Das Papier schien sich nun nicht mehr weiter zu verändern.
Es fühlte sich auch ganz normal an. Zumindest nicht so, als sei es in einem solch geheimnisvollen Würfel gewesen – von diesem Schrumpfen und Wachsen mal ganz abgesehen. Das Pergament war allerdings nicht von besonders erlesener Qualität – was aber eindeutig der Herkunft zuzuschreiben war. Deutliche Gebrauchsspuren waren zu erkennen und die Ränder waren bereits an mehreren Stellen eingerissen.
Wie es aussah, diente Cedriks Zauber lediglich der Aufbewahrung und sicherem Transport, und nichts weiter.
Ansonsten war das Dokument recht typisch. Die etwas grobe Struktur des Papiers war typisch für die der Zwergen. Was auch in der Regel ausreichend war – die Buchstaben wurden meist, so wie man auch bei diesem Stück sehen konnten, mit dicker Federspitze geschrieben. Dies war bei den einfachen, fast primitiven Lettern der Zwergensprache auch kein wirkliches Problem.
Eine Herausforderung war da eher die Graphologie an sich – der Verfasser hatte sich entweder keine große Mühe mit dem Schreiben gemacht oder es war zu dunkel dafür gewesen.
Aller Wahrscheinlichkeit sogar beides.
Trotz dieser erschwerenden Umstände war Arella sofort Feuer und Flamme. Schließlich war sie hier in ihrem Element. Schon nach kurzem Studieren gelang es ihr, den Text im Wesentlichen zu entziffern.
Es wurde ja schon erwähnt, wie geübt und gut sie in diesen Dingen war. Diese Schrift war nicht besonders deutlich, aber da hatte sie schon wesentlich schwierigere Dokumente vor sich liegen gehabt.
„Das scheint eine Art Bestandsliste zu sein“, erklärte sie ihm deshalb mit einem triumphierenden Lächeln. „Hier steht zum Beispiel etwas von 10 Spitzhacken und weiter unten sind vier verschiedene Arten von Kettenpanzer aufgeführt. Ganz rechts steht der geschätzte Wert und unten die Gesamtsumme sowie ein weiterer Betrag, der hinzuaddiert wird. Vielleicht von einer Schatzkammer oder so etwas. Auch sind diverse Äxte aufgeführt. Man kann sagen, dass gängige Werkzeuge, Rüstungen sowie Waffen aufgeführt wurden. Was anderes gibt die Liste leider nicht her. Tut mir leid.“ Bedauernd gab sie ihm das Papier wieder zurück.
Der junge Mann schien kurz verwirrt zu sein, fasste sich jedoch rasch wieder. Ein wenig Bewunderung schwang in seiner Stimme mit, als er erklärte: „Erstaunlich! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass du dieses Geschmiere lesen kannst, die Buchstaben wirklich sehr undeutlich.“
Nun war es an Arella, überrascht zu sein. „Heißt das, du kannst es selbst lesen und wusstest, was darauf steht?“
„Nein und ja“, war die kryptische Antwort, ehe er nach einer Pause fortfuhr: „Ich selbst kann kein zwergisch, höchstens das eine oder andere Wort aussprechen, aber lesen oder schreiben überhaupt nicht. Mein Mentor hat mir einst vorgelesen, was darauf steht. Er war über den Inhalt höchst enttäuscht, hatte er sich doch wesentlich mehr davon erhofft. Du musst wissen, er hatte es für viel Gold einem fahrenden Händler abgekauft. Ich kann mich noch gut an seine Flüche erinnern als er dieses Werk mühsam entzifferte und feststellen musste, dass es ohne Belang war.“
Nun grinste er doch tatsächlich über beide Ohren und sie konnte nicht anders, als zurückzugrinsen. Zum ersten Male hatte sie den Eindruck, dass diese bedrückte Stimmung, die ihn umgab, ein wenig von im abließ.
„Das ist dir im Gedächtnis geblieben?“, staunte sie.
„Oh ja. Er fluchte nicht oft, musst du wissen.“ Er murmelte wieder diese seltsamen Worte, und das Geschehen wiederholte sich in umgekehrte Weise – das Dokument verkleinerte sich, bis es in den Würfel passte, bevor dieser wieder zu seiner ursprünglichen Größe zusammenschrumpfte. Wortlos nahm er ihn wieder vom Tisch und verstaute ihn wieder im Gürtel.
„Ob einfach oder nicht, das ist einfach verrückt“, flüsterte sie.
„Du bist wohl noch nie einem Magier begegnet, oder?“, fragte er amüsiert.
„Nun ja – nein. Das heißt eigentlich nicht. Aber vielleicht doch.“
Cedrik lachte angesichts ihrer leicht konfusen Antwort. Aber es war kein Spott darin. „Das musst du mir jetzt erklären, ich kann dir ehrlich gesagt nicht ganz folgen.“
„Offiziell haben wir keine Zauberer hier. Aber der dunkle Lord – er heißt Ben – ist mir manchmal ein wenig unheimlich. Er ist sehr nett, aber hat besondere Fähigkeiten.“
„Er leitet doch diese zweite Akademie mit, habe ich recht?“
„Natürlich – ich hätte es wissen müssen, dass du darüber im Bilde bist.“
„Dass ich magiebegabt bin heißt nicht, dass ich auch allwissend bin. Ich habe mich allerdings gut auf diese Reise vorbereitet - Also, was ist mit ihm?“
„Es ist geradezu unheimlich. Gerade vor einer Woche habe ich mich mit Felix über ein Problem unterhalten – und schon klopfte es an der Türe und Ben kam herein. Und das war nicht das erste Mal.“, erzählte Arella und bemühte sich, leise zu sprechen.
„War er nur plötzlich da oder konnte er dir auch helfen? Hat er mit dem Finger geschnippt und alles war plötzlich gut? Das würde dann in der Tat für Magie sprechen.“
„Nein, nicht ganz. Aber kaum hat er verstanden, um was es geht, kommen auch schon irgendwelche Helfer und bringen es in Ordnung. An diesem besagten Tag ging beispielsweise das Bett von Felix kaputt. Ein Lattenrost war durchgebrochen. Keine Stunde später kam ein Kleinriese mit einem neuen in unser Zimmer hineinspaziert.“
„Das spricht eher für gute Beziehungen als für Zauberei“, widersprach Cedrik.
„Aber ausgerechnet ein Kleinriese. Weißt du, wie selten diese sind? Der Gute war gerade mal 2,50 Meter und hat mir richtig leidgetan. Das ist sicher nicht leicht für ihn.“
„Ja, das ist schon sehr kleinwüchsig für einen Riesen. Aber trotzdem glaube ich nicht, dass Ben ihn einfach so herbeigerufen hat. Das geht nämlich nicht. Oder wenn, nur mit schwarzer Magie. Und diese wendet er sicher nicht an“, erklärte er.
Nun wirkte er leider wieder ein wenig arrogant und besserwisserisch auf sie.
Sie kannte ihn erst wenige Augenblickte, trotzdem verärgerte sie sein Verhalten. Ungewöhnlich, da sich Arella normalerweise gut im Griff hatte.
Aber Cedriks eigentümliche Ausdruck in den Augen passte ihr gar nicht. Er war irgendwie seltsam.
Sie befürchtete, dass er sich nur über sie lustig machte und für sehr dumm hielt. Und das gab ihr einen eigenartigen Stich in der Magengrube, ohne dass sie genau verstand, weshalb.
„Durchaus möglich. Ich kenne mich damit nicht aus. Weißt du Cedrik, nicht jeder ist ein begnadeter Hokuspokus- Zauberstabschwinger so wie du!“, erklärte sie ihm deshalb ein wenig schnippisch, was wiederum bewirkte, dass er seine Stirn in Falten zog.
„Wir sollten zu deinem Meister gehen“, wechselte er nun abrupt das Thema und vermied dadurch, auf ihren verbalen Angriff einzugehen. „Ich denke, ich kann ihm vielleicht helfen.“
„Wie du meinst“, entgegnete sie leicht unterkühlt. „Folge mir bitte, ich zeige dir seine Stube. Aber lass mich dann bitte zuerst eintreten, ich möchte nicht, dass etwas durcheinanderkommt und er wieder von vorne anfangen muss.“
„Zu Befehl“, gab er leicht spöttisch zurück.