GREGOR
Ich bin sehr zufrieden und möchte mir am liebsten selbst auf die Schulter klopfen. Viktoria hat wie geplant zugesagt und ist somit in meine ‚Falle‘ getappt.
Also kann ich mich wieder auf andere Dinge konzentrieren.
Ich greife nach dem Brief, der gestern angekommen ist und ich in dem ganzen Trubel ganz vergessen hatte. Sie stammt von meinem Bruder, der in Kroatien eine kleine Privatdetektei leitet.
Torben ist mein genetischer Zwilling und mir ähnlicher, als es den Anschein hat. Dazu gehört auch, dass wir uns gegenseitig in Ruhe lassen, aber füreinander da sind, wenn es darauf ankommt. Wir fühlen uns geschwisterlich eng miteinander verbunden, ohne dies extra erwähnen zu müssen. Für einen Außenstehenden wirkt mein Bruder oft unnahbar und ein wenig gefühlskalt – aber das ist eine Fassade, die ihm helfen soll, unser Geheimnis zu wahren und Sterbliche auf Abstand zu halten. Letztlich tue ich nichts anderes, wenn ich auch den charmanteren Weg gewählt habe, indem ich den verschrobenen adligen Einzelgänger mime der etwas weltfremd seinem Hobby, der Schriftstellerei, nachgehe. Ansonsten sind wir kaum zu unterscheiden und gleichen uns äußerlich noch mehr wie sterbliche eineiige Zwillinge, was an den vampirischen Genen liegen mag. Wenn wir wollen, kann uns keiner unterscheiden.
Dass mein Bruder mir schreibt und mich nicht auf moderne Weise kontaktiert, ist nicht ungewöhnlich. Untereinander pflegen wir Blutsauger oft einen etwas altmodischen Lebensstil, was man auch als Nostalgie bezeichnen könnte.
Torben ist ein wenig extrem und spart sich die Nutzung von Telefon und E-Mail für dringende Angelegenheiten auf. In dem Brief wird daher nichts wirklich Wichtiges stehen. Nun, da die Sache mit meiner kleinen Reporterin geklärt ist, kann ich mich endlich seinem Schreiben widmen.
Markus hat den Umschlag freundlicherweise bereits geöffnet. Gelesen hat er den Brief nicht – dazu ist er viel zu diskret. So ziehe ich den Inhalt heraus und begebe mich zu dem bequemen Sessel. Wie immer ist die Schrift meines Zwillings sauber und akkurat und ich merke wieder einmal, dass mein Bruder aus einer Zeit stammt, in der auf solche Dinge noch wertgelegt wurden.
Entspannt beginne ich zu lesen.
Mein lieber Gregor,
ich hoffe, es geht dir gut, jetzt, da dein Plan beginnt und du deine Angebetete bald zu dir holen wirst. Die kroatische Post ist bekanntermaßen nicht die schnellste, aber aus meiner Erfahrung dürfte dich dieser Brief kurz vor deiner Abreise erreichen. Ich bin sicher, du wirst diskret und klug genug vorgehen, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
Wie besprochen, habe ich deshalb auch Nachforschungen über den Dupont- Clan und seine Aktivitäten angestellt. Konkret konnte ich nichts herausfinden. Es gibt jedoch Merkwürdigkeiten, die mir bemerkenswert erscheinen.
Zwei Personen der Familie ist nach wie vor spurlos verschwunden. Wir sprachen ja unlängst darüber. Es ist noch immer unklar, ob ihnen etwas passiert ist oder ob sie untergetaucht sind.
Gerüchteweise soll der junge André Dupont vor einem halben Jahr überfahren und irgendwo begraben worden sein – zumindest nicht auf dem Friedhof seines Wohnorts – was äußerst ungewöhnlich ist. Die Duponts haben ja immer großen Wert darauf gelegt, nicht aufzufallen, und dann diese Geheimniskrämerei. Von den seltsamen Umständen mal abgesehen.
Meiner Ansicht nach war – oder ist – André ein Untoter, daher erscheint mir seine Todesursache vorgeschoben. Möglicherweise sind die Informationen aber auch falsch und er gehört zum sterblichen Zweig der Familie. Ich werde dieser Spur auf jeden Fall nachgehen. Der junge Mann lebte schon vorher sehr zurückgezogen und trat in der Öffentlichkeit nicht mehr in Erscheinung, was die Sache nicht einfacher macht.
Ich würde dir unter diesen Umständen raten, auf jeden Fall achtsam zu sein.
Hast du übrigens schon gehört, dass man munkelt, in den Wäldern von Ostdeutschland hätten sich Werwölfe angesiedelt? Mal wieder ein neues Gerücht, was aber nichts daran ändert, dass ich das für eine einfältige Fantasie halte, egal, was Großvater immer sagte. In all den Jahren ist mir kein einziger begegnet. Und Sterbliche, die sich zu Vollmond in Wölfe verwandeln sollen, ist einfach absolut blöd und lächerlich.
Auf jeden Fall wünsche ich dir alles Gute. Ich halte dich auf dem Laufenden, was meine Nachforschungen angeht.
Brüderliche Grüße
Dein Torben
Gezeichnet bester Detektiv in der Ära der Wattensteins.
Lächelnd senke ich das Blatt in meinen Händen. Bescheidenheit war eindeutig noch nie Torbens Stärke.
Der Inhalt des Briefes klingt nun doch sehr seltsam und mysteriös. Andererseits war es das schon immer, was die Duponts angeht. Was auch daran liegen mag, dass ihre Anzahl zwar nicht gerade klein ist, aber nur einige wenige von ihnen Blutsauger sind. Manch Sterblicher dieser Familie weiß über ihr Erbe Bescheid, andere wiederum nicht oder nur teilweise. Für einen Außenstehenden ist ihr System oft schwer zu durchschauen und man weiß nicht, woran man bei ihnen ist oder wie viele Untote es nun genau sind.
Im Gegensatz dazu ist meine Familie sehr offen, was dies betrifft. Jeder von uns wird früher oder später gewandelt – so gibt es keine Unterschiede oder unnötige Machtkämpfe deswegen. Der Preis dafür ist, dass unsere Verwandtschaft eher klein ist. Vampirinnen werden nur sehr schwer und nicht mehr als zweimal schwanger, ohne dass man die Ursache kennt. Meine Mutter allerdings wurde erst nach der Geburt von Torben und mir in den Kreis der Untoten aufgenommen. Ich habe noch eine ältere Stiefschwester, mit der ich jedoch keinen Kontakt pflege.
Ob es daran liegt, dass unser Verhältnis zu den Duponts nicht besonders gut ist? Das andere Verständnis meiner Familie bezüglich des Untotseins? Dass wir damit die Tradition bewahren und uns nicht wie die Karnickel vermehren?
Oder haben sie sich als Franzosen gewisse Rentissements gegenüber Deutschen aus der Vergangenheit bewahrt? Schließlich war der Kontakt zu ihnen von jeher angespannt, an der Grenze zur Feindschaft.
Trotzdem herrscht zwischen uns beiden Familien eine Art Gentleman Agreement – wir lassen uns gegenseitig in Ruhe und ignorieren uns, solange jeder das Territorium des anderen nicht betretet. Bisher hatte das auch ganz gut funktioniert.
Leider gibt es seit etwa einem Jahr immer wieder Berichte, einzelne ihrer Mitglieder würden sich negativ über meine Familie äußern. Dies ist zwar nicht völlig neu, aber normalerweise passiert dies äußerst selten und nicht so gehäuft wie in den letzten Monaten.
Weiter wurde auf eine unserer Firmen ein Brandanschlag verübt – zur gleichen Zeit, als einer der führenden Köpfe dieses verfeinden Clans ganz in der Nähe Urlaub machte. Nicht zu vergessen die versuchte Übernahme des Betriebs meines Onkels letzten Januar.
Der Drahtzieher blieb im Dunkeln, aber es passt ganz gut ins Bild.
Das alles könnte natürlich auch ein blöder Zufall sein. Trotzdem geht meine Familie der Sache nach und wir haben die Aufgaben untereinander aufgeteilt. Torbens Part ist es, mehr über die verschwundenen Duponts zu erfahren oder allgemein nach Merkwürdigkeiten zu suchen.
So gesehen steckt vielleicht doch mehr dahinter, als mein Zwillingsbruder denkt. Ich kann im Augenblick nur darauf hoffen, dass seine großspurige Unterschrift stimmt und er zumindest ansatzweise der beste Detektiv ist.
Für mich selbst ändert sich dadurch an meinem Verhalten nichts. Und schon gar nicht lasse ich mich davon abhalten, diese Lesereise abzuhalten, im Gegenteil. Vielleicht hängt Viktorias seltsames Agieren ja in irgendeiner Weise mit den Duponts zusammen? Wurde sie möglicherweise von ihnen unter Druck gesetzt?
Ein Grund mehr, sich mit ihr zu treffen und unseren Kontakt zu vertiefen. Ich sollte das unbedingt vorantreiben.
Nicht zum ersten Male überlege ich, mich nicht als Gregor, sondern als Vampirgraf mit ihr zu treffen. So könnte ich sie zwingen, mir zu sagen, was los ist. Kein Verstellen, kein höfliches Fragen. Die Sache ist schließlich wichtig.
Anschließend würde ich ihre Erinnerungen löschen – diesmal richtig. Danach könnte ich mich ganz harmlos mit ihr als Gregor treffen. Wenn ich ihre Beweggründe für ihr seltsames Verhalten kenne, kann ich besser damit umgehen und sie dahin bringen, wo ich sie haben möchte.
Die Sache hätte also durchaus etwas für sich. Sie hat aber einen Haken.
Selbst wenn ich in ihren Kopf eindringe und alles lösche – ein ungutes Gefühl kann zurückbleiben. Sie erinnert sich dann zwar nicht mehr daran, hätte aber trotzdem negative Emotionen, was mich betrifft. Und das hilft mir dann eigentlich nicht weiter.
Verzichte ich hingegen darauf, sie eine Begegnung mit dem Vampirgrafen vergessen zu lassen, ist ein rabiates Vorgehen passé. Und somit wäre ich wieder am Anfang.
Eine Begegnung mit meinem eigentlichen Ich könnte ihr insoweit helfen, da sie ja bereits mit der dunklen Seite verbunden ist und mir so vielleicht schneller Vertrauen schenkt. Auch mit dem Wissen, dass ich sie als Blutsauger besser vor Gefahren beschützen kann als nur als Mensch.
Und diese Entscheidung, wie ich weiter vorgehen soll, kann mir keiner abnehmen.