Rither, Rayas Vater war bewusst, dass er von dem Jungen nicht zu viel fordern gar erwarten durfte. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er in den letzten Stunden so einiges hat durchmachen müssen. In diesem Alter zu viel, viel zu viel, seiner Ansicht nach. Seine Gedanken schwelgten zu seiner Kleinen und versuchte sich vorzustellen, wie sie sich in dessen Situation wohl verhalten würde. Beide waren nahezu gleich Alt doch dieser Junge? Er wirkte um ein Vielfaches stärker und Reifer als Gleichaltrige es sein sollten - dürften. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz; dennoch musste er wissen, woran er war. Es ergab für ihn keinen Sinn. Dieser ... unbekannte Knabe. Die Stute und das Medaillon des Ratsältesten, welcher sich wissend abseits Horts aufhielt. Wie und wo waren zusammenhänge? Was galt es zu beachten oder zu tun?
Arryn schniefte erneut, drehte die Habe seines Großvaters vor den Augen und gab den Tränen freien Lauf. »Großvater«, raunte er und zwinkerte abermals die Augen frei.
»Du musst etwas essen, Junge«, versuchte Rither ihn aus seiner Lethargie zu befreien. Väterlich legte er seine Rechte auf dessen Schulter und schenkte ihm ein Lächeln, dass Arryn jedoch mit zugekniffenen Lidern quittierte. Die scheinbar unaufhaltsamen Tränen hinterließen Spuren auf seinem Gesicht.
»Komm schon Arryn. Iss und im Anschluss daran suchen wir dir ein paar saubere Sachen heraus. Natürlich, nachdem du dich gesäubert hast. Erzählen kannst du mir dein Abenteuer auch danach.«
Angesprochener schluchzte erneut, wischte sich die Nase mit dem Ärmel und wagte einen vorsichtigen griff hinüber zu seinem dastehendem Mahl - frisches Brot und noch handwarme Kartoffeln. Tief holte er Luft, nickte aber zustimmend. Sich leicht anhebende Grübchen zeugten von einem angedeuteten Lächeln.
Rayas Vater schloss dankend die Augen und lächelte. Seine Hand von der Schulter nehmend, legte er ihm auf den Kopf und zersauste ihm das Haar. »Lass dir zeit hörst du?«
»Großvater macht das immer mit mir«, gestand der Knabe kleinlaut und mit vollem Munde.
Rayas Vater sah bereits im Gehen zurück. »Wie? Was meintest du?«
»Na, meine Haare.« Mit der angebissenen Kartoffel in der Hand zeigte er auf seinen Kopf. »Was habt ihr eigentlich immer nur mit meinen Haaren? Ständig zerzaust Großvater sie mir und jetzt auch noch ihr. Was habt ihr Erwachsenen davon?«
»Mmh.«
»Ja?« Endlich. Die Tränen waren versiegt. Stattdessen stahl sich dem Jungen Neugierde wie Zuversicht ins Gesicht. Man könnte meinen, er versuche zu schmunzeln. Rither lag also doch richtig mit seiner Beobachtung. Aus einem verschmitzten Grübchen kann ein Lächeln erwachen.
»Also ...«
»Ich höre?«
»Wieso fragst du das?«
»Nun, mich interessiert nun einmal, aus welchem Grunde Erwachsene sich erlauben, ständig anderen die Haare zu zerzausen.« Seine Schultern zuckten aufwärts, so als wolle er seine Unwissenheit untermauern. »Welchen tiefsinnigen Grund könnte dies wohl haben, mhm?« Erwartungsvoll besah er seinen verduzt dastehenden Gegenüber und wippte mit seiner angebissenen Kartoffel in der einen und dem Brot in der anderen Hand.
Rayas Vater legte den Kopf schief und fuhr sich mit der Hand über Kinn. Seine Stirn hob sich und seine Brauen zuckten. »Du bist doch gleich ... wie Alt?«
»Acht«, beschied Arryn kauend und bis ein gutes Stück des Brotes ab. »Wieso?« Wiedererwartend klang der Junge nuschelnd. Kunststück mit vollem Munde.
Anstatt zu antworten, schüttelte der Mann lediglich das Haupt und grunzte vergnügt, als er in Richtung einer abseitsstehenden Komode ging. »Acht«, lamentierte er. »Dass ich nicht lache.«
Nachdem Arryn sich gestärkt und über einer Schüssel warmen Wassers säuberte, saß er mit einem ihm viel zu großem Hemd im Schneidersitz auf Rayas Bettstatt. Seines Großvaters Medaillon lag auf seinem Schoß.
»Du siehst schon bedeutend besser aus.«
Arryn sah an sich herab und hob die linke Wange. »Danke. Ich fühle mich auch so. Schau ...« Er streckte seine Beine aus. »Das Wasser reichte sogar, um mir die Füße zu waschen.«
»Magst du mir von deinem Abenteuer berichten?«
Arryn war schon zuvor aufgefallen, dass ihn niemand nach dem gestrigen Tag fragte. Wiederholend beruhte Rayas Vater sich auf ein Abenteuer. »Ihr«, begann er somit und wurde sogleich wieder unterbrochen.
»Bitte sag du. Ich bin weder vom Adel noch bin ich herrschaftlich. Nenn mich einfach Rither, einverstanden?«
»Na gut«, bestätigte Arryn und rückte sich zurecht. »Mein Großvater ist der wohl bekannteste Bogner im ganzen Land und heißt Ighert. Er hat mir alles beigebracht, weißt du?«
»So. Hat er das?«
»Ja, natürlich ...«
Arryn berichtete Rayas Vater weitestgehend von all jenen Handarbeiten, die er bereits erlernte, und schien sich vollends in seinem Redefluss erlösend zu zeigen. Er freute sich sichtlich darüber, dass er frei heraus reden durfte und endlich einen Zuhörer fand. Ab und an warf dieser eine Frage ein, die offenkundig nur wenig mit seinem Werken zu tun hatte, ließ es ihm hingegen durchgehen. Was wusste er denn schon vom Schnitzen und solch filigraner Arbeit?
Wie dem auch sei. Interessant wurde es seinem Gegenüber, als er begann zu berichten, was ihnen widerfuhr, als sie Weiher betraten und ihm eingebläut wurde.
»Hast du eine Ahnung, was der Älteste, ich meine Ighert. Ach Arryn, was dein Großvater gesehen haben könnte?«
Verneinend schüttelte der Junge den Kopf. »Ich sollte keine Fragen stellen.«
»Mmh. Verstehe. Kanntest du denn diesen Hauptmann der Nordwacht? Baltha heißt er?«
»Nein, woher auch. Auch diesen eigenartigen Glaubensmann, diesen ...« Sein Kopf wippte hin und her und er tippte sich mit dem Zeigefinger auf das Kinn. »... Schönling.«
»Schönling? Wie darf ich das verstehen?«
»Ich weiß nicht, wie ich ihn sonst beschreiben soll. Ich habe noch nie in so ein ... Gesicht gesehen. Nicht einmal bei einem Mädchen.«
»Schön«, sprach Rayas Vater leise und mehr zu sich selbst. Seine Gedanken schweiften sichtlich in die Ferne.
»Ja genau«, Arryn zuckte mit den Schultern. »Anders kann ich es nicht beschreiben. Nicht hübsch wie eine Blume oder niedlich wie ein Mädchengesicht. Schön halt.«
»Mmh und dieser Mann hat dich an dein Versprechen erinnert?«
Arryn erzählte davon, was sein Großvater ihm auftrug und wie Shalti ihn davontrug. Dass er mit sich haderte, und überlegte einfach nachhause zu reiten, um dort die Nacht zu verbringen, verheimlichte er ihm nicht. Tränen sammelten sich erneut in seinen Augen, als er von dem immensen Feuer berichtete und Shalti ihm nicht erlaubte sie dorthin zu führen. »Ich habe noch nie erlebt, dass sie so störrig war.« Er griff sich an jene Stelle, unter welcher sein Herz pochte. »Es tat so weh und ich weiß, dass etwas Schlimmes passiert sein muss.« Seine Lippen bebten. »Ich wollte doch nur helfen.«
Arryn spürte eine Hand auf der seinen. »Und es war gut so. Glaube mir. Wenn diese Männer dich gesehen hätten ... vermutlich wärest du jetzt nicht hier bei uns.«
»Meinst du?«
Sein Gegenüber nickte. »Rayas Mutter, meine Frau, kam kurz vor dir an. Sie schien wie von Sinnen und gehetzt. Sie erzählte uns von mehreren Reitern, die das Dorf nach einer Frau und ihrem Balg durchkämmten. Sie gingen nicht zimperlich vor.«
Arryn schluckte. Er befeuchtete mit der Zunge seine noch immer zitternden Lippen. Seine Wangen fingen an zu zucken.
»Sie brannten nieder, was deren Fackeln erreichten und viel schlimmer noch als das, ist, dass es niemanden gab, der sich ihnen hätte in den Weg stellen können.«
»Die Felder liegen alle samt hinter dem Wald.«
»Genau Arryn. Die Arbeiter wären niemals rechtzeitig eingetroffen.«
»Wo ist Rayas Mutter jetzt?«
»Sie brach noch in derselben Nacht auf. Das halbe Dorf brannte und hatte unter den Unmut dieser Leute zu leiden, weil sie weder diesen Jungen fanden noch die Mutter oder andere haben zum Auffinden beitragen können.« Die Hand auf der seinen drückte zu und die Stimme Rithers wurde flüsternd. »Viele ließen in der vergangenen Nacht ihr Leben, um einen Knaben deines Alter zu schützen.«
»Aber, aber sie kommt doch wieder?«
Rayas Vater nickte. »Natürlich.« Er wusste nicht, an wen der Junge augenblicklich dachte, wollte ihm jedoch nicht seiner Illusion berauben.
Arryn hob das Medaillon und ließ es in den Fingern drehen. »Großvater wird kommen. Er hat mir versprochen Mutter zu holen und dann will er es wieder haben.«
Raya kam herein und sah die befremdliche Szene. Fragend stand sie in der Tür, durch welche kalter Wind wehte.
»Vater?«
Angesprochener sah auf. Er selbst trug Tränen in rot unterlaufenen Augen. »Raya«, begann er mit belegter Stimme. »Laufe los und erzähle dem Bringer, dass Arryn schleunigst hinauf muss.
Raya schaute von ihrem Vater zu Arryn und zwinkerte ungläubig. Sie nickte jedoch und schloss die Tür.
»Hinauf? Wo ist das?«
»Arryn, wir bringen dich dorthin, wo der Älteste dich wissen möchte. Hier bei uns, bist du zwar ebenso sicher aber dein Ziel ist noch nicht erreicht.«
»Aber ... wo ist denn mein Ziel und was heißt hinauf? Wo bin ich überhaupt?«
»Wir bringen dich nach Hort und du bist in einem kleinen Dorf am Fuße des Berges. Abseits bekannter Wege. Unsere Familien, unsere Vorfahren leben hier bereits seit Urzeiten und haben mit den Ländereien da draußen nicht viel gemein.«