Warnung: physische und psychische Gewalt, Knochenbrüche, Verbrennungen
Was als nächstes geschah, war für Valion eine der wirrsten und bizarrsten Erinnerungen seines ganzen Lebens. Nicht nur, dass alles in den frühen Morgenstunden geschah, er hatte tief und fest geschlafen, als der Schrei vor dem Haus ertönte.
Er fuhr von seinem schmalen Bett hoch, von einer Sekunde auf die andere wach, aber völlig desorientiert, und sein Herz raste in seiner Brust. Das nächste, was seine Aufmerksamkeit völlig beanspruchte, waren zwei Dinge – das Weinen seiner zwei Schwestern, die ebenfalls aus dem Schlaf hochgeschreckt waren, und drei schwere Aufschläge auf der Holztreppe vor ihrem Zimmer, die er zuerst überhaupt nicht einordnen konnte. Viel später, als er versuchte Ordnung in das Chaos seiner Erinnerungen zu bringen, konnte er sich vorstellen, was er gehört hatte – seine Mutter musste los gesprintet und mit drei einzelnen waghalsigen Sprüngen die elf Stufen hinunter ins Erdgeschoss gerannt sein. Sie war es jedenfalls, die Valion aus dem Haus stürmen sah, als er sich blitzschnell aufrappelte und an das kleine Fenster stürzte, das nahe seines Bettes in die Südwand eingelassen war. Ihr weißes, schäbiges Nachtgewand flatterte um ihren dünnen Körper wie ein Sturmbanner, und sie hielt irgendeine Art von Waffe in der rechten Hand, die Valion später als den Schürhaken vom Küchenherd identifizierte. Dann fegte der Wind, der am Abend aufgekommen war, die Schleierwolken vom Mond, und blendend hell lag plötzlich ihr Hof vor Valion. Er erkannte beinahe zeitgleich mit seiner Mutter, wer gekommen war, um ihnen einen Besuch abzustatten. Eravier trat vor.
Er war nicht allein, in seinem Rücken scharte sich ein Dutzend Männer. Sie trugen keine Waffen, aber ihre Größe und ihre grimmigen Gesichter ließen keinen Zweifel zu, zu welchem Zweck sie hier waren. Was, oder besser, wen sie zwischen sich hatten, gab den Ausschlag - Valions Mutter blieb wie vom Donner gerührt stehen, und Valion setzte in wenigen Sprüngen die Treppe des Hauses hinunter, stieß die Tür auf und rannte auf den Hof. „Ebran!“ „Vater!“
„Kommt nicht näher!“, krächzte er mühsam. Es war grauenerregend, wie wenig die gebückte Gestalt, die auf dem Boden kauerte, mit dem aufrechten Mann von vor wenigen Stunden zu tun hatte. Sein Gesicht war eine Maske aus Blut, das aus einer großen Platzwunde am Kopf über sein ganzes Gesicht geronnen war. Seine Hände waren in hinter seinem Rücken gefesselt, und obwohl die Dunkelheit nicht viel offenbarte, war einer seiner Arme in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt. Aber das Schlimmste waren die Augen – in ihnen stand nur Angst, als Ebran zu Valion und seiner Frau aufsah und den Kopf schüttelte, zum Zeichen, dass sie zurückbleiben sollte. Eravier stieß ihn mit der Schuhspitze an, und er kroch mühselig etwas weiter auf seinen Familie zu.
Angst und Entsetzen verbündeten sich in Sekunden zu einem roten Nebel aus rasender Wut, als Valion direkt auf den Pulk von Männern zu stürmte und auf Eravier losging. Seine Mutter, eben noch wie gelähmt vor Entsetzen, stieß einen wütenden Schrei aus und folgte kurz hinter ihm. Die Wolken begannen wieder vor den Mond zu ziehen und warfen unruhige Muster auf den Hof und die versteinerten, unbeteiligten Gesichter der Männer, die ohne zu zögern vortraten um ihren Anführer zu verteidigen. Valion war ihre Übermacht in diesem Moment egal, sein Zorn verbrannte jeden Zweifel. Er versetzte einem der Männer einen harten Stoß, Dasha holte mit dem Schürhaken aus und versetzte einem anderen einen Schlag in den Magen, duckte sich unter einer Hand weg, versetzte einem anderen mit einer Rückhand eine Ohrfeige, die ihn zurückfahren ließ. Valion hatte gar keine Zeit, sich zu fragen, woher sie gelernt hatte sich so zu verteidigen, er trat nach einem weiteren der Schläger, der nach ihm griff, doch in diesem Moment wurde er von einem wahren Hüne an seinem rechten Arm gepackt und so mühelos herum geworfen, als wäre er ein Spielzeug. Eine weitere Faust traf ihn am Kiefer, er verlor das Gleichgewicht und landete mit einem schmerzerfüllten Aufschrei auf dem Rücken.
Wie ein Wurm lag er für einen Moment im Staub und wand sich, die Hände auf den schmerzenden Kiefer gepresst. Dasha machte den Fehler, sich nach ihm umzudrehen, ein Tritt gegen ihr Schienbein brachte sie ins Straucheln. Sie schaffte es das Gleichgewicht mit einem Ausholschritt zurückzufinden, verpasst einem weiteren Schläger einen Schlag mit dem Schürhaken, diesmal ohne Rücksicht auf Verluste ins Gesicht, doch die Überzahl der Männer achtete nicht mehr darauf, Distanz zu halten, sie kesselten sie nur mit der Masse ihrer Körper ein.
Valion versuchte sich auf die Füße zu kämpfen und wurde mit einem Tritt in den Magen zurück in den Staub geschickt. Eine Sekunde lang verschwammen der vom Mond erleuchtete Himmel und der Hof, der sich jetzt mit bizarren Schatten zu füllen schien, vor seinen Augen. Irgendwo über ihm hörte er seine Mutter wütend aufschreien, dann landete sie neben ihm auf dem Boden. Instinktiv griff er nach ihrer Hand und versuchte sich aufzurichten, aber Dasha hielt ihn zurück. „Nicht Valion, es sind zu viele“, keuchte sie und schrie im gleichen Moment auf, als jemand ihr mit aller Gewalt den Schürhaken aus der Hand trat, den sie bis zu diesem Moment eisern umklammert gehalten hatte. Eravier, der das Schauspiel mit verschränkten Armen verfolgt hatte, trat neben seine Opfer und lächelte zu ihnen herunter.
„Genug, mein junger Freund! Wir wollen doch nicht, dass jemand verletzt wird.“ „Du Bastard!“, fluchte Valion wutentbrannt, und trotz der Warnung seiner Mutter rappelte er sich auf und wollte Eravier zu Fall bringen. Seine Belohnung war ein gezielter Tritt gegen den Oberschenkel, der ihn in die Knie zwang, und dann, ohne eine Miene zu verziehen, schmetterte Eravier seinen Stiefel in Dashas Gesicht. Sie kreischte schrill auf, krümmte sich zur Seite, und irgendwo hinter ihnen, verborgen im Pulk der Männer, hörte Valion seinen Vater gequält aufschreien.
„Jetzt solltest du ein klareres Bild davon haben was ich meine, wenn ich davon spreche, dass jemand verletzt wird“, versetzte Eravier. Die Gleichgültigkeit und milde Heiterkeit in seiner Stimme und das gönnerhafte Lächeln ließen Valion frösteln. Er griff verzweifelt nach der Schulter seiner Mutter, die sich immer noch wand und schmerzerfüllt weinte. Blut floß zwischen ihren Händen hindurch, schwarz glänzend im fahlen Mondlicht. Er spürte wie sich Tränen in seinen Augen sammelten, und er schrie Eravier an: „Warum seid ihr hier?! Wir haben euch nichts getan! Lasst uns in Ruhe!“
„Wie gern ich das täte, mein junger Freund. Valion, nicht wahr? Nun, Valion, leider ergibt sich bei deiner Bitte ein Problem – dein Vater ist in unser Lager geschlichen und hat uns bestohlen.“ Valion schüttelte verzweifelt den Kopf. „Das ist nicht wahr! Er würde so etwas niemals tun!“ Es musste eine Lüge sein, es konnte nichts geben, das diese Gewalt rechtfertigte. Eravier breitete die Arme aus, eine Geste, die Bedauern ausdrücken sollte, aber jetzt nur höhnisch wirkte. „Ich fürchte doch, mein Junge. Dein Vater hat einige unserer Waren von ihren Ketten befreit und sie dazu ermuntert, das Lager zu verlassen. Ich kann mir kaum vorstellen, was er damit bezweckte.“ Wie beiläufig versetzte er Dasha einen kurzen Tritt mit der Schuhspitze, der sie gequält aufstöhnen ließ, und fügte hinzu: „Obwohl ich fast annehme, dass deine liebe Frau Mutter auch etwas zu ihrer Beteiligung zu sagen hätte, wenn sie nicht gerade so unpässlich wäre.“
Valion kroch auf Knien zwischen Eravier und seine Mutter, brachte sich als lebende Barrikade zwischen sie und ihren Peiniger. Er war sich sicher, dass Eravier nicht zögern würde, sie zu töten, wenn er nur die Lust dazu verspürte. Allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit nie gekannter Angst. Tränen brannten in seinen Augenwinkeln und er musste darum kämpfen, dass seine Stimme nicht kippte, als er fragte: „Was wollt ihr von uns?!“
Eravier gab seinen Männern einen Wink, die daraufhin zurücktraten und wie zuvor Valions Vater zwischen sich einkesselten. Gelassen erklärte er: „Ich dachte an eine Entschädigung. Eine Wiedergutmachung für unseren Schaden, wenn du verstehst.“ Valion zuckte hilflos mit den Schultern. „Wir haben nicht viel Geld! Nur das, was wir heute verdient haben. Vielleicht... vielleicht zehn Silberstücke! Sie gehören euch! Und alles was ihr mitnehmen wollt“, fügte er hinzu. Er hasste den flehenden Unterton in seiner Stimme und wie er sich demütig duckte. Die hasserfüllten Worte seines Vaters geisterte durch seinen Kopf; Das wenige, das wir haben. Im Vergleich zu was? Dem vielen, das ihr gestohlen habt. Wie konnten ein Mann wie Eravier hierher kommen und sie so behandeln? Auf wen oder was berief er sich? Wenn er seinem Vater glauben konnte, den König. Wusste er davon? Und wenn ja, wie konnte er so etwas zulassen?
Eravier betrachtete Valion, wie er vor ihm kniete, und lachte. Es war ein durch und durch ehrliches Lachen, was alles nur noch schlimmer machte. „Ach, Valion, ich glaube du machst dir keine Vorstellung davon, was ein Sklave kostet. Zehn Silberstücke und ein Schaf? Dafür bekommst du die Beine eines Sklaven. Aber gut, ich bin großzügig. Ich denke, ich werde mir etwas von diesem Hof aneignen und dann meiner Wege ziehen.“ Er sah sich spielerisch um, und sein Blick blieb an etwas hinter Valion und seiner Mutter hängen. Er deutete hin zum Haus. „Sieh an. Wie wäre es damit?“
Bevor Valion begreifen konnte, was er meinte, hatte Eravier zwei seiner Helfer einen Wink gegeben, und die grobschlächtigen Männer gingen ungerührt auf das Haus zu, rissen die Tür auf und packten, was sich dahinter befand. Dasha, die sofort begriff, rappelte sich mit schmerzverzerrten Gesicht auf und stieß dabei Valion zur Seite. „Nein, nein, nicht meine Mädchen!“ Sie wollte los rennen, aber Valion packte ihr Handgelenk und riss sie herum. Er wusste nicht, was er mehr fürchtete: ihr den Arm auszukugeln, oder dass sie sich losriss und von Eravier dafür niedergestreckt wurde.
Mila und Arinda, die hinter der Tür versteckt nach draußen gespäht hatten, wurden grob über den Hof gezerrt. Mila weinte laut und brüllend, während Arinda darum kämpfte ihr näher zu kommen und es schließlich schaffte die Hand ihrer kleinen Schwester zu greifen, bevor sie ihre Mutter sah und selbst in Tränen ausbrach. Sie brachte nicht mehr als ein gequältes „Mama!“ hervor, dann wurden sie und Mila neben ihrem Vater zu Boden geworfen. Valions Herz hämmerte wie verrückt in seiner Brust, er versuchte seiner Mutter nicht weh zu tun, die jetzt ohne Rücksicht auf Verluste an ihm zerrte und tobte: „Das könnt ihr nicht machen, das sind meine Kinder! Lasst meine Kinder in Ruhe!“ Jetzt begann sie wieder zu weinen, gab jeden Widerstand auf und sank in sich zusammen. „Bitte nicht“, bettelte sie und fiel zurück auf die Knie. Der Schmerz in ihrer Stimme war wie ein Schlag in Valions Magen. Er kam auf die Füße, strauchelte und fürchtete einen schrecklichen Moment, erneut zu stürzen, aber dann blieb er doch stehen und schaffte es sogar, sich ein wenig aufzurichten. „Das geht nicht“, sagte er langsam, aber völlig klar.
Eravier, der die beiden Mädchen nachdenklich betrachtet hatte wie ein Züchter ein besonders dickes Schwein, wandte seiner Aufmerksamkeit wieder Valion zu.
„Oh Valion, du enttäuschst mich. Ich dachte, das wäre eine einvernehmliche Abmachung, mit der beide Seiten leben können!“ „Sie sind einfach nicht genug wert“, erwiderte Valion knapp.
Er wusste, dass es ein Schuss ins Blaue war. Vielleicht irrte er sich. Er war erst siebzehn, und oft hatte er das Gefühl, das Manches, was er eigentlich schon verstehen sollte, in seinem Kopf keinen Sinn ergab. Aber da war eine Frage, die er sich gestellt hatte, seit Eravier aufgetaucht war. Sein Verstand arbeitete jetzt so schnell wie noch nie in seinem Leben, zog Verbindung um Verbindung.
Warum war Eravier mitten in der Nacht aufgetaucht, wenn das Verbrechen seines Vaters doch so offensichtlich war? Er hätte warten können, bis die Sonne aufgegangen war, es hätte ein ordentliches Gericht geben können. Warum hatten sie seinen Vater so schrecklich verletzt, aber am Leben gelassen? Warum drohte er, seine Schwestern zu verschleppen, aber hatte sie am Nachmittag keines Blickes gewürdigt?
Er erinnerte sich, wie er am Kinn gepackt worden war, herumgedreht und betrachtet wie ein Apfel. Nicht besonders groß. Hübsch. Wie alt. Das alles geschah nicht, weil Eravier irgendeine Entschädigung wollte. Es geschah, weil er etwas erwerben wollte und nur nach einem Weg gesucht hatte, es möglichst einfach zu bekommen. Er sah in Eraviers freundliches, humorvolles Gesicht, und er sah nur eine Maske.
Es war ein Trick, alles hier war ein Trick. Vermutlich spielte es nicht einmal eine Rolle, ob sein Vater unwissentlich zu dieser Situation beigetragen hatte. Vielleicht hatte er mit seiner Tat von Valion ablenken wollen, aber hätte er das überhaupt gekonnt? Eravier hätte einen anderen Weg gefunden, dieser war nur der Naheliegendste.
Was konnte er tun? Er wusste es nicht, nicht genau. Er musste gleichzeitig Ware und Händler sein und den ersten Schritt machen, denn wenn er jetzt ausharrte, wenn er zuließ, dass Eravier so weiter machte, dann würden sie alle verlieren, das spürte er. Er konnte es nicht zulassen, nicht wenn es dabei um seine Familie ging.
„Ich glaube kaum, dass du den Wert eines Sklaven einschätzen kannst, mein Junge“; erklärte Eravier voller Gleichmut. Er winkte einen der Hünen zu sich, der Arinda am Arm mit sich zu den Beiden hin zerrte. Sie weinte stumm, den Blick zwischen ihrem großen Bruder und ihrer Mutter hin und her schweifend, aber sie machte keine Anstalten, zu fliehen. Sie zuckte zusammen, als Eravier ihr eine Hand auf den Kopf legte, aber sie blieb stumm wie ein Fisch. „Gut machst du das, Kleines.“ Eraviers Lächeln wurde breiter. In diesem Moment wirkte er wie ein Raubtier, das die Zähne bleckt.
Zu Valion gewandt sagte er: „Sieh sie dir an. Was für niedliche kleine Gesichtchen, und so hübsches blondes Haar. Stell dir vor, was deine zwei niedlichen Schwestern in zehn bis zwölf Jahren wert sein werden! Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, mit ihrer Ausbildung zu beginnen.“
Hass und Ekel wallten in Valion auf, aber er zwang seine Emotionen nieder. Er sollte aus der Fassung gebracht werden, er wusste es. Er musste die Angst und die Zweifel einschließen, innerlich kalt werden, ruhig wie Eravier. Auf alles herabsehen, alles als wertlos betrachten. Das Gesicht eines Menschen ergreifen und betrachten wie den Kopf eines Schweins. Eravier, das erkannte Valion jetzt, sah Menschen an wie Tiere, nützliche und nutzlose.
Was war nützlich an einem Sklaven? Er betrachtete Arinda, den stumm flehenden Blick, das nass geweinte Gesicht, die zitternden Lippen, die von der Kälte der Nacht langsam blau wurden. Er betrachtete sie wie eine Fremde, sah über die Zuneigung, die er für sie empfand hinaus.
„Sie ähneln meinem Vater. Jetzt sehen sie vielleicht niedlich aus, und vielleicht würde sie sogar jemand kaufen. Aber in zehn Jahren? Sie haben jetzt schon kräftige Knochen. Sie werden groß und klobig“, erklärte er kalt. „Und das Haar haben sie nicht von meiner Mutter geerbt. Jetzt sind sie blond, aber spätestens mit zwanzig werden ihre Haare dunkel und stumpf sein.“ Seine Schwester starrte ihn an. Sie war erst neun, aber sie wusste, was er da sagte. Frische, dicke Tränen rannen ihr übers Gesicht. „Val?“, piepste sie. Sie brachte nicht mehr heraus, er sah es, sie konnte nicht fragen, warum er das tat. Seine Mutter konnte es. „Valion, was sagst du da?“, hörte er sie flüstern, und er wagte es nicht sie anzusehen, er musste den Blick von ihr und seiner Schwester abwenden. Er fühlte sich innerlich hohl.
Eravier betrachtete das Schauspiel mit heiterer Gelassenheit. Das Lächeln, das er zur Schau trug, blieb unveränderlich. „Da magst du recht haben. Das ändert aber nichts daran, dass ich nach wie vor eine Entschädigung erwarte.“ Valion rieb sich die Augen, die ihn verraten und sich mit Tränen füllen wollten, und schluckte trocken. Also gut.
„Ich werde freiwillig mitgehen. Ich werde ein Sklave.“
„Nein, Valion!“, rief seine Mutter und schüttelte abwehrend den Kopf, „das darfst du nicht!“ Valion beachtete sie nicht, sein Blick war starr auf Eravier fixiert.
Er lachte. Es war ein lautes, melodisches Auflachen, das überrascht klang und von dem Valion sicher war, dass völlig falsch war. Es sollte ihn verwirren. Alles hier sollte ihn verwirren, das Weinen seiner Schwestern, die stete Bedrohung der Männer um ihn, die Schmerzen seiner Eltern.
„Du? Du willst dich als Entschädigung zur Verfügung stellen? Valion, wie kommst du auf die Idee, dass ein Bauernlümmel mehr wert ist als zwei goldige kleine Mädchen?“ Valion wandte den Blick nicht ab, sah starr geradeaus. „Ich weiß es.“
Etwas in seinem Gesicht musste Eravier gesagt haben, dass Valion entweder ahnte, dass es die Wahrheit war, oder tatsächlich Bescheid wusste. Für einen winzigen Moment glaubte Valion, Unsicherheit in seinen Augen zu sehen, aber in der nächsten Sekunde war sie verschwunden. „Lass uns das bereden“, erklärte er jovial, trat auf Valion zu und legte ihm freundlich einen Arm um die Schultern, um ihn von seiner Mutter fortzuziehen. Er erhaschte einen flehenden Blick von ihr, dann wurde er fortgezogen, in Richtung ihres Hauses, und beinahe durch die Tür gestoßen.
Es war dunkel im Haus, und automatisch griff Valion nach der kleinen Öllampe in der Nische neben der Eingangstür und machte Licht. Er hatte das Bedürfnis, seine Hände an der kärglichen Flamme zu wärmen, er fühlte sich eiskalt und wie in einem Alptraum gefangen. Er war jetzt allein mit einem Monster. Die Öllampe umklammernd lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Eingangstür.
Eravier schritt durch den Raum und betrachtete die kärgliche Einrichtung, den rohen Boden, das vom täglichen Feuer geschwärzte Gebälk. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. „Erbärmlich, nicht wahr?“ Es war aus Valions Mund gekommen, obwohl er nicht für möglich hielt, dass er das tatsächlich sagte. Das hier war sein Heim, der Ort, an dem er aufgewachsen war und den er mehr liebte als jeden anderen auf der Welt. Aber er zwang sich emotionslos und kalt zu sein, und er spürte, wie diese Art zu Denken alles mit Gift füllte. Er hasste es, aber er musste jetzt sein wie Eravier, der sich gerade zu ihm umwandte, ein wenig erstaunt, ein wenig amüsiert. „Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.“ Er betrachtete Valion einen Moment, die Arme verschränkt, und erklärte dann: „Du lässt mich nicht gut aussehen da draußen, Valion. Wir sind gekommen, um etwas mitzunehmen, und nicht, um zu diskutieren.“ „Ihr seid gekommen um mich mitzunehmen.“ Er hob die Hand, als Eravier protestieren wollte, und wollte gleich darauf laut auflachen, dass er das tatsächlich wagte. Er gebot einem Monster, still zu sein!
„Ich weiß, was das alles soll“, behauptete er. Währenddessen legte Eravier gelassen seinen Mantel ab und ließ sich auf der Holzbank vor dem Küchentisch nieder, um seine Aufmerksamkeit dann zurück auf Valion zu richten. „Tatsächlich, mein junger Freund? Da bist du mir wohl voraus. Nun, was soll das alles?“ „Meine Schwestern sind für euch völlig uninteressant. Niemand hat sie gestern nachmittag beachtet. Ich bin derjenige, der mitkommen soll.“ Valion hatte seine Worte triumphierend aussprechen wollen, aber jetzt, konfrontiert mit dem immer noch gelassenen Eravier, schienen sie ihre Macht eingebüßt zu haben.
Für einen Moment sah es aus als wollte Eravier dennoch widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. „Du hast völlig Recht, gut erkannt“ Er lachte leise, die Augen weiterhin auf Valion fixiert. „Ich sollte bei der Auswahl meiner Anschaffungen vorsichtiger vorgehen. Subtiler. Aber du hast mich überrascht. Ich hätte nicht erwartet, jemand wie dich hier zu finden... Sag mir, Valion, willst du wirklich in diesem Dorf leben, wenn es eine Welt der Schönheit und des Reichtums gibt, an der du teilhaben könntest?“
Für einen Moment wusste Valion nicht, was er sagen sollte. Das hatte wie eine ehrliche, freundliche Frage geklungen, und das traf ihn unvorbereitet. „I-ich weiß nicht...“, stammelte er und fuhr sich nervös durch das Haar. Er bemerkte nicht einmal, wie die Emotionslosigkeit, die er versucht hatte aufrecht zu erhalten, ihn verließ und nur Verwirrung zurückblieb. „Ich meine, ich... kenne überhaupt nichts vom Rest der Welt und...“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Eraviers Ton blieb freundlich, als er sagte: „Ich könnte dir ermöglichen, all dies“, er umfasste mit einer Armbewegung den ganzen Raum, „hinter dir zu lassen. Du könntest ein viel besseres Leben führen, Valion. Du könntest deine Familie unterstützen, sie müssten niemals hungern.“
Valion war sprachlos. Von einem Moment auf den anderen wurde er nicht mehr bedroht und eingeschüchtert, sondern mit einem Angebot gelockt? Frischer Zorn wallte in ihm auf, und er schrie Eravier an: „Mein Vater hat einen gebrochenen Arm, meiner Mutter habt ihr ins Gesicht getreten, und meine Schwestern aus dem Bett gezerrt! Und jetzt sprecht ihr davon mir ein besseres Leben zu bieten, als wäre all das nicht passiert?! Ich bin nicht dumm! Ich weiß, dass das eine Lüge ist!“
Er stapfte zum Esstisch, stellte die kleine Öllampe so heftig ab, dass es klirrte, und baute sich vor Eravier auf. Sein ganzer Körper bebte vor Wut, und was seinen Zorn noch zusätzlich anstachelte war die Tatsache, dass Eravier sich überhaupt nicht von seinem Gefühlsausbruch beeindrucken ließ. Er hob nur beschwichtigend die Hand. „Setz dich. Wir wollen doch jetzt nicht handgreiflich werden und ein gutes Geschäft ruinieren.“ Valions Geduldfaden riss. Er packte Eravier am Kragen und schrie ihm entgegen: „Sonst was?!“
Er sah es überhaupt nicht kommen, obwohl er zornig und wachsam war. In einem Augenblick stand er fest mit beiden Beinen auf dem Boden, im nächsten Moment wurde er gepackt und nach hinten gestoßen, ein heftiger, schmerzhafter Tritt gegen den Knöchel brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er stürzte auf den kalten, harten Boden der Hütte. Er schrie auf, als er sich den Hinterkopf anschlug, und dann noch einmal, als ihn Eraviers Stiefel auf seiner Schulter ihn in den Boden rammte. Er versuchte, sich aufzurichten, aber ließ es sofort bleiben, als der Stiefel sich noch tiefer und schmerzhafter in sein Schlüsselbein grub und ihm die Tränen in die Augen trieb. Hatte er wirklich für einen Moment geglaubt, er hätte hier die Überhand? Jetzt war ihm bewusst, wie wenig er die Situation unter Kontrolle hatte.
Selbst durch seinen Tränenschleier konnte er sehen, dass Eraviers Gesicht wutverzerrt war. Zum ersten Mal sah es nicht so aus, als würde er seine Emotionen nur wie eine Maske tragen, das Problem war, dass Valion sich wünschte er hätte nie gesehen, wer Eravier wirklich wahr. Über sich sah er den Gesichtsausdruck eines Mörders.
„Sonst? Junge, ich glaube du begreifst nicht, in welcher Lage du dich befindest. Wir könnten nachsehen, wie zerbrechlich die Nase deines Vaters ist oder die Schulter deiner Mutter. Danach könnten wir ein kleines Experiment durchführen. Es lautet: Wie schnell brennt ein Hof in einer windigen Nacht ab, und wie hoch wird das Feuer lodern? Wollen wir es herausfinden?“
Was stimmte nicht mit diesem Mann? Von einer Sekunde zur anderen wechselten sich Freundlichkeit und Drohung nahtlos ab. Die Angst kehrte zurück, mächtiger als zuvor. Er hatte versucht, mit jemand zu verhandeln, mit dem man nicht verhandeln konnte, und es zu weit getrieben. Vielleicht hatte er dadurch seine Familie zum Tode verurteilt. Die Erkenntnis ließ ihn in Tränen ausbrechen. Schniefend stammelte er: „Was wollt ihr von mir? Was soll ich tun?“
Seine Tränen retteten ihn. Eraviers Freundlichkeit kehrte zurück, auf einen Schlag, als wäre nie etwas gewesen. Der Stiefel wurde von seiner Schulter genommen, Eravier ergriff seine Hand, zog ihn auf die Füße und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Valion schrie innerlich auf, aber zitternd ließ er ihn gewähren. Er hatte zu viel Angst, etwas anderes zu tun als dazustehen, Tränen überströmt und benommen, und es über sicher ergehen zu lassen. Eravier lächelte ihn mitleidig an.
„Oh Valion, warum sind es immer nur die hübschesten von euch, die so viel Widerstand leisten? Mittelmäßige Proteges, die sich für wenig Geld verkaufen, habe ich im Überfluss, aber sie sind nichts im Vergleich zu einer Schönheit wie dir. Du weißt gar nicht, was du alles erreichen kannst, wenn du dich nur von mir führen lässt.“ Er strich sanft über die Valions Wange, sprach zu ihm wie zu einem Kind. Valion hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen.
Was er sagen wollte war: Fass mich nicht an. Fass mich niemals wieder an!
Was er tatsächlich sagte war: „Ich tue alles, was ihr wollt. Ich will nur nicht, dass meine Familie...“
Eravier gebot ihm zu Schweigen. „Shhhh, schon gut. Lassen wir das hinter uns. Ich war verärgert, verständlicherweise. Einem jungen Mann kann man es nicht recht machen, nicht wahr? Ist man freundlich, denkt er plötzlich, er wäre der Herr der Lage und könne Forderungen stellen, und wird man zornig, ist er wieder ein kleiner, weinender Junge. Aber keine Sorge, ich bin nicht mehr wütend. Alles, was du tun musst, ist mit mir zu kommen, aus freien Stücken.“
Für einen Moment glaubte Valion, sich verhört zu haben, und er musste gegen den übermächtigen Drang ankämpfen, loszulachen. Aus freien Stücken? Wirklich? Wenigstens wusste er jetzt, was seine Mutter meinte, wenn sie sagte dass sie nicht wisse, ob sie lachen oder weinen sollte.
Aber er war nicht mehr in der Position, irgendetwas dazu zu sagen, es gab kein Zurück mehr. Er kämpfte den Drang zu lachen nieder, obwohl seine Mundwinkel ihn vermutlich verrieten, und fragte: „Und weiter?“ „Du wirst einen Vertrag unterzeichnen, der deinen Erwerb und die Entlohnung deiner Eltern betrifft. So lange du unter meiner Obhut bist und tust, was man von dir verlangt, werden sie eine Entschädigung von mir erhalten. Wenn alles so geschieht, wie ich es erwarte, wirst du nach einem Jahr verkauft werden, an jemand, der mehr als bereit sein wird die entsprechende Summe an deine Eltern auszubezahlen. Kurzum, wenn du klug bist, sind sie für immer ihre Sorgen los. Was sagst du, Valion?“
Das irre Lachen, das so unbedingt aus ihm heraus wollte, war wieder da, und diesmal konnte er es nicht aufhalten. Er lachte laut heraus, und fürchtete gleichzeitig, dass er dafür sofort bestraft werden würde. Glücklicherweise schien Eravier sich von Irrsinn nicht weiter beeindrucken zu lassen, er trat einen Schritt von Valion zurück, wofür dieser absurd dankbar war, und schmunzelte mit, während Valion unter Tränen lachte.
Erst als er sich ein wenig beruhigt hatte, keuchte er: „Habe ich denn überhaupt eine Wahl?“ Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen, und plötzlich wurde alle Heiterkeit durch stumpfe Hoffnungslosigkeit ersetzt. Wie viele Emotionen würde er heute noch durchleiden müssen? Er hielt das nicht mehr lange durch. Es war mitten in der Nacht, draußen wurde seine Familie gefangen gehalten, und er war dabei, sein bisher gekanntes Leben wegzuwerfen.
Die Wahrheit war, dass er tatsächlich die Wahl hatte. Er konnte jetzt mit seiner Familie sterben, oder er konnte ihnen allen dieses Schicksal ersparen und in eine ungewisse Zukunft gehen. Er sah zu Boden, nicht in das verhasste Gesicht von Eravier vor ihm, als er sagte: „Ich werde mitkommen.“
Der Morgen begann langsam zu grauen, als sie nach draußen traten, obwohl es Valion so vorkam, als wären Stunden vergangen, seitdem er die Hütte betreten hatte. Er hatte das Gefühl, in helles Tageslicht treten zu müssen, doch jetzt, da der Mond sich hinter Wolken verbarg, schien der Hof noch dunkler zu sein als vorher.
Seine Familie wartete nun zusammengepfercht an der westlichen Hofseite, während nahe bei ihnen ein Feuer brannte. Valion machte sofort alarmiert einen Satz nach vorn, doch Eravier packte ihn am Arm und beruhigte ihn: „Keine Angst, dieses Feuer ist nicht dafür gedacht, irgendetwas niederzubrennen. Komm.“ „Wofür dann?“ Eravier antwortete nicht, sondern gebot ihm nur, ihm zu folgen. Aus den Augenwinkel erhaschte Valion einen Blick auf das Feuer, aber er konnte sich nicht zusammenreimen, wofür es dienen sollte. Er vergaß es sofort, als sie sich seiner Familie näherten und Valion erkannte, dass Arinda und Malia nicht mehr da waren. Hilflos sah er zu seiner Mutter. Dasha flüsterte beruhigend: „Sie haben sie in die Scheune gebracht, mach dir keine Sorgen, es geht ihnen gut.“ Ebran machte Anstalten, sich zu erheben und seinem Sohn entgegen zu gehen, aber einer der Wächter stieß ihn grob zurück auf den Boden. „Valion! Geht es dir gut?“, rief er aufgebracht. „Aber natürlich“, erklärte Eravier gelassen lächelnd, „Valion hat sich entschlossen, euer Vergehen wieder gut zu machen und als Ausgleich seine Arbeit angeboten.“
Dasha und Ebran wechselten einen Blick voller Entsetzen, und Valion wandte den Blick zu Boden. Was würden sie dazu sagen? Er wusste jetzt, was sein Vater von Eravier hielt, und sein Sohn schloss sich diesem Monster auch noch an, scheinbar freiwillig. Er konnte seinen Eltern jetzt nicht in die Augen sehen. Eravier fuhr gelassen fort: „Es gibt nur noch einen Vertrag zu unterzeichnen, und schon ist alle Schuld abgegolten. Wenn ihr so freundlich wäret..?“ „Damit kommt ihr niemals durch, Eravier!“ Valions Vater rappelte sich auf, die Augen sprühend vor Zorn. Erneut wurde er zurückgehalten, aber dass er seinem Zorn mit Worten Luft machte, konnten sie nicht verhindern. „Das ist mein Sohn, du Ausgeburt der Hölle! Ich lasse nicht zu, dass ihm etwas geschieht! Lieber kette ich ihn an wie einen tollen Hund!“ Dasha schüttelte verzweifelt den Kopf. „Hör auf Ebran, wir haben keinen Wahl, er wird...“ Doch Valions Vater hörte nicht auf sie. „Lieber breche ich ihm beide Beine und mache ihn zum Krüppel, als dass ich ihm das antue! Er ist kein Sklave! Das ist kein Leben für ihn! Er wird euch niemals...“ Eravier gab seinen Wächtern einen Wink, und einer der Männer stopfte Ebran einen Lappen in den Mund, und ein zweiter zerrte ihn weg von Valion und seiner Mutter, hin zur Scheune, vermutlich um dort mit Mila und Arinda festgehalten zu werden.
Einer von Eraviers Gefolgsleuten reichte diesem ein Papier und eine vorbereitete Schreibfeder, und er übergab beides Dasha. „Unterschreibt doch bitte für euren Sohn.“
Dasha sah nur Valion an, der immer noch den Blick abwandte. „Valion“, sagte sie leise, und er konnte nicht anders, als in ihr armes, geschundenes Gesicht zu sehen. Sie schien todtraurig und verzweifelt, aber auch voller Liebe zu ihm. „Schaffst du das?“, fragte sie mit zitternder Stimme, und er wusste, dass sie kurz davor war, zu weinen. Ihre blaugrauen, sanften Augen schwammen in Tränen. „Du musst ehrlich sein, Valion, hörst du? Du darfst mich jetzt nicht anlügen. Denn wenn du das tust, dann wirst du dich dein ganzes Leben lang unglücklich machen. Wenn du es nicht kannst, dann finden wir einen Weg. Irgendeinen! Sag mir was du denkst. Bitte.“
Er atmete tief ein und aus. Sein zukünftiges Leben lag vor ihm, eine große, schwarze Leere ohne einen Hinweis darauf, was er sehen, erleben oder tun würde. Die Hölle für ihn, oder der Himmel für sie alle. Nein, er konnte es nicht. Er konnte sie nicht im Stich lassen. „Ich schaffe das.“ Die Antwort klang selbstsicherer, als er sich eigentlich fühlte. Wenn ich muss, fügte ein zögerlicher Teil seiner selbst heimlich hinzu. Wenn es wirklich nicht anders geht.
Dasha nickte, ihre Lippen zitterten. Sie warf Eravier einen eiskalten, hasserfüllten Blick zu, und unterzeichnete das Dokument mit ihrem Namen, das einzige, was sie jemals gelernt hatte zu schreiben. Dann hustete sie, und mit eiskalter Miene spuckte sie Blut auf das Pergament.
Eravier lachte und klatschte erfreut in die Hände. „Wunderbar, sehr rührend. Und dann auch noch eine persönliche Note in der Unterschrift, wie reizend. Nun, da wir das hinter uns hätten, können wir den Vertrag besiegeln. Wenn du bitte dein Hemd ablegen würdest?“
Valion riss seinen Blick von seiner Mutter los und sah ihn versteinert an, er verstand kein Wort. „Was?“, fragte er benommen. Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein, dass in seinem Rücken immer noch ein großes Feuer brannte. Er hatte es nur kurz gesehen, aber jetzt fiel ihm ein, was daran ihn beunruhigt hatte. Eine Stück Metall, das im Feuer lag. Jetzt wusste er, warum es ihm bekannt vorgekommen war: es war ein Brandzeichen.
Einer der Männer hob es gerade aus dem Feuer, glühend rot. Natürlich war es ein verziertes, kunstvolles „E“. Er würde gebrandmarkt werden wie ein Stück Vieh, als Zeichen, dass er einen Besitzer hatte.
Eravier legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er wollte sie am liebsten weg schlagen, er konnte es nicht ertragen, dass dieser Mann ihn berührte, egal, wie harmlos die Geste war. „Sei unbesorgt, es ist nur die Schulter. Nach wenigen Wochen wird es sicher verheilt sein. Vorher erreichen wir die Hauptstadt nicht. Du hast doch nicht etwa Angst?“ Valion zog sich stumm und trotzig das Leinenhemd aus, das er zum Schlafen getragen hatte, und reichte es seiner Mutter. Er sah die Angst in ihren Augen, aber er sah auch, dass sie gewusst hatte was kommen würde. Er hatte ihr versprochen, dass er es schaffen würde. Er durfte sie jetzt nicht enttäuschen.
Eravier nickte einem bärtigen Mann in der Menge zu, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. „Tarn, bereite alles vor.“ Der Angesprochene trat mit einem weißen Tuch vor, das streng nach Alkohol und Kräutern roch, und rieb Valions linke Schulter schnell, aber gründlich ab. Valion registrierte, dass seine Berührung in ihm nicht die übermächtige Abscheu auslöste, die er verspürte, wenn Eravier auch nur in seine Nähe kam. Nachdem seine Schulter zufriedenstellend sauber zu sein schien, wurde er grob auf den Boden gestoßen, und er warf einen Blick auf das Brandeisen, das wieder im Feuer lag. Der glühende Buchstabe schien ihn zu verhöhnen.
Tarn schnippte mit den Fingern, um Valions Aufmerksamkeit zu bekommen, und gab ihm einen Lederriemen. Seine tiefe, brummende Stimme klang nicht unfreundlich, als er sagte: „Hier, nimm das zwischen die Zähne. Das wird nicht hübsch, aber fall' mir bloß nicht rückwärts um. Ich kann dir jetzt schon sagen, das wirst du ziemlich sicher bereuen. Wenn dir schwindelig wird, geh in die Knie und neig' dich nach vorn, so wie jetzt. Hat den Vorteil, dass du im Ernstfall nicht deine Zunge verschluckst.“ Valion nickte und schob sich wie befohlen das Leder zwischen die Zähne. Das hatte er schon einmal gemacht, damals, als er vom Heuboden gefallen war und sich die Schulter ausgekugelt hatte. Das Einrenken war der schlimmste Schmerz gewesen, den er je gekannt hatte. Bis heute zumindest.
Tarn griff das Eisen aus dem Feuer, und für einen Moment musste Valion lächeln. Eravier stand nur mit verschränkten Armen da und sah wachsam zu. Valion hätte es nicht ertragen, von ihm gebrandmarkt zu werden. Tarn war nur irgendjemand, er führte nur einen Befehl aus, ohne bösen Willen. Er würde nur das tun, was verlangt wurde, und wenn Valion ihn richtig einschätzte war ihm Folter fremd. Es ist gleich vorbei, sagte er sich, und schloss die Augen.
Nichts geschah.
Er öffnete die Augen erneut und sah auf zu Tarn, doch der hatte das Brandeisen sinken lassen. Eravier hatte ihm mit einer Handbewegung Einhalt geboten.
Valions Herz sank ins Bodenlose. Nein. Alles, nur das nicht.
Eravier streckte die Hand aus, und Tarn übergab ihm zögernd das Eisen. Valion schüttelte stumm den Kopf. Nein. Bitte nicht. Er wusste nicht, ob er das ertragen konnte.
Eravier sah ihn an. Er lächelte. Er wusste genau, was er tat, er wusste genau wie sehr sich Valion fürchtete, und nur deshalb würde er es selbst tun. Er trat hinter Valion. „Du hast doch nicht geglaubt, dass ich mir diese Gelegenheit entgehen lasse“, sagte er leise. Er strich ihm zärtlich über das blonde Haar, und Valion krümmte sich. Lass es vorbei sein, lass es einfach vorbei sein, bitte lass es jetzt einfach...
„Du brauchst eine bleibende Erinnerung daran, wer dein neuer Gebieter sein wird“, sagte Eravier, und mit einem Ruck drückte er ihm das Eisen auf die Schulter.
Es gab nichts, überhaupt nichts, was sich mit dem Schmerz, den Valion in diesem Moment fühlte, vergleichen ließ. Für einen Moment war es heiß, dann war es zu heiß, und dann war es nur noch reiner, unverfälschter, alles zermalmender Schmerz. Die Luft füllte sich mit dem Gestank von verschmorter Haut. Wie durch Nebel nahm er wahr, dass er mit zusammengebissenen Zähnen schrie. Es schien nicht aufzuhören und eine Ewigkeit zu dauern, bis das Eisen plötzlich von seiner Haut gerissen wurde. Polternd rollte es über den feuchten Erdboden, der bei der Berührung zischte. Verschwommen, betäubt durch unendlichen Schmerz nahm er wahr, dass Eravier Tarn anschrie. Tarn musste ihm das Eisen aus der Hand gerissen haben. Über seine Schreie und seine Tränen hörte er nur Fetzen des Gesprächs. „... hast das Eisen zu lange auf der Haut... sterben können wenn...“ Eravier brüllte ihn weiter an.
Der Schmerz bleib, aber die Welt schien sich zurück zu drehen an ihren ursprünglichen Ort. Valion stand auf, spuckte das Leder aus und keuchte, es war das einzige, was er in diesem Moment überhaupt fertig brachte. „Langsam, Junge!“, warnte Tarn. Hinter sich hörte Valion seine Mutter schluchzen: „Oh Gott, was habt ihr im angetan? Sein Rücken...!“ „Er wird es überleben“, sagte Eravier kalt. Zu Tarn gewandt fügte er hinzu: „Bei anderen wiederum bin ich mir nicht so sicher. Versorg endlich seine Wunde!“
Tarn tat, was ihm befohlen wurde, langsam und sorgfältig. Er ließ sich ein weiteres sauberes, feuchtes Tuch reichen und deckte Valions Wunde vorsichtig ab. Es schmerze immer noch höllisch, und Valion konnte nicht anders, als aufzuschluchzen, wenn die Wunde berührt wurde. Ihm war schlecht, und er war wütend, dass die Schmerzenstränen nicht aufhören wollten, seine Wangen hinunter zu fließen. „Das wird schon“, brummte Tarn kaum hörbar neben ihm, und jetzt weinte Valion nicht nur wegen seiner Wunde, sondern auch weil sich jemand um ihn kümmerte und ihm helfen wollte. Aber er wagte es nicht einmal, sich zu bedanken. Tarn steckte in genug Schwierigkeiten, das war ihm klar.
Eravier schien das alles schon nicht mehr zu interessieren. Er hatte bekommen, was er wollte, alles andere war für ihn nur noch Formalität.
Endlich entließ Tarn Valion aus seiner Obhut, und er stolperte zu Eravier. Die Sonne warf ihre ersten, zaghaften Strahlen über den Rand der Welt, und der Himmel färbte sich rot und lila. „Was jetzt?“, fragte Valion. „Schlaf dich aus. Du wirst morgen Nachmittag mit uns aufbrechen.“
Etwas kratzte an dem letzten Rest wachen Verstandes, der noch in Valion war. Etwas, das er in der Aufregung vergessen hatte, oder übersehen. Jetzt fiel es ihm ein. „Was ist mit den Sklaven, die mein Vater freigelassen hat? Wollt ihr sie nicht verfolgen?“
Eravier wandte sich zu ihm um und lächelte.
Das kann nicht wahr sein, dachte Valion. Er hatte es nicht bemerkt. Er hätte sich selbst schlagen wollen. Auf diese Weise war er ausgespielt worden, er und sein Vater und seine Mutter. Weil es nie einen Zweifel an den Taten seines Vaters gegeben hatte, sodass sie nie innegehalten hatten, um sich zu fragen, ob die Auswirkungen der Wahrheit entsprachen. Als klar war, dass Ebran wirklich versucht hatte, Sklaven zu befreien, hatten sie akzeptiert, dass sie auch wirklich erfolgreich geflohen waren. Das war es, was Eravier von Anfang an gewollt hatte. Ebran hatte seine Täuschung wirklich erst ermöglicht.
„Sag du es mir, Valion“, forderte Eravier ihn auf.
Die Verbrennung auf seiner Schulter hämmerte und brannte, und der anbrechende Tag kroch blutend über den Horizont. „Ihr habt sie schon alle zurückgeholt“, krächzte Valion und wünschte sich etwas, an dem er sich festhalten konnte. „Und wohin sollen sie auch gehen, wenn sie gebrandmarkt sind? Jeder kann sie erkennen.“
Eravier lachte und klatschte Beifall, eine groteske Darbietung, getaucht in grelles, orangerotes Licht. Er hätte einen guten Höllendämon abgegeben, dachte Valion, während die Welt verschwamm. „Wir machen noch einen richtigen Händler aus dir. Nein, warte, streich das. Ich glaube, du bist anderweitig verpflichtet. Ich würde empfehlen, dass du jetzt schläfst und dann deine Sachen packst. Wir werden sehr bald aufbrechen. Unser Aufenthalt hier ist beendet.“
Der Schmerz war zu viel. Wenigstens erinnerte sich Valion noch daran, was Tarn gesagt hatte. Statt rückwärts zu taumeln, fiel er vorwärts auf die Knie, krümmte sich zusammen und übergab sich. Wenigstens würde er nicht seine Zunge verschlucken, das war vielleicht ein Anfang.
Seine Mutter rief seinen Namen, jemand packte seinen Arm, aber er wusste nicht mehr wer. Er schaffte es gerade noch, sich flach auf den Bauch zu legen, dann fiel alles aus den Fugen, rot versank in schwarz, und für einige Stunden war die Welt für Valion gnädig ausgelöscht.