten liegt ein unbekanntes Schiff vor Anker. Kein Name, kein Hinweis auf dessen Herkunft. Ein Großteil des Hafens, deren Docks, Piere und Trassen wurden als Sperrgebiet deklariert. Leute, die hinuntergehen oder gebracht werden, sieht man selten bis gar nicht wieder.«
»Das klingt in der Tat seltsam aber was interessiert mich das?«
»Mein Freund. Der alten Tage willen beschwöre ich dich und hoffe inständig, dass dein Besuch nichts mit diesen Leuten zu tun hat. Der König und seine Berater rüsten die neue Truppe großzügig aus und geben ihnen die besagte lange Leine. Ganze Heerscharen von Handwerkern arbeiten nur noch für diese. Ausschließlich.«
»Mein Auftrag ist eindeutig.«
»Vom König selbst unterschrieben und gesiegelt. Ich habe das Schreiben gesehen. Was glaubst du, aus welchem Grunde ich dich abgeholt habe?«
Ighert hob die Schultern und schülpte die Lippen. »Um mir Vorrang vor anderen zu gewähren?«
Tief sog Baltha Luft in seine Lungen. Dessen Brust wölbte sich, als er sich aufrichtete und das Beinkleid abklopfte. »Deine Arbeit, die Qualität die du lieferst, ist landesweit bekannt. Was glaubst du, bestünde uns bevor, wenn unser König sich mit den begabtesten jeden Handwerks umgibt? Du weißt sehr wohl, dass ich der Letzte bin, der beschreit, was offensichtlich ist. Nicht nur ich bin mir dessen sicher, Ighert. Der Rauch der Essen verweht nicht mehr. Die Schmieden, deren Öfen des Nachts auskühlen, sind nicht jene, die Waffen und Rüstungen herstellen. Weiher rüstet sich.«
Arryn musterte die beiden Männer. Er bekam nicht mit, über was die Zwei sprachen. Da er selbst unlängst davon ausging, dass etwas mit ihrem Karren nicht stimme, mussten die anwesenden Soldaten von Ähnlichem ausgehen. Immer wieder deutete sein Großvater auf das große Rad und symbolisierte das knacken eines Astes. War etwa eine der Speichen gebrochen?
»Glaube mir, wenn ich dir sage, dass bereits einige meiner Jungs überlegen, sich davonzustehlen. Ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Leute verschwinden spurlos und wir werden in unserem Bestreben die Fälle aufzuklären brüsk abgewiesen.«
»Trage deine Gedanken dem König vor«, riet Ighert ihm. »Er wird dir zuhören. Du bist schließlich der Hauptmann der Nordwacht.«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte Arryns Großvater mit wachem Blick. »Du lässt es also geschehen? Einfach so? Bist du noch der Baltha, den ich einst kannte?«
Der Hauptmann hieb die rechte Faust in seine offen gehaltene Linke und fluchte lautstark, so als würde er die Situation verfluchen. Unterstreichend trat er gegen den Karren und spukte aus. Ob das nun tatsächlich gespielt war?
»Ich sagte doch eben, dass Leute verschwinden.«
»Und? Tun sie das nicht immer und seit jeher?«
»Wenn es sich dabei nicht um wichtige Posten halten würde, käme ich damit zurecht. Es sind unsere eigenen Leute, die einfach nicht mehr aufzufinden sind; kein Gesinde von nebenan. Soldaten. Hauptmänner. Sogar jene, deren Geld und Einfluss dem Rat bisweilen wie ein Dorn ins Auge stach, neigen das Haupt.«
»Es wird schon nichts dergleichen sein. Würden wir uns nicht kennen, ich muss eingestehen, ich ginge dich anschwärzen.«
Sämtliche Züge entschwanden seinem Gesicht. Dieser Hieb saß tief und schmerzte den gestandenen Soldaten sichtlich. Er rang um Worte und entfernte sich einen Schritt. Er nickte unentwegt, als Ighert den Bock betrat und die Zügel von seinem Enkel übernahm.
»Es ist dennoch nicht gut. Ihr solltet nicht hier sein. Dieser schwarze Hauptmann ist gefährlich.«
»Lass gut sein alter Freund. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen.«
»Auf das wir uns wiedersehen«, hauchte der Hauptmann als Ighert mit der Zunge schnalzte und der Karren anfuhr.