»Was bei den Gütigen ist denn hier los?« Grollte der Hauptmann der Nordwacht und erhielt von jenen, die mit ihm waren Beistand. Seine Männer beäugten das Durcheinander mit großen, schreckgeweiteten, Augen.
Ighert legte Baltha die Linke auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. Er stieg von seinem Pferd und schritt, sich umsehend, durch gemergelte Leute. Einige von ihnen waren ihm bekannt und nicht minder wenige kannten hingegen auch ihn. Schmutzige wie verletzte Hände hoben sich flehend in seine Richtung.
Vor einer alten Vettel, die sich um eine Gruppe Älterer kümmerte, blieb er mit vor Verblüffung zuckenden Augenlidern stehen. Er ging in die Hocke und ergriff ihre faltigen Hände. Er sah ihr ins Gesicht. Seine Augen suchten nach Antworten, die, wie er glaubte, in den ihren lesen zu können.
»Ighert? Oh Ighert, wie gut das ihr zwei hier seid.« Sie sah an ihm vorbei und hatte wohl bisweilen nicht bemerkt, dass den Mann mehrere Bewaffnete begleiteten. »Du hast Soldaten mitgebracht«, stellte sie fest. »Dann hörte man bereits in der Knöigsstadt von dem Frevel?«
Der alte Bogner ließ einen Laut erklingen, der an ein verächtliches Schnauben erinnerte, und hielt seine Stimme bedeckt. Sein Augenmerk richtete sich hinüber zu seinen unliebsameren Begleitern, welche sich sichtlich bemühten unbeeindruckt zu wirken. Tatsächlich schoben sie nach Hilfe greifende Hände brüsk von sich. Ihre Blicke, ja ihre Haltung selbst, zeugte von schierer Ablehnung. Die Männer hielten ihre Schwerthand zugriffsbereit. »Die Leute kommen aus dem Nachbardorf, Vikka. Von welchem Frevel sprichst du?«
Die alte Frau presste ihre Finger, so fest sie vermochte, zusammen, so als wolle sie ihren Gegenüber wehtun. Ungläubig hob sie den Kopf. »Aber Ighert. Die Männer, mit denen du hier bist ...«
»Sind nicht hier, um zu tun, woran du glaubst«, unterbrach er sie. »Vikka. Diese Männer ...« er bedeutete mit einem leichten Nicken in deren Richtung. »kamen mit mir, um mich daran zu erinnern, dass ich ja nicht ein einziges meiner Werkzeuge vergesse.«
Ihr Mund öffnete sich bereits erneut doch Ighert hielt sie vom Sprechen hab. Er zog an ihren Händen und umarmte sie. »Hör mir zu Vikka.« Er raunte ihr ins Ohr. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis die Erkenntnis ihr in die allmählich langsamen Gedanken sickerte. Brüchig und mit Tränen in den Augen erwiderte sie die Umarmung.
»Es gab keine Kunde, die uns erreichte. Die einen wollen mich zwingen, die anderen mich beschützen.«
»Ich sehe einen alten Wegbegleiter. Steht ihr abermals zusammen?« Sie sprach den Satz zu Ende, doch glaubte sie ein deutliches Schlucken, aus Igherts Halse herauszuhören. Der alte Bogner trug schwere Last auf seinen Schultern. »Wo ist der Junge?« Ihre Augen huschten in alle Richtungen.
Sein Blick weiß den ihren nach Norden. Er konnte ihn von ihrem Standpunkt aus nicht sehen, auch wenn sein Gedankenbild riesige Ausmaße einnahm. »Der Berg trennte nicht nur mich und Baltha.«
Wissend nickte Vikka und schob ihn von sich. »Er wird auf dich warten. Tu, was immer du tun musst, Ältester. Der Junge weiß sich zu helfen und wird seinen vorherbestimmten Weg finden.« Abschließend streifte sie mit beiden Händen sein Gesicht.
»Solch eine Untat gab es seit Jahren nicht mehr«, schimpfte Baltha, der neben ihn getreten war und zornig dreinblickte. »Ihr Dorf wurde des Nachts überfallen und beinahe komplett abgefackelt. Sie schändeten, wohl wissend, dass die Männer auf den weit entfernten Feldern ruhten.«
Anstatt ihm zu antworten, sah Ighert sich erneut und mit neuer Erkenntnis um. Die an unmöglichen Stellen zerschlissenen Kleidungsstücke, Blessuren und Verletzungen an Armen, Hals und Gesichtern. Die hier Lagernden, überwiegend Frauen und Kinder in lockendem Alter. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wer vergeht sich an ihnen? Was wollten sie?«
»Heda! Bogner! Ihr habt eine Aufgabe zu erledigen und wir haben nicht genügend Zeit einen jeden zu umarmen. Sputet euch und rafft den Kram zusammen, den ihr mitnehmen müsst. Tut es selbst oder wir werfen alles auf den Karren.«
Zustimmendes lachen echote aus Reihen seiner Gefolgschaft. Drei seiner schwarzen Mannen hielten auf den Weg zu, der zu seinem Haus und Werkstatt führte. Sie kennen den Weg. Wie lange beobachten diese Schergen mich schon? Sie wissen dann auch von Arryn.
»Was glaubst du, alter Freund ...«, unterbrach Baltha ihn in seinen Gedankengängen, in welchen sich ein Bild manifestierte. »hat dem Dorf wohl zugesetzt?«
»Woher soll ich das wissen? Wir lagerten in einem Schlammloch. Du erinnerst dich?«
Sein einster Wegbegleiter, wie ihn die Vettel nannte, lachte auf. Es klang nicht einmal ernst gemeint. »Sicher. Sicher tu ich das. Aber dennoch kann ich mir gut vorstellen, welche Art Mensch zu solch Taten fähig ist.«
Unterstützend der mahnenden Unruhe, schubsten diese schwarzen Soldaten Umstehende. Die Lage der Anwesenden schien ihnen weder etwas auszumachen noch zu interessieren. Im Gegenteil. Die Situation spitzte sich zu.
»Na du Hübsche?« Einer der eben erwähnten ergriff eine junge Frau von vielleicht sechzehn Jahren am Arm. Sein Griff zeugte von Grobheit. Der Mann zerrte sie eng an sich. Mit der freien Hand kniff er ihr ungestüm ans Gesäß. Seine flatternde Zunge nährte sich ihr lautstark. Seine umstehenden Kameraden, so auch sein Einheitsführer, lachten und johlten Beifall. Andere sahen es als Aufforderung und versuchten es ihm gleich zu tun.
Erboste Aufschreie und erzürnte Feldarbeiter nährten sich mit allerlei Handwerkszeug, welche ihnen als Waffen dienen würden. Es waren nicht ihre Frauen aber allein der Gedanke genügte, sich den Aggressoren zur Wehr zu setzen. In wenigen Momenten verwandelte sich aus dem Vorplatz ein Hexenkessel.
Es kam ihm vor, als zöge ihn die Zeit zurück. Zurück an einen anderen Tag. An einem anderen Ort. Unvermittelt sah er zur Seite und erhoffte seinen Großvater dort sitzen zu sehen.
»Was kuckst du mich so an?«
Er sah zur anderen Seite und glaubte Baltha neben sich.
»Na Junge. Beeindruckend nicht wahr?«
Sie standen nicht vor der Königsstadt und weder sein Großvater noch der Hauptmann der Nordwacht befanden sich bei ihm. Sie passierten eine für diesen Ort wahrhaftig bemerkenswerte Mauer durch ein massives Tor. Zurückblickend verstand Arryn auch, aus welchem Grunde es ihm so gewaltig vorkam, obgleich er noch gar nichts von dem zu Gesicht bekam, was Hort bereithielt.
Die Mauer umschloss den einzig möglichen Zugang, vom Berg kommend, und kesselte somit einfallende Feinde ein. Es bedurfte ausschließlich weniger Bogenschützen hinter den Zinnen. Angreifer müssten immense Verluste erleiden. Würde eine schiere Anzahl Toter aufeinandergelegen ausreichen die Mauerkrone zu erreichen ... ja ... auch dieser Ort würde fallen.
»So sehr in Gedanken, Junge?«
»Ich glaube, unser Arryn hat noch nie solch eine große Mauer gesehen.«
»Ach kleine Raya. Du hast gut Reden. Was glaubst du wohl, kam er her?«
»Na, von Zuhause.« Sie legte den Kopf schräg, hob den Blick und verkreuzte wieder einmal die Arme vor der Brust.
»Von ...«, der Bringer stockte und sinnierte. »Von deinem. Du hast Recht. Zuvor jedoch erblickten seine Augen Weiher. Du weißt sicherlich, dass dies die Königsstadt ist und ihre Mauern selbst dem Angriff der Drachen standhielt...«
Die Zwei lamentierten sich gegenseitig und über Dinge, welche Arryn nicht mehr mitbekam, gar mitbekommen gedachte. Er hing seinen Gedanken nach und überdachte der Eindrücke, die ihn erhaschten.
Direkt hinter dem Tor begann dass, was man wohl Hort nannte. Niemals hätte er daran gedacht geschweige denn glauben wollen, dass jemand hier, hoch oben, auf selbig benannten Berg eine Stadt errichtete. Ihm waren die Geschichten und Überlieferungen vergangener Zeiten durchaus geläufig, zu sehen hingegen, was die meisten nur gehört oder gelesen haben, war eine gänzlich andere Sache.
Von dem Bringer erfuhr er auf dem Weg hinauf, dass die Wahrung Horts, in Viertel unterteilt war. Die Bewohner des Berges zogen alle fünf vergangene Jahre weiter durch die Stadtteile. Begründet sei es damit, dass der Zerfall dieses zeitgenössischen Ortes somit aufgehalten werden würde. Sie hielten Gebäude, Wege wie Straßen, einfach alles rundherum weitestgehend in Stand.
Alles, bis auf die Festung Hort. Diese würde niemand betreten und bedürfe keinerlei Instandhaltung. Eigenartig. Alles zerfällt, doch eine Burg nicht?
Arryn bemerkte das Kopfschütteln des Bringers, doch das Raya den Karren verlassen und voraus geeilt war, entging ihm. »Was soll nur aus der Kleinen werden? Sie ist jetzt schon so verflucht anstrengend.«
»Raya?«
»Natürlich Raya. Ich wollte die kleine Unfriedenstifterin nicht bei mir haben aber Rither bestand darauf. Er befürchtet wohl, dass Leute kommen werden, die nach dir suchen. Das Mädchen würde dich ohne zu überlegen verraten.«
»Mhm.« Arryn schien nicht beeindruckt und hörte nicht weiter zu, was der Mann, den man ›Bringer‹ nannte, zu erzählen gedachte.
Hort musste enorm sein, wenn die Leute, die hier oben lebten regelmäßig umzogen. Das Bildnis, welches seine Augen erreichte, schien nämlich eine andere Sprache zu sprechen.
Halb zerfallene Häuser und Schuppen, deren Zeiten nahezu abgelaufen wirkten. Den Weg, dem sie folgten, war durchsetzt mit Grasoden. Hier und dort bahnte sich Unkraut gar ganze Sträucher durch zuvor fest gefügte Pflastersteine.
Nichts deutete ihn auf eine belebte Stadt. Diese schien verlassen und sich selbst überlassen. Was ihn daran hinderte diesen unbegründeten Gedanken weiterzuverfolgen, war dem Umstand geschuldet, dass die schützende Mauer, welche sie kürzlich passierten, durchaus intakt wirkte. Das Tor unbeschadet und frei von Alterzeichen.
»So mein Junge«, drang der Bringer erneut in seine Überlegungen. Der Mann zeigte voraus und griente wissend. »Gleich da vorne beginnt dass, was du hier in diesem Viertel vermisst.«
Arryn sah ihn an, als spreche er eine andere Sprache.
»Leben? Du fragst dich doch, wo sich all die Bewohner aufhalten.«
Arryn nickte und sah ertappt drein. Seine Mundwinkel zuckten.
»Gräme dich nicht, mein Junge. Hort ist nicht sonderlich zahlreich bewohnt. Ein Dorf eher aber du wirst schon sehen, die Leute werden Gut zu dir sein. Du bist doch schließlich der Enkel von dem Ratsältesten.«
»Wenn es nur ein Dorf ist, wieso brauchen sie dann einen Ratsältesten?«
Die Brauen des Mannes hoben sich und seine Stirn schlug Falten. »Gut argumentiert, Junge. Ich denke, dass der Titel dazu dient, alte Gebräuche zu wahren. Stell dir diesen Ort mit abertausend Bewohnern vor.«
»Ja, dann ergibt solch eine Person durchaus Sinn. Aber ... ausgerechnet mein Großvater?«
»Oh, halt. Dass soll dir jemand erklären, der ihn besser kennt. Ich habe ihn nur ein paar Mal gesehen. Mehr nicht.«