Sie nährten sich Igherts Ziel.
Oben, auf einer seichten Anhöhe überragte ein monumentales Bauwerk all jene, an denen sie bisweilen entlangfuhren. Umgeben von einer mannshohen Mauer, schien dieses einen gewaltigen Platz einzunehmen. Obstbäume wuchsen in regelmäßigen Abständen entlang der Umgrenzung und entkräfteten deren harten Kontrast zum kalten grauen Mauerwerk.
»Ist das die Glaubenseinrichtung, von der du sprachst?«
»Mmh, ja das ist sie.« Ighert zeigt voraus. »Da, diese Straße dort ist die Grenze.«
»Wie kann eine Straße denn eine Grenze sein?«
»Nun, sie symbolisiert im Grunde nur die Viertel. Von dort an werden wir Leuten begegnen, die mehr haben, als andere. Verstehst du?«
Der Junge nickte und versuchte zu erkennen, was er noch gar nicht sehen konnte. »Ich glaube schon. Leben da auch die Leute, die sich für besser halten?«
»Sch. Sag so etwas nicht. Schon gar nicht, wenn andere es hören könnten. Wie kommst du nur auf solche Flausen?«
Er zuckte die Schultern, so als wäre es nichts Verwerfliches und gehöre zum guten Ton. »Och. Die alte Vikka und ...«
»Diese alte Klatschtante«, wetterte der Bogner kleinlaut und mehr der eigenen Person.
»Das sagt man aber auch nicht, Großvater«, bestimmte Arryn mit ernst dreinschauendem Blick.
»Da gebe ich dir Recht, mein Junge. Schau, wir sind gleich da.«
Arryn hätte nicht einmal im entferntesten daran geglaubt, dass vor einem Gebäude, schon gar nicht eines wie diesem, dermaßen geschäftiges Treiben möglich sei. Bisweilen ging er stets davon aus, dass es sich um Orte der Besinnung und Ruhe halten müsse. Weit gefehlt. Vor den Türen und Toren dieses riesigen Bauwerkes ging es zu wie auf einem Marktplatz. Fuhrwerke wurden be- und entladen. Waren an und um Ständen feilgeboten. Mancherorts saßen Männer wie Frauen im Halbkreis, um zu lauschen. Vor ihnen stand oder saß in eben solcher Weise ein in zumeist einfarbig Weiß oder Grau gehaltener Robe. Bis auf farbliche Unterschiede ihrer Bauchgurte schienen sie sich zu gleichen.
Ighert bemerkte die Neugierde seines Enkels. »Prediger. Siehst du deren Schärpen? Eine Farbe für jeden Glauben. Gemeinsam jedoch dienen sie hier in dieser prachtvollen Einrichtung. Gebaut von vielen für eine einzigartige Sache.«
»Aber ... ich dachte ...«
»Dass jeder Gott, an welchen man glauben möchte, sein eigenes Haus benötige?«
Arryn nickte. Der Mund stand ihm offen, so fasziniert war er der einkehrenden Eindrücke.
»Darüber waren unsere Vorfahren, als sie auf Qedrela anlandeten, bereits hinweg. Stell dir nur vor, sie stritten nicht einmal. Es bedurfte schlicht dieser einen Idee und alle übrigen waren gleichermaßen einverstanden. Spart wohl bis heute jede Menge ein.«
»Oh ich weiß. Baumaterial, Arbeiter, Verpflegung ... Unterhalt halt und vor allem das Liebste der Reichen.«
Wie so oft an diesem Tag wuschelte der Bogner Arryns Haar. »Du hast es verstanden«, lachte er und winkte dabei in Richtung einer größeren Tür, aus welcher eine gebeugte Person trat. Arryn hob die Brauen und schülpte die Lippen. Dieser Mann musste nun wirklich Alt sein. Er besann sich jedoch und behielt die Frage lieber für sich, als er anstatt des wohl bekannten Zausens einen leichten Klaps auf dem Hinterkopf spürte.
»Alam. Mein guter alter Alam«, rief Ighert voller Freude und führte Arryn ihm entgegen.
Jener, der auf diesen Namen hörte, hielt einen armdicken Stock als Gehhilfe. Sein Lächeln umfasste nicht nur Ehrlichkeit und Weisheit. Vereinzelt fehlten ihm ein paar Zähne, stellte der Achtjährige ohne zu kommentieren fest. Abermals fühlte er dieses Klopfen. Ob Großvater jetzt sogar schon Gedanken lesen konnte?
»Da sprichst du wahr. Immer noch der Direkte, wie eh und je. Ighert, begnadeter Bogner und Freund des Hauses. Wie meine alten Ohren vernehmen, bist du auf Besuch. Treibt dich der Wunsch auf Wiedersehen oder die Gier einer beinahe dazumal Schuld?«
Beide Männer umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. Ighert raunte ihm dabei etwas im Vertrauen zu und lösten sich anschließend. Alam, der der Oberpriester dieser Einrichtung zu sein schien, nickte und schenkte Arryn ein Lächeln. »Dann ist dieser vortreffliche junge Mann wohl jener? Ein Mann im Jungen, weiter als so viele seines Alters?«
Angesprochener rümpfte die Nase und zog die Stirn Kraus. Es war niemand anderes zugegen und so konnte er nun ihn meinen. Alam schnalzte die Zunge und zeigte wieder sein Lächeln, als er die junge Hand zum Gruße ergriff. »Ich bin Arryn«, gestand der Jüngling kleinlaut.
»Hoch erfreut junger Freund. Nenn mich doch bitte Alam. Meinetwegen auch gern Onkel Alam. Die übliche Anrede möchte ich dir ersparen.« Er wies mit seiner freien Hand, jener, in welcher er seinen großzügig proportionierten Gehstock hielt in Richtung Tür, aus welche er zuvor trat.
»Kann ich mich darauf verlassen?« Ighert sprach nicht laut. Arryn vermochte hingegen seit jeher vortrefflich hören, was ihm daheim nicht selten eigenartige Blicke zusicherte. Er wusste schließlich, wer was sagte, gar flüsterte. Kinder, die das Spiel ›stiller Bote‹ spielten, ließen ihn aufgrund dessen schon gar nicht mehr teilnehmen. Er gewann jede Runde und so waren sie einander übereingekommen, dass er mogle.
»Mach dir keine Sorgen. Alles wird vorbereitet sein und längst auf dem Weg, wenn ich auch nur erahne, dass etwas nicht recht scheint.«
»Danke.« Ighert schnaufte. Es klang irgendwie ermattend. Genaus so hörte es sich an, als er seinen Platz auf dem Bock einnahm und losfuhr. Was war nur los? Arryn war sich sicher. So hatte er seinen Großvater noch nie erlebt. Was es auch sei, es musste mit den Docks zu tun haben. Demnach musste auch dieser Hauptmann am Tor, Baltha, nicht ganz unrecht haben. Arryn beschlich wieder dieses merkwürdige Gefühl, dessen er nicht erklären konnte.
Ein jugendlich aussehender Mann kam herbeigeeilt und verneigte sich vor Alam. »Führe bitte unseren jungen Gast in die Küche. Der Weg von seinem Heimatdorf war lang und anstrengend. Sei so Gut und unterhalte ihn ein wenig, ja? Es ist sein erster Besuch hier.«