Auf einem kleinen Karren, beladen mit Weizen und Weidenruten, nährten sie sich der steil in die Höhe Rangenden Felswand. Tief warf der Berg seine Schatten in die Weite des flachen Landes und sorgte dafür, dass die gefühlte Kälte weiterhin zunahm. Eisig und schneidend zerrte der Wind an ihrer Kleidung.
Eng wickelte sich Arryn in eine Decke und blickte ehrfürchtig hinauf. Wie viele schon versucht haben, diesen Berg emporzuklettern? Ob alle daran gescheitert sind?
»Eine Münze für deine Gedanken«, sprach ein junges Mädchen neben ihm.
Gedankenversunken schüttelte er den Kopf. »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie es wäre, dort hinaufzuklettern. Hat es jemals jemand geschafft, Raya?«
Anstatt ihm zu antworten, hob sie verduzt die Brauen und besah ihm mit einem Blick, der Unglaube beschrieb. Sie sah hinauf in Schwindel erregende Höhen und lachte. »Versuch' es doch. Vater sagt, dass ganz viele so dumm gewesen wären, weil der Weg durch den Berg zu keinem Ziel führt.«
»Mhm.«
»Was mhm?« Sie äffte ihn nach und sprang trotzig zu ihm auf den Karren.
»Warum kommst du eigentlich mit, Raya?«
»Wieso?« Sie zuckte mit den Schultern. »Vater sagt, es wäre besser so. Du kennst mich ja jetzt und es wäre für dich bestimmt einfacher da oben.«
»Wäre es das?« Arryn war nicht gänzlich überzeugt, glaubte hingegen zu ahnen, dass Rither nur sein Bestes im Sinn hatte.
»Und ich soll Mutter ausrichten, dass ich mit ihr auf ihn oben in Hort warten soll.«
»In Hort?« Arryn wendete ihr den Kopf zu und musterte die ihm Gleichaltrige, die seines Erachtens sich viel jünger benahm als er selbst. »Ich dachte der Berg heiße Hort.«
»Häh? Sage mal Arryn, bist du so schwer von Begriff oder woher kommst du?« Sie verschränke siegessicher die Arme vor der Brust und sah ihn an, als sei er tatsächlich weltfremd. »Natürlich heißt der Berg Hort. Aber auch die Stadt da oben heißt so. Ist doch wohl klar, oder? Mal ehrlich ...« Ihre Augen rollten, als sie mit der kleinen Nase zuckte und sich selbstsicher von ihm weg drehte. »Wie kann man nur so dumm sein?« Ihr Blick richtete sich stur auf das drehende Rad zu ihrer Rechten.
Arryn war sich unsicher, wie er ihr gebaren deuten solle. Schmollend verzog er die Lippen und blähte die Wangen auf. Lautstark entließ er die angestaute Luft. Und ich dachte, die anderen, zuhause, wären kindisch. Was eine eingebildete Ziege.
»Da vorn beginnt unser Aufstieg.« Ein Mann mittleren Alters trat neben ihn und deutete die Richtung.
»Wo, ich kann nichts sehen.«
»Du blindi, na da«, wies ihn widererwarten Raya zurecht.
Der Zugang schien dem Jungen mehr als unscheinbar. Gleichwohl kannte er die Geschichten Horts; so auch vielen Aussagen zu Grunde legend, dass die Streiter des Berges, Armeisengleich aus den Portalen strömten. Was er jedoch sah, war nicht, was er glaubte oder hoffte zu erblicken.
Die Öffnung dort im Berg war nichts weiter als ein einfacher Höhlen- oder Stolleneingang. Eher das gähnende Loch einer Höhle. Ja, das traf es besser. Keine Steinsäulen, keine Intarsien. Keinerlei Arbeiten, die auf einen kundigen Metzen hinwiesen. Unspektakulär, nichts sagend. Nirgends ein Hinweis, der daraufhin wies, wohin dieser Weg sie führen würde.
»Du wirkst nicht gerade beeindruckt«, stellte der Mann neben ihm fest. »Du weißt, wohin wir dich begleiten?«
Nicken begleiteten Arryns Worte. »Ja. Irgendwie ...« Seine rechte Hand zeigte nach oben. »dort hinauf.«
»Genau. Bemerkenswert, nicht wahr? Zumindest dann, wenn man weiß, dass der Berg niemanden aus freien Stücken gewähren lässt.«
»Wie das? Wäre der Zugang sonst etwa nicht dort?«
»Och du Dummie«, schellte ihn Raya abermals. »Wenn Hort nicht will, dass du den Weg findest, dann lässt er dich herumirren, bis zu tot bist.« Wie bei einer hilflos Ertrinkenden flogen ihre Hände in die Höhe, die sodann ihren schüttelten Kopf umfassten.
Besonnen sah er mit krauser Stirn zu dem Mann neben ihm.
»Gewissermaßen hat sie Recht.«
»Siehste. Hab ich es nicht gesagt?«
»Aber ...«
Der Kopf des Mannes nährte sich ihm. Er senkte seine Stimme. »Wie?«
Arryn nickte.
»Nun, das wird dir wohl niemand erklären können. Es gibt Geheimnisse, die der Berg für sich behält. Du bist doch der Enkel von Ighert, dem Ratsältesten. Er wird dir einiges erzählen können.«
»Er ist schon hier?« Zuversicht heiterte Arryns Züge auf und trieb die düsteren Gedanken an die erlebten Geschehnisse zurück. Dann wird er Mutter mitgebracht haben, was ein Glück. Soll er sein Medaillon zurückbekommen, wie ich es ihm versprach.
Der Mann musterte ihn von der Seite her. Er blieb ihm eine Antwort schuldig, schließlich wusste er nicht mehr als die übrigen auch. Rither hätte es ihnen und vor allem dem jungen sicherlich gesagt.
Sie durchschritten das Tor, den Zugang zu Hort. Jedes einzelne Haar auf seinen Armen richtete sich auf. Sein Atem verwandelte sich zu feinem Nebel und jeder Schritt seiner Begleiter, hallte lautstark. Arryn war vom Karren abgestiegen und hielt Shalti bei den Zügeln. Anders als bei ihm schien sie weder nervös noch aufgebracht. Gleichgültig und mit gehobenem Haupt tat sie einen Schritt nach dem nächsten.
»Die Stute spürt die nahe Heimat. Sieh nur, wie Stolz sie den Kopf reckt.«
»Du meinst, sie freut sich?«
»Ich glaube schon. Ganz so, als wolle sie sagen: Seht her. Hier komme ich.«
Er griff die Zügel kürzer. Nicht um das Pferd seines Großvaters zu führen, er suchte ihre Nähe. Er fühlte sich nahe bei ihr einfach sicherer. Sie schien sich an diesem Ort auszukennen und ihre Berührungen beruhigten ihn.
»Es ist gar nicht mehr so kalt. Sollte es dass in einer Höhle nicht anders sein?«
»In der Tat, du hast Recht, Junge. Es ist wieder eines der Geheimnisse Horts, weißt du?«
»Der Berg kann es wärmer und kälter machen?« Arryns Stimme klang nicht überzeugt. Da der kleine Tross nur wenige Fackeln mitführte, blieb dem Mann der ungläubige Blick verborgen.
»So in der Art. Warte ab, bis wir oben angekommen sind.«
»Was wird mich dort erwarten?«
»Auf jeden Fall kein Schneegestöber«, beschied Raya. Arryn glaubte in ihrer vorlauten Stimme ihn bereits erneut als Dummie oder Blödi zu titulieren.
»Oh. Die kleine Raya liegt gar nicht so verkehrt.« Er klopfte dem gleichaltrigen, dennoch reifer wirkenden Knaben auf die Schulter. »Auf Hort wechseln sich die Gezeiten ab. Auf die Blüte- folgt die Reife- und schlussendlich die Erntezeit. Es wird kühler aber nicht wirklich kalt dort oben. Das Erbe der Drachen verhindert, das man in seinem Schoße friert.«
»Was haben diese Drachen den Bewohnern denn noch so vererbt?«
»Du bist sehr neugierig für einen so kleinen Mann.«
»Ich bin ein Kind. Wir dürfen wissbegierig sein«, beschied Arryn und verzog das Gesicht. Würde man in das seine schauen können, sie würden ebenso seine rollenden Augen zu sehen bekommen. Er wusste, das Raya als auch der Mann neben ihm, ihn beide anstarrten.