Der Junge. Ja, wahrhaftig. Sein Enkel. Geschenkt an das Leben, von seiner erkrankten Mutter. Anstatt des Vaters trat nun er, in seine Fußstapfen und erlernte einen ehrbaren Beruf.
Es blieben nicht nur die Soldaten, die gute Bogen als auch deren Geschosse bedurften. Vielmehr waren es die Einfachen, für die er lange Jahre sein Handwerk verfeinerte.
Von sich selbst mochte er behaupten können, die Geschichte des Landes wahrlich zu kennen. Nicht seines Alters wegen, sondern der Herkunft ... und seines Standes geschuldet. Sein Lächeln verdüsterte sich immer dann, wenn eben diese Gedanken ihn zu eben jener Zeit zurückführten, und begann sich unbedacht an einem kleinen Medaillon, getragen um sein Hals, zu nesteln. Er hielt dieses stets Verborgen unter seinem Leinenhemd. Ergab sich die Seltenheit, an denen er das Relief ablegte, nun ja ... es lag sodann an einem Platz, den niemand finden sollte.
Seit bestehen, gingen so manche. Einige derer kamen zurück, andere hingegen blieben fern und das nicht nur körperlich. Ihre Verbindung löste sich und nimmermehr fanden sie den Weg heim. Ihm wiederum erhielten sich die Erinnerungen. Er durfte eine jede für sich behalten, sofern er das Band aufrecht hielt.
»Hoffentlich ergreift die Gesellschaft niemals deinen freien Willen«, murmelte er kaum hörbar.
»Was sagst du? Ich habe nicht zugehört«, gestand der Knabe, der jedoch von seinem Werk nicht aufsah.
»Verzeih Arryn, ich war nur in Gedanken. Erzähl ruhig weiter.«
Vertieft in seinem tun, suchte er nach einem passenden Ansatz und fing erneut an zu berichten. Ighert machte es sich weitestgehend bequem auf seinem Stuhl, lauschte und beobachtete.
Der Junge erzählte, was er augenscheinlich oftmals hörte und mit den Erzählungen seines Großvaters entweder wissentlich oder aus dem Bauch heraus kombinierte. Interessanterweise begann er wahrlich am Anfang und nicht wie erwartet mittendrin, als die Menschen unlängst als eigene Nation auftraten.
Widererwartend blieben die Informationen altersgerecht, also in der typischen Sprachweise eines Jünglings, von gerade einmal acht Jahren. Dass der Junge geistig wie auch von seinen Fertigkeiten urteilend, sichtlich weiter war, als gleichaltrige landesweit, verblieb eine Seltenheit. Es kam vor und war hingegen nicht gänzlich unbekannt.
Einst, vor bestreitbar vielen vergangenen Generationen, als ihr Volk Fuß auf dieses Land setzte, begann Qedrela ihr Eigen zu werden. Niemand wusste mehr mit Gewissheit darzulegen, woher diese Menschen überhaupt kamen. Dass diese vor etwas hingegen flohen, wurde anhand alter Aufzeichnungen belegt. Vor was, gar wem, wurde seither strittig spekuliert und von amtierenden Königen als auch den Glaubenseinrichtungen vehement angezweifelt. Kurz um. Vieles wurde bewusst verheimlicht und nicht minder wenig vertuscht.
Anfangs zählte die anlandende Flotte Überlieferungen nach, Hunderte von Schiffen wie Booten. Beladen mit dem Nötigsten, was Flüchtende in aller Eile zu greifen vermochten. Sie segelten so lange und weit, wie es nur möglich und erdenklich schien. Sie rationierten Ess- wie Trinkbares auf ein Minimum und fuhren Tage wie Wochen. Laut Überlieferungen sogar Monate. Die Kapitäne, deren Mannschaften und selbstredend jene, welche als Bürden an Bord verweilten, forderten jegliches Glück heraus. Nichts galt gewiss, nicht einmal das Überleben. Selbst als die Kiele ihrer Fluchtfahrzeuge auf Grund liefen und die ersten Momente eintretender Landkrankheiten überwunden waren.
Wie es bei den Menschen so üblich war und offenkundig nach wie vor ist, blieben Streitigkeiten nicht lang' fern. Anführer erhoben sich, stellten Ansprüche an diesem und jenen und wunderten sich darüber hinaus, dass weitere, gänzlich anderer Meinungen vorlieb nahmen. Was die Menschen auf Qedrela zuvor vereinte, trennte sie sodann erneut. Viele folgten erst dem einen, andere dem nächsten und die übrigen verweilten eben dort, wo das Glück ihnen anfangs hold versprach. Warum auch nicht? Sie verfügten bereits über ausreichend Unterkünfte, gebaut aus dem, was sie mit sich führten und den Materialien der Boote und Schiffe. Den Rest schufen sie aus dem, was das Land ihnen bot und das war hinreichend genug.
Hewe war die erste dreier menschlicher Niederlassungen. Lullin und Naporia entstanden aus den sich trennenden Parteien. Fortan gingen sie eigene Wege, bis es endlich so weit schien, dass die eine Stadt mehrere oder bessere Erzeugnisse von dem einen feilbot, dafür die nächste von benötigtem Gut anderer Güte. Erst mit dem neu entfachten Handel rückten die Siedlungen abermals näher zusammen und das Volk gebar einer echten Chance, dauerhaft zu überleben. Geburten erhöhten das Bestreben nach Wachstum und Sicherheit, hinzu kamen nach Monaten der Einkehr, weitere Segel am Horizont.
Nachzügler und Flüchtlingstrosse. Jene Schiffe, die als Baumaterial nicht zur Debatte standen, oder deren Mannschaften sich strickt weigerten, einzugestehen, dass keine weiteren Menschen mehr zu retten seien, stachen nach einer kurzen Verschnaufpause erneut in See. Den Kapitänen wie ihren Bootsleuten gelang es widererwartend, Seegestrandete aufzunehmen und heil nach Qedrela zu geleiten. Dennoch, nicht allen, blieb eine neuerliche Anfahrt vergönnt. Sie fanden den Weg nicht zurück oder fielen dem andauernden Krieg anheim.
Es dauerte nicht lang und die gewählten Stadtväter unterbanden solche Rettungsfahrten. Das Volk erholte sich geistig wie körperlich von den schmerzlichen Erlebnissen. Sie wuchsen und schufen sich ein Neues, ein Eigenes, Zuhause. Bereits zwei Generationen, nach dem Anlanden, war es den Stadtgründern als auch den Glaubensprädigern gelungen, weitestgehend alle Erinnerungen an die alte Heimat zu verdrängen. Irgendwo, so sprach man hinter vorgehaltener Hand, befänden sich Aufzeichnungen. Niederschriften über Lage und Positionen. Erzählungen bezüglich Lebensstiel, Sünden wie Laster.
In jener Zeit, in welcher nunmehr Arryn lebte, wusste niemand mehr, woher die ersten Siedler einst kamen. Gemeinhin entsprangen sie einer uralten Gemeinschaft, die sich selbst aufrieb. Macht, Gier und Kriegsbesessenheiten sorgten für deren Untergang - so nahmen sie es zumindest an. Niemals wieder wurden am Horizont fremde Segel gesichtet.
Die Menschen Qedrelas vermehrten sich zusehend, erstarkten und bildeten eines fernen Tages ein ureigenes Volk. Ihr bestreben nach Überleben wich weiterem Platz- und Siedelbedarf. Ebenso wichtig die Grundlagen allen Lebens.
Sie benötigten ausreichend Frischwasser aber auch zunehmend Flächen zum Anbau von Getreide, Gemüse und Obst. Aus Siedlungen wurden vorerst befestigte Dörfer. Daraus entwickelten sich kleine Städte, die mit der Bevölkerung anwuchsen. Aufgrund des fehlenden Feindes blieben ihre Ortschaften anfangs komplett frei von Mauern. So zumindest die ersten vergangenen Generationen hinweg.
Immer tiefer drangen sie ins Landesinnere. Fanden fruchtbaren Boden wie auch steppengleiche Territorien. Ausladende Wälder, Sumpfland, karge Hügelkuppen und ein riesiges, bergähnliches Gebilde, welches beinahe mittig eines von Klippen und Meer umgebenem Land thronte. Höhlen durchzogen, jedoch von außen hart wie glatt um sich nicht erklimmbar zu geben, ragte dieser einem Mahnmal gleich in die Höhe.
Wagemutige wie Wahnsinnige, es ließ sich selten unterscheiden, drangen bestrebt nach Ruhm und Gier in die Höhlen des mittigen Berges ein. Schätze sondergleichen sollten dort auf den rechten Finder warten. Fanden jedoch, taten die Meisten nur den tot. Die, die den Weg zurücknahmen, wussten von Schauerlichen zu berichten. Grausige Laute. Durchgänge, die zuvor nicht waren und jene, die bereits vor Langem ihr Leben ließen.
Die Menschen, das Volk Qedrelas war dermaßen zahlreich angewachsen, dass aus bekannten Städten drei Königreiche entstanden. Sie verhielten und lebten friedlich nebeneinander, trieben gar handel; ehrlich und ausgeglichen. Hewe, Lullin und Naporia bildeten die Grundlage des ersten großen Königtums. Dieses verpflichtete sich den übrigen Zweien gegenüber, Arbeitskräfte wie Material bereitzustellen, um den Wertverlust einzelner Städte auszugleichen.
Viele Jahre lebten die Königreiche friedlich und ohne Kampfeshandlungen nebeneinander. Niemand trachtete nach dem anderen und das Volk wuchs weiter.
Änderungen traten in ihren Alltag, als sich eine erstarkte Gruppe ins Marschland begab, um sich der Rechtsprechung der Reiche zu entziehen. Ihre Machtbefugnisse erstreckten sich in allen der drei Königtümer und bereicherte sich am Handel und mittels militärischer Anwesenheit. Die Könige wollten derlei einstimmig unterbinden und ließen deren Niederlassungen, Kontore und Boote konfiszieren. Jene, die die Ortschaften aus freien Stücken verließen, wurden hingegen nicht aufgehalten. Es waren viele, die ihrem vermeintlich jeweiligen Reich den Rücken kehrten.
Was die einen anfangs schwächte, gebar das vierte Königtum. Zuvor geschmuggelte Waren und Waffen galten dessen Ursprung. Gemeinhin wurden die Untertanen dieses weiteren Königs als gewaltbereit und nicht unterwürfig angesehen. Sie waren es auch, die die Urgewalten aus ihrem Versteck lockten. Ihre Siedlungen reichten mittlerweile bis in die Schatten des mittigen Berghanges. Als sie begannen systematisch in die Höhlen ein- und vorzudringen, erhoben sie sich. Lautstark und ohne jegliche Vorwarnung.
Wesen, größer als ein von vier Pferden gezogenes Gespann. Sie glitten wie Vögel durch die Lüfte und grollten einem Donnertosen gleich. Ihre Klauen durchpflügten das Umland wie übergroße Ochsengespanne. Einige ihrer Art spien Feuer wie Gaukler auf den Marktplätzen. Nur ungleich monströser, heißer und gewaltiger.
Beginnend des Aufstandes, bedurfte es zum Einhalt lediglich des Abzuges der Menschen, weitab dieses Berges. Die Siedler nahe dessen flohen und ließen ihr Heim schutzlos zurück. Qedrela war abgesehen der damaligen Eingeborenen demnach nicht gänzlich unbewohnt. Die riesigen flugfähigen Echsen gingen, wie sie kamen, und behelligten die Menschen nicht weiter, bis zu jedem Tag, als der verrückte König, wie man ihn nannte, Truppen gegen den Drachenberg entsandte.
Zuvor errichtete Mauern, ringsherum seiner Stadt, wurden verstärkt und mit gewaltigen pfeilverschießenden Apparaturen versehen - Ballisten. Schwarz gerüstete Soldaten zu Pferd und zu Fuß rückten unaufhaltsam heran. Es war offensichtlich, dass sie diese Furcht einflößenden Wesen nicht nur vorhatten zu Jagden. Sie wollten sie vernichten. Sie wollten diesen Berg, aus welchen Gründen auch immer.
»Großvater?«
»Mmh, ja? Was ist los Arryn?« Er hob den Kopf und sah auf.
»Du warst in Gedanken.« Er hielt ihm seinen offensichtlich fertig geschnitzten Pfeil entgegen, den er jedoch nicht weiter ansah, noch ergriff.
Betroffen schüttelte sein Großvater den Kopf. Tief sog er Luft in seinen massigen Brustkorb und sah hinüber zu der offenstehenden Tür. »Es ist bereits später als gedacht. Wir werden deinen Pfeil Morgen ausprobieren. Lass uns eilen und die Decken über den Kopf ziehen.«
»Aber ...«
»Du willst doch mit in die Stadt?«
Arryn besah mit einem Lächeln sein fertiges Werk und legte es zu dem kleinen Schnitzmesser. Erhob sich und nickte. »Na dann mal los. Wer als Erstes bettfertig ist ...« Ein Jauchzen folgte seinem Aufspringen.
»Mach dir Tür ...« Eben in diesem Moment rumpelte es und das Vorhalteschloss klackte. »... zu.«