Innerlich verzehrte sich Arryn. Immer wieder ging es ihm durch den Kopf und marterte jeden Moment, den er sich weiter und immer weiter von der Stadt entfernte. »Warum? Warum nur?«
Shalti war ein gutes Pferd. Außerordentlich traf es womöglich besser. Kein Wunder, dass sein Großvater so viel von ihr hielt und sie demnach hegte und pflegte. Sie ritt, stetig und konstant, so als sei der Butzemann persönlich hinter beiden her. Eigenartigerweise musste der Junge nicht einmal großartig einlenken. Es war, als wüsste das Tier die Lage sehr genau einzuschätzen und hatte ihr Ziel längst verinnerlicht. »Oh Shalti, warum kannst du nicht reden? Ich bin mir sicher, du würdest mir erklären können, was los ist.« Anstatt ihm den Gefallen zu tun, schnaubte sie. Vielmehr zog das Tier den Kopf seitlich und wieherte, ganz so, als wolle sie sagen: »Mein Junge, ich verstehe dich. Ich habe auch Angst um ihn.«
Er war gerade einmal acht Jahre alt und gab seinem Großvater dennoch ein Versprechen. Eines, welches Gehorsam verlangte, so viel war ihm bewusst und so eindringlich Ighert zu ihm sprach, klang es dringlich. Der Bogner wollte keinerlei Risiken eingehen und erzählte ihn einzig, wohin er reiten müsse. »Shalti, ich sage dir, sobald wir bei diesem blöden Berg angekommen sind, wird uns beiden jemand ganz gehörig Rede und Antwort stehen. So kann Großvater, schon gar nicht dieser Glaubenskerl, mit uns umspringen.«
Um seinen steifen wie kalt gewordenen Nacken zu lockern, drehte er den Kopf umher. Aus der hinteren Satteltasche zog er sich die stetig mitgeführte Decke über. Sobald die Sonne sich gegen Horizont neigte, wurde es ungemütlich und dieses solle ihm in Bälde noch deutlicher werden. Sehnsüchtig schweifte sein Blick nach Links in Richtung Westen. Würde er sein Pferd dorthin lenken, könnten beide kurz nach Einbruch der Dunkelheit daheim sein. Shalti würde in ihrem Stall und er in seinem Bett oder vielleicht in das seines Großvaters nächtigen. Der Gedanke schien verlockend, wusste er, dass eine Nacht im Freien auf sie wartete. Nicht im Schutze der Bäume des hiesigen Waldes, nein er durfte ja nicht trödeln.
Keine Fragen. Keine Umwege. Nicht aufhalten lassen.
»Mmh. Ach Großvater ...« Das Leder des Zügels knarzte unter seinem verstärkten Griff. »Zuhause würde ich doch niemanden fragen müssen. Dorthin ist es auch nicht einmal sehr weit und schlafen hat doch nichts mit einem Umweg zu tun, oder? Shalti, was hältst du davon?«
Wieder glaubte er an eine Art Antwort. Das Tier schüttelte den Kopf von links nach rechts und schnaubte. Was er derweil nicht ahnte, war hingegen der unbedachte Richtungswechsel. Ihr Weg führte sie durch einen Wald abseits der vorherig eingeschlagenen Richtung. Direkten Weges solle er zwar gen Norden reiten dabei jedoch die offensichtlichen Hauptwege meiden, hatte der alte Bogner ihn und Shalti aufgetragen.
Arryn glaubte Rauch zu riechen und seine treue Begleiterin, die ihn nunmehr schon seit Stunden auf ihren Rücken trug, wurde merklich unruhiger. Nicht mehr lange und sie mussten rasten; nicht nur seinetwegen.
Der Junge zog die Stirn kraus und rümpfte die Nase. »Das ist wirklich Rauch, nicht wahr?«
Angesprochene schnaubte und prustete. »Wo hast du uns hingeführt? Ich kenne diese Gegend. Shalti, wir sind falsch geritten«, stellte der Junge nüchtern fest und sah sich aufmerksam um. Ihm beschlich ein ungutes Gefühl ... »Oh bitte, nicht das.«
Seine Fersen gaben dem Pferd Zeichen. Sie ritten nicht, als sei ihnen jemand auf der Spur, vielmehr in schnellerem Trab. Sie befanden sich im Wald und der Wildpfad, auf dem sie hiesig unterwegs waren, schien tückisch, auch für eine außerordentliche Shalti. Am Waldesrand hielten sie, den Blick gerichtet auf ein Lichterinferno.
Sie hielten ausreichen Abstand. Weder die Hitze noch die tobenden Funken würden sie erreichen. Selbst zu Gesicht würde die Zwei niemand bekommen, wenngleich genügend Silhouetten umherliefen und offensichtlich versuchten, dem Feuer etwas entgegenzusetzen. »Shalti ...«, begann Arryn. »... das ... das ist mein Dorf.« Bitter schmeckende Galle drang ihm den Hals hinauf, als Kummer sich in ihm breitmachte. Tränen liefen ihm die Wangen hinab. »Mutter ...«, hauchte er.
Unruhig wippte er in seinem Sattel umher und versuchte Großvaters Pferd zum Weiterreiten zu animieren. »Los Shalti, los. Wir müssen ihnen doch helfen. Ich muss zu Mutter. Shalti, bitte. Sie kann sich doch nicht selber retten«, flehte er das Tier an. Es half nichts. Weder gutes zureden, noch mit den Zügeln peitschen und auch keine Tritte. Mehr noch, das Pferd schritt rückwärts, zurück in die Schatten der Bäume.
Kaum dass beide im verborgenen Schutze des Waldes weilten, schwenke das Pferd gen Norden und trabte an. Arryn glaubte hinter einem Schleicher von Tränen einen Beritt von nicht minder zehn Reitern erspäht zu haben, die sich für räudige Banditen viel zu koordiniert ... deutlich zu diszipliniert verhielten. Sie bewegten sich schnell und zielorientiert. Ihr Weg würde sie eben dorthin führen, wo beide nur Momente zuvor die Feuerbrunst bei seinem Heim beobachteten.
Arryn schniefte und wischte sich den Rotz von der Nase. »Shalti ...«, begann er erneut. »... wir müssen ihnen helfen. Bitte dreh um.«
Anstatt einzulenken gar die Richtung zu wechseln, lief das Tier stur voran. Es reagierte nicht auf seine einlenkenden Versuche und trug ihn stetig weiter nördlich. Mattigkeit und schwäche überlagerten jegliche seiner Empfindungen. Bleischwer empfand er seine Glieder. Müde und gähnend öffnete sich immer wieder sein Mund. Vergebens versuchten Arryns Hände die Zügel richtungsweisend zu beeinflussen, doch das stolze Tier war einfach zu kräftig. Zu pflichtbewusst ihrem Besitzer und seinem Großvater gegenüber. Der Junge merkte nicht einmal mehr, wie weit sie ihn noch trug, obwohl die Nacht bereits deutlich vorangeschritten schien. Immer wieder entwich sein geistiger Zustand ins Reich der Schlafenden. Wozu Beinfesseln doch so gut sein würden, sollte er glücklicherweise niemals erfahren. Womöglich bräche er sich beim Sturz das Genick.
Die Erschöpfung saß tief. Dermaßen, dass er nicht einmal mitbekam, dass man ihn auf ein Strohlager bettete und mit einem wärmenden Fell bedeckte. Eisigkalt waren seine Glieder und Shalti stand kurz davor, vor Entkräftung an Ort und Stelle zusammenzubrechen.
Jene, die halfen, hatten alle Hände zu tun beiden gerecht zu werden.