Das Feuer ließ sich Zeit. Das dürre Reisig brannte knisternd, krümmte sich und stob Funken, aber die Flammen griffen nur langsam auf die zwei am Boden liegenden Bündel über.
Das dauerte alles zu lange. Ansell griff bereits nach weiteren dünnen Zweigen, um das Feuer weiter anzufachen, als er abgehalten wurde.
„Lass gut sein. Es wird gleich richtig brennen.“
Ansell hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück. „Wollte nur sicher sein“, murmelte er. Der andere, einer von Karvashs Dienern, nickte, der dritte zuckte gleich darauf mit den Schultern. „Wird so oder so seine Zeit brauchen, bis alles verbrannt ist. Ich meine, so ‘ne… weißt schon… ist feucht, oder? Das ganze Blut, und so…“
Er schwieg, wollte nicht weiter sprechen. Er hatte sich nicht einmal dazu durch gerungen, das Wort »Leiche« auszusprechen. Die Aufgabe war so schon schwer genug.
Sie standen zu fünft um den eher kläglichen Scheiterhaufen: drei Diener, darunter Ansell, und zwei Wächter, die das Vorgehen aufmerksam beobachteten, sich aber sonst im Hintergrund hielten. Alle von ihnen vermieden es genauer hinzusehen, was sie da verbrannten, und sie fröstelten nicht nur wegen der kühlen Morgenluft. Der Horizont färbte sich gerade erst; der schmale Streifen Licht am Horizont war heute nicht freundlich hell und orange, sondern anthrazitfarben, rot und kupfern, wie Blut und Metall.
Sie hatten Durands und Faures Leichen eher verbrennen wollen, die letzten Ereignisse hatten ihnen nur keine Zeit dazu gelassen. Doch manches ließ sich nicht ewig aufschieben; sie konnten die Leichen nicht mitnehmen, und sie anständig zu begraben war ihnen verboten worden. Also mussten sie ihre Entsorgung auf diese Weise hinter sich bringen.
Holz und Reisig hatten sie sammeln müssen, um das Feuer anzufachen, aber auch angekohlte, nicht mehr brauchbare Planen von dem zerstörten Zelt hatten sie genommen. Damit hatten sie die Leichen eingewickelt, nicht aus Anstand, sondern für sich selbst. Sie hätten noch viel mehr getan, um nicht zusehen zu müssen, wie das Fleisch schmorte, das Fett schmolz und das Haar sich in der Hitze kräuselte und verglühte. Den Stoff hatten sie außerdem mit Öl übergossen, aus Sorge, dass das Feuer sonst nicht übergreifen würde.
Noch brannte der Scheiterhaufen widerstrebend, doch die Flammen fanden nun Nahrung und breiteten sich aus. Wenn das Feuer die Leichen vollständig eingehüllt hatte würden sie gehen, das hatten die Diener sich abgemacht; dass ihre Aufgabe damit abgeschlossen war. Sollten die Wächter warten, bis selbst die Knochen der beiden unglückseligen Toten nur noch Asche waren; sollten sie den Gestank von brennendem Fleisch einatmen.
Wenn es denn stinken würde. Ansell war sich da nicht sicher. Was, wenn der Geruch an bratendes Fleisch erinnern würden, wie Schwein, das am Spieß geröstet wurde? Die Vorstellung befiel ihn, während er mit zusammen gekniffenen Lippen in die Flammen starrte, und sie war so alptraumhaft, dass er keine Minute länger aushielt. „Das reicht jetzt“, sagte er und wandte sich ab. Seine Beine zitterten und wollten ihm kaum gehorchen, als er davon ging.
Er war sich nicht sicher gewesen, was die anderen beiden Diener tun würden, aber sie folgten ihm kommentarlos, und die Wächter hielten sie nicht auf. Dicht aneinander gedrängt gingen sie vom Rand des Lagers zurück zu ihrer eigentlichen Arbeit, mit hängenden Köpfen und unsicheren Schritten. Obwohl ihre Schwermut hauptsächlich von ihrer schrecklichen Tat herrührte, glaubte Ansell, dass sie auch einen anderen Grund hatte. Die unausgesprochene Furcht, die den ganzen Wagenzug ergriffen hatte, lag an diesem Morgen auch über ihnen. Und obwohl sie sich kaum kannten, rückten sie doch näher zusammen und gingen ihren Weg gemeinsam, und begannen irgendwann, wie zum Trost, ein Gespräch.
„Das alles gefällt mir nicht“, murmelte der eine, ein kleiner, dürrer Mann mit ergrautem Haar und vielen Sorgenfalten. Er hieß Pierre und war Karvash unterstellt. Seine Weggefährten nickten mit bekümmerter Miene. „Kannst’e laut sagen“, stimmte der andere zu, ein kräftiger Kerl um die dreißig, der, soweit Ansell sich richtig erinnerte, Michel hieß und zu Faures Dienern gehörte. Ansell konnte nicht umhin, ärgerlich zu antworten: „Bloß nicht. Dann sacken sie dich ein und verhören dich. Bringen dich vielleicht zu Eravier, und du siehst ja, was du davon hast.“
Sie schauderten und dachten alle an die verhüllten Bündel. Ansell bedauerte fast, dass er Michel zurecht gewiesen hatte, aber Pierre nickte traurig und stimmte zu. „Er hat Recht, das wäre nicht klug. Die halten sich nicht mehr zurück. Ein falsches Wort, und sie graben alles um.“ „Oder geben dir eine aufs Maul, wie Gilbert, als sie dieses Buch bei ihm gefunden haben“, brummte Michel wütend und spuckte aus. „Und andere hat’s auch erwischt. Kann gar nicht mehr zählen, wie viele ich kenne, die eins aufs Dach gekriegt haben. Und die haben die Frauen angegrabscht, und kommen damit durch. Wie lange sollen wir das noch mitmachen?“
Pierre schwieg, bevor er leise sagte: „Vielleicht brauchen wir die Durchsuchungen ja deshalb. Es heißt, bei euch proben sie den Aufstand wegen Faures Tod…“ Michel hielt sofort wütend dagegen: „Was?! Bei uns hieß es, Karvash hat die Hosen voll und hetzt seine Leute auf! Und das glaube ich gerne, bei den-“
„Das sind alles nur Gerüchte“, unterbrach Ansell sie schroff. „Fragt euch doch mal, wer was davon hat, wenn wir uns alle nicht über den Weg trauen. Wer hat was davon, wenn jeder gegen jeden ist?“
Die Antwort war für ihn selbst klar. Eravier streute Gerüchte, mit der Hilfe einiger Wächter. Wenn die Diener uneins waren, konnte jeder sie bequem gegeneinander ausspielen; einen Aufstand würde es dann niemals geben. Aber Ansell sah an den verwunderten Blicken der beiden Männer, dass sie das nicht verstanden, und er wollte nicht mehr sagen. Das konnte er schon deshalb nicht, weil zu viel auf dem Spiel stand, um sich in einem unbedachten Moment zu verraten.
Er setzte gerade an das Thema zu wechseln, als eine Dienerin ihren Weg kreuzte. Sie trug zwei Wassereimer, und mühte sich furchtbar mit ihnen ab; anscheinend hatte sie ihre Kräfte völlig überschätzt. Ihre Miene zeigte grimmige Entschlossenheit, als sie die Eimer absetzte und mit einigen schnellen Bewegungen ihre Hände lockerte, die gerötet waren von ihrer Last. Sie schien so in ihrem Tun versunken, dass sie die Männer scheinbar gar nicht bemerkte, die an ihr vorüber gingen.
Doch Ansell hielt dennoch inne und berührte sie sanft an der Schulter. „Kann ich dir helfen?“, fragte er, als sie zu ihm aufgesehen hatte. Sie nickte, schenkte ihm ein warmherziges Lächeln, händigte ihm einen der Eimer aus und winkte ihn weiter.
Ansell wandte sich noch einmal zu seinen zwei Wegbegleitern um und zuckte entschuldigend mit den Achseln, aber er musste kein weiteres Wort der Erklärung oder des Abschieds verlieren. Michel hielt kaum inne, sondern kommentierte im Vorbeigehen nur anzüglich: „Halt das Mädel nicht zu lange vom Arbeiten ab! Man sieht sich.“ Pierre, ein paar Jahre älter und ein wenig weiser, verdrehte die Augen und nickte der Dienerin freundlich zu, bevor er ebenfalls davon ging. Dann folgte Ansell dem Mädchen durch das Lager.
Sie blieben nicht lange auf ihrem ursprünglichen Weg. Das Mädchen bog nach nur wenigen Schritten ab, und ab diesem Moment wandelten sie auf einem seltsam gewundenen Pfad, durch Nischen zwischen den Zelten und Wagen, durch die sonst niemand ging, manchmal im Kreis, immer im Schatten, dort, wo noch keine Feuer oder Lampen brannten. Und so umgingen sie heimlich, still und leise alle anderen Diener und Wächter, die zu dieser Zeit wach waren, und wurden kaum bemerkt. Sie waren unsichtbar für alle Unaufmerksamen.
Ansell wusste nicht, woher das Mädchen die Fähigkeit hatte, derartig ungesehen zu bleiben, aber sie verblüffte ihn jedes Mal aufs Neue. Er hatte sie nicht einmal wahr genommen oder gewusst, dass sie im Wagenzug mit reiste, bis sie ihm eines Tages ganz bewusst über den Weg gelaufen war. Vielleicht war das der Grund, warum Fourmi sie als seine Botin ausgewählt hatte. Und Ansell wusste, dass er jetzt, in ihrem Windschatten, auf dem Weg zu dem Ort war, an dem Fourmi sich aufhalten musste.
Fourmi, diese schattenhafte, kaum greifbare Gestalt, die er niemals gesehen hatte und der er sich doch mehr als jedem anderen hier verpflichtet fühlte, einschließlich seinem eigenen Herrn. Er konnte nicht einmal benennen, worauf dieses Vertrauen gründete, außer dem vagen Wissen, dass jemand eine schützende Hand über ihn gehalten hatte, seit er begonnen hatte unbequeme Fragen zu stellen. Zum Beispiel, warum Karvash sie in diesem Jahr begleitete, oder was Eravier sich dabei dachte, einen gigantischen Aufruhr anzuzetteln, nur um eine einzelne Sklavin zu erbeuten. Fragen, die ihm böse Blicke von seinen Kameraden und die wenig subtile Aufmerksamkeit von Eraviers Spitzeln eingebracht hatten, bis eines Tages ein stummes Mädchen vor ihm stand und ihm bedeutete, dass er ihr folgen sollte.
An diesem Tag hatte er Fourmi kennen gelernt. Oder besser, er hatte seine Stimme gehört, denn zu Gesicht bekommen hatte er ihn nie. Aber das störte ihn nicht sonderlich; Er hatte nur wissen wollen, woran er war, was Eravier im Geheimen plante, was überhaupt vor sich ging, und Fourmi hatte diese Neugier mehr als befriedigt. Und ein Angebot unterbreitet, das er niemals abgeschlagen hätte; frei zu sein. Das war eine ungeheuerliche Versprechung, aber aus Fourmis Mund hatte er ihr Glauben geschenkt. Und wann immer die Botin ihn gerufen hatte, war er gefolgt und hatte seine Augen und Ohren der Rebellion geliehen.
Deshalb stellte er auch keine Fragen, als die Dienerin ihm plötzlich Einhalt gebot und ihn nur stumm ansah, statt sich schnell zu entfernen. Sie waren jetzt in einer Nische zwischen zwei Wagen, abgeschirmt von allen neugierigen Augen. „Soll ich hier warten?“, fragte Ansell, und sie schüttelte den Kopf, fixierte ihn stattdessen, sodass er wusste, dass er seine Aufmerksamkeit ganz ihr schenken musste. Dann zeigte sie ihm langsam und mit größter Konzentration ein Handzeichen.
Es gab eine vereinbarte Anzahl dieser Zeichen. „Wir sind sicherer, wenn wir uns nicht allzu oft begegnen“, hatte Fourmi ihm bei einem ihrer wenigen Treffen erklärt. Die Zeichen waren leicht zu überbringen, für Außenstehende nicht zu deuten, und nicht schwer zu merken, da es nicht zu viele von ihnen gab. Genauer gesagt nur vier, und nur drei davon hatte Ansell bisher überhaupt überbracht bekommen.
Das erste lautete »Erhalte Anweisungen« - das Zeichen, das die Dienerin ihm heimlich überbracht hatte, als sie ihre Hände gelockert hatte und Ansell bedeutete, dass er ihr folgen und mit Fourmi sprechen musste, um einen Auftrag zu erhalten. Meistens musste er beobachten, lauschen oder Dinge beschaffen. Hatte er getan, was ihm aufgetragen worden war, erhielt er irgendwann das zweite Zeichen: »Berichte«. Und dann war da ein simples »Warte«, das bedeutete, dass er sich nur still verhalten und keinen Verdacht auf sich ziehen sollte.
Sie gab ihm keines dieser drei Zeichen, sondern das letzte. Das einzige Zeichen, das alle anderen unbedeutend machte.
»Flieh«
Ansell schluckte trocken, und plötzlich kribbelte seine Haut, als würden Insekten darüber kriechen. Ameisen vielleicht. „Wirklich?“, fragte er leise, und das Mädchen nickte. Flieh, formulierte sie noch einmal stumm mit den Lippen, über die, so lange er sie kannte, nie ein Ton gekommen war.
Und obwohl er nicht fragen durfte, obwohl er nicht einmal eine weitere Sekunde inne halten durfte, wenn er dieses Zeichen erhielt, fragte er leise: „Ist es wirklich so schlimm? Bin ich in so großer Gefahr?“
Das Mädchen zögerte, dann griff sie sanft seine Hand, drückte sie kurz, und nickte ihm anerkennend zu. Du hast getan was du konntest. Geh jetzt. Es ist genug, sagte ihr Blick. Dankbarkeit lag darin, und obwohl Ansell nie erwartet hatte, seine Mühen in irgendeiner Weise vergolten zu bekommen, fühlte er doch in diesem Moment, dass sein Einsatz nicht vergebens gewesen war. Und er war unendlich erleichtert. „Gut, ich breche sofort auf. Sei vorsichtig! Und Fourmi soll es auch sein!“ Sie lächelte, nickte, und winkte ihn fort, und er nahm tatsächlich die Beine in die Hand.
Fourmi atmete tief ein und dann lang aus, und strich gedankenverloren ihr Kleid glatt.
Das war der erste. Fehlten ein paar weitere. Aber Ansell war lange Zeit ihr wichtigster und loyalster Helfer gewesen, und es war ihre Schuldigkeit, dass er als erster entkam. Und entkommen würde er, dafür würden ihre Verbündeten sorgen. Aber jetzt musste sie schnell handeln und zügig alle anderen ihrer Spitzel kontaktieren, die wichtigen wie die unwichtigen. Das Fehlen eines Einzelnen würde schon Verdacht erregen, das Verschwinden weiterer würde dann endgültig alles zum Einsturz bringen.
Und dann, wenn alle Spione entkommen und alle Spuren getilgt waren… vielleicht würde sie dann selbst gehen. Das, was sie suchte, wollte nicht gefunden werden. Zeit. Was sie brauchte war Zeit, um nachzudenken und neu anzusetzen.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, nicht wahr? Bis dahin musst du all deine Helfer durch eine zähe, aber unerfahrene Frau und einen Jungen ersetzen.
Fourmi schüttelte den Gedanken ab. Nicht jetzt. Er wandte sich um und griff die Wassereimer, wobei er schwer ausatmete, um gegen den Schmerz in den Armen an zu kämpfen. Die Eimer hatte er schließlich nicht nur zur Tarnung mitgenommen. Sein Ziel waren die niederen Sklaven, und schwerfällig mühte er sich mit seiner Last quer durch das Lager.
Jetzt, in den frühen Morgenstunden, war vielleicht die einzige Zeit des Tages, zu der man wirklich unbeobachtet sein konnte - wenn die Wachen müde waren, und die meisten Diener noch nicht wach. Deshalb suchte sich Fourmi diese Zeit aus, um mit den niederen Sklaven zu sprechen. Sie schliefen unruhiger, zusammengepfercht, wie sie waren, wachten länger, beobachteten vieles, was vor sich ging.
Die Dinge, die er zu ihnen schmuggelte, waren immer nur Kleinigkeiten. Nicht mehr als zusätzliches Wasch- und Trinkwasser, Verbände, die er aus den Kleidungsbeständen abzweigte, Decken, falls er irgendwo ungenutzte sah. Aber dafür revanchierten sie sich mit kleinen Diensten, und das war nicht zu verachten.
Fourmi schlich am Lager der Wächter vorbei, und sah nur einige wenige von ihnen, gähnend und bereit, ihre wenigen Stunden Schlaf einzufordern. Gegen Mittag sollte der Zug die erste Etappe nehmen, bis dahin würden sie schlafen, und das kam Fourmi zu Pass.
Er hatte diesen Abschnitt gerade hinter sich gelassen und wollte zu den zwei vergitterten Wagen weiter huschen, als ihm plötzlich eine Gestalt ins Auge fiel, die bereits dort stand und in ein Gespräch vertieft war. Noch jemand, der die frühe Morgenstunde nutzte. Im ersten Moment rechnete Fourmi mit Tarn, der ganzen Verkörperung seines Ärgers. Aber der zweite Blick enthüllte, dass es sich um jemand anders handeln musste: die Haare waren zu lockig, der Hautton selbst im schwachen Licht des anbrechenden Tages auffällig dunkler.
Fourmi wich zurück, gerade noch rechtzeitig, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Instinktiv wollte er ausweichen, aber dann entschied er sich dagegen. Wer war da bei den Sklaven, und warum? Vielleicht war es nicht wichtig, aber er wollte trotzdem einen Blick auf diesen Störenfried werfen.
Kurz entschlossen ließ er seine Last stehen, hastete zu dem am nächsten gelegenen Wagen und zog sich lautlos daran hoch. Innerhalb von Sekunden lag er flach auf dem Wagendach, eine kaum sichtbare Erhebung im Zwielicht des anbrechenden Tages, und beobachtete konzentriert, was sich weiter unten abspielte.
„Ihr habt Kontakt zu irgend jemand“, sagte der junge Mann. Der Wind trug seine leisen Worte direkt in Fourmis Richtung, und endlich erkannte er, um wen es sich handelte, sowohl an der Stimme als auch am Ausdruck seines Gesichts. Marceus.
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du dir das vorstellst, Kleiner. Wir sind immer hier, uns lädt niemand zum Dorftanz ein“, gab eine der Sklavinnen zurück und lachte leise, und einige andere stimmten mit ein. „Ich weiß, was ihr zu Valion gesagt habt. Ihr habt ihm eine Botschaft überbracht“, beharrte Marceus, und Fourmi fluchte leise in sich hinein. Er hatte damit gerechnet, dass Valion seine Erlebnisse weiter geben würde, aber nicht, dass sein Freund es darauf anlegen würde, dem weiter nachzugehen.
„Ich überbring’ dir jetzt mal ne’ Botschaft, du kleiner Scheißer“, knurrte einer der Männer und trat einen aggressiven Schritt auf ihn zu, eine stumme Drohung, die er nicht wahr machen konnte. „Dein Gequatsche bringt uns nur Ärger.“ „Wir haben ihn vorgeführt, das war alles“, ergänzte ein anderer Mann wesentlich milder. „Ihn ausgelacht. Alles andere war Einbildung.“ „Ihr habt über Jan gesprochen. Wie hättet ihr sonst von ihm wissen sollen?“ „Der Junge ist tot“, spie eine ältere Frau, doch Marceus ließ sich davon nicht überzeugen. „Ihr habt gesagt, dass die Rebellion ihn hat. Was haben die mit ihm vor? Was wollen sie von Val?“ „Denkst du, das wissen wir?“, gab einer zurück, und Marceus stieg sofort darauf ein. „Wenn nicht ihr, wer dann? Mit wem muss ich reden?“
Einen Moment herrschte Schweigen, und die Sklaven wechselten Blicke. Unentschlossen. Dann sagte eine jüngere Frau leise: „Mit niemand. Wenn sie mit dir sprechen will, wird sie dich finden.“
Marceus schien einen Moment perplex. „Sie? Der Spion ist eine Frau?“ „Aber dass du hinter ihm her bist und Fragen stellst, wird ihm nicht gefallen“, antwortete jetzt einer der Männer, und Fourmi grinste. Das war gut. Sowohl die Wahrheit, als auch eine Ablenkung, und Marceus schien mit jeder Minute verwirrter. „Ihr versucht mich auf eine falsche Fährte zu locken“, stellte er düster fest, und erntete dafür nur Gelächter. „Lass gut sein“, sagte eine der älteren Frauen mitleidig. „Bist noch weniger wert als wir. Misch’ dich nicht ein, bevor dir was passiert.“ „Was soll das heißen?“, fragte Marceus scharf, und sie schnitt sich pantomimisch die Kehle durch und lächelte unangenehm. „Sie schafft die beiseite, die ihm in die Quere kommen.“
Marceus verschränkte nur unbehaglich die Arme bei dieser Drohung, und er schien zum ersten Mal wirklich unschlüssig, was er noch sagen sollte. Vermutlich würde er jetzt gehen, in dem Wissen, dass er an dieser Stelle nicht mit seiner Suche weiter kam, und Fourmi entspannte sich bei diesem Gedanken.
Genau in diesem Moment schallte ein unverständlicher Ruf durch das Lager, und Fourmi zuckte zusammen und richtete sich instinktiv auf. Sie sah drei Wächter auf Pferden, die das Lager verließen, in Eile und ohne sich umzusehen. Was zum Teufel ging da vor? Wer hatte das befohlen, so kurz vor ihrer Abreise? Und wohin waren sie unterwegs? Kalte Furcht griff nach ihr, und sie musste sich mit Macht daran erinnern, dass sie immer noch exponiert war. Sie nahm sich nicht die Zeit, nachzusehen, ob Marceus sie bemerkt hatte. So schnell sie konnte, warf Fourmi sich herum, schwang sich an ihrem gesunden Arm hinab, hastete im Laufschritt zu einem weiteren Wagen und rollte sich darunter.
Marceus hatte sie gesehen, natürlich. Sie hörte seine hastigen Schritte, als er versuchte ihr zu folgen, nur um langsamer zu werden und irritiert stehen zu bleiben, als er sie im nächsten Moment nicht entdeckte. Fourmi beobachtete ihn, wie er sich misstrauisch umsah, auf der Suche nach der Person, die er eben noch hatte weglaufen sehen. Sein Blick zuckte in Fourmis Richtung, glitt dann aber über sein Versteck hinweg, irrte durch die Umgebung.
Nein, er hatte ihn verloren.
Andere hätten sich abgewandt; vielleicht geflucht, oder eine hektische Suche begonnen. Aber Marceus stand einfach nur ruhig da, lauschte. Dann lächelte er vage, zu gleichen Teilen amüsiert und tief besorgt. Als er zu sprechen begann, drohte er nicht. Er stellte auch nicht die dumme Frage, wer da sei, oder wo Fourmi sich versteckte. Er wusste, dass Fourmi ihm zuhörte, dass er in diesem Moment seine Aufmerksamkeit hatte. Und dass es völlig sinnlos war, ihn aus seinem Versteck zu locken.
„Ich will nur helfen“, sagte er leise, aber deutlich. „Und ihr könnt euch eure Freunde nicht gerade aussuchen, oder? Redet mit mir. Helft mir, Val und Jan zu helfen. Den anderen Sklaven. Und euch. Es wird immer schlimmer, das wisst ihr doch auch.“
Und Fourmi musste sich zwingen, ihm nicht zu antworten. Denn einen Moment lang war ein Ausdruck in Marceus Augen, den Fourmi schon einmal gesehen hatte. Sie waren sich im Wald begegnet, und sie hatten beide auf ihre Weise daran gearbeitet, Valion zu retten. Und ja, schon damals hatte er bedauert, dass er Marceus nicht weiter verwenden konnte. Auch wegen Jefrem, und dem, was er gesagt hatte, als Fourmi ihm verkündet hatte, dass er sich dem Zug anschließen würde; diese Mitteilung war nur eine Höflichkeit einem alten Verbündeten gegenüber, und so hatte Jefrem sie auch verstanden.
Ich werd’ den Teufel tun und dir Steine in den Weg legen. Was das angeht, bleib ich euch treu, da geb’ ich mein Wort drauf. Aber lasst mich und meine Jungs in Ruhe. Tarn habe ich euch überlassen, das war ein Fehler. Haltet uns ‘raus, ist das klar?
Und Marceus war, so oder so, ganz und gar nutzlos, hatte Fourmi sich das nicht selbst eingeschärft? Wie hätte er nützlich sein können, wenn er aus jeder Menschenmasse heraus stach? Er war zu groß, das Gesicht zu markant, die dunklen Augen zu klug; er fiel auf. Er war Eravier aufgefallen, auch wenn er das sorgfältig verbarg, und Jefrem, der sehr wohl wusste, was in ihm steckte. Selbst Valion, der sonst praktisch nichts bemerkte, das sich vor seiner Nase abspielte, hatte Marceus irgendwann bemerkt. Und wenn das kein Indiz war, was dann?
Vor allem den Jungen. Der hat schon genug durch gemacht.
Ich rekrutiere keine Kinder, hatte sie abfällig geantwortet.
Dann behalt’ das im Kopf, wenn du ihn etwas besser kennst, hatte er nur vage lächelnd gesagt.
Marceus wartete auf eine Antwort, eine lange, lange Zeit. Dann schüttelte er langsam den Kopf, und sagte leise, wie zu sich selbst: „Wenn ihr mir überhaupt zuhört. Vielleicht ist es euch ja auch einfach egal.“ Er harrte noch einen Moment unschlüssig aus, dann zuckte er mit den Achseln, wandte sich schließlich doch ab und trabte davon.
Erst als Fourmi sicher war, dass Marceus verschwunden war und niemand sonst in der Nähe, wagte er sich hervor, und stand dann selbst wortlos da. Unschlüssig, was zu tun war.
Es wird immer schlimmer, das wisst ihr doch auch.
Ja, damit hatte er Recht. Marceus war nicht dumm, er spürte die Unruhe und die Gefahr. Er wollte helfen, und wie gern hätte Fourmi ihn einbezogen.
Aber nein, das konnte er nicht riskieren. Valion und Anya mussten genügen. Anya, die ihr nahe stand, und Valion, der ihm nahe stand. Letztendlich würde sich so eine nutzbare Verbindung ergeben, wenn erst alles an seinem Platz war. Wenn Anya Valion vertraute, und er ihr. Sie mussten sich dazu durchringen, irgendwie. Denn es gab sonst nichts, was Fourmi tun konnte. Nicht jetzt. Nicht allein.
Der nächste Schritt lag in Anyas Hand.
Valion schlief lange an diesem Morgen. Oder war es schon Mittag? Während er manchmal träumend, manchmal an der Grenze zum Wachen da lag, hatte er keinerlei Zeitgefühl. Um ihn herum erwachte das Lager zum Leben, und irgendwann fielen Sonnenstrahlen durch die Planen und schweren Vorhänge herein. Aber er zog sich das Kissen über den Kopf, dämpfte das Licht und den Lärm, und schlief wieder ein. Er träumte wirr, und vergaß alles, wenn er zwischendurch erwachte.
Vage nahm er wahr, wie Anya neben ihm schlief. In den frühen Morgenstunden hatten ihre Alpträume nachgelassen, oder er hatte zu tief geschlafen, um sie noch zu bemerken. Zuerst hatte sie sich herum geworfen, und oft hatte sie Worte und Satzfetzen gemurmelt. Das war das erste Mal, dass ihm das aufgefallen war, oder dass er deswegen erwachte. Hatte Jadzia sonst ihre Hand gehalten und sie dadurch beruhigt?
Jadzia war nicht da. Valions schlaftrunkener Verstand war nicht in der Lage, sich daraus einen Reim zu machen. Sie konnte nicht fort sein, aber das war sie. Er war zu müde, um darüber nachzudenken.
Also hatte er stattdessen Anyas Hand gehalten, und sie hatte sich beruhigt. Einmal wachte er auf, und sie lag bei ihm und schmiegte sich nahe an ihn, und er hatte eine Wange auf ihre Schulter gebettet. Ihr Haar war weich und duftete schwach nach Seife und Lavendel. Als er das nächste Mal erwachte, schlief sie von ihm abgewandt. Vielleicht hatte er das auch nur geträumt.
Er driftete gerade vom Schlaf ins Halbwache, als er das Rascheln von Stoff hörte und ein verirrter Windzug ihn traf. Dann kamen schwere Schritte auf seinen Schlafplatz zu. Vielleicht war Jadzia zurück gekehrt? Valions schläfrigen Verstand schien das plausibel, bis ihm einfiel, dass eine einzelne, schmale Frau vermutlich nicht solch einen Lärm gemacht hätte.
Dann wurde er ohne Vorwarnung grob am Arm gepackt und hoch gezerrt.
Reflexartig spannte er sich an und riss die Augen auf, wehrte sich gegen wen auch immer, und wurde mit Wucht zurückgestoßen. Hätte kein Kissen unter ihm gelegen, hätte er sich heftig den Kopf angeschlagen; stattdessen keuchte er auf und fühlte im nächsten Moment etwas kaltes, das sich um seinen Arm schloss. Völlig perplex starrte er auf die eiserne Handfessel, dann auf die Wächter, die grimmig ihre Arbeit verrichteten und die dazugehörige Kette am Wagengerüst befestigten, bevor sie sich Anya zu wandten.
„Wartet!“, wollte er protestieren, Anya zumindest wecken, aber ohne inne zu halten packten einer der beiden, so grob wie zuvor, auch ihrem Arm. Sie schrie leise auf und kroch, noch während sie erwachte, von ihren Angreifern fort, bevor sie begriff, was überhaupt vorging. Ihre Augen zuckten zu den Wächtern, zu Valion, dann wandte sie sich hektisch zu Jadzias Schlafplatz um, tastete nach ihr… und fand sie nicht. Ihr Gesicht wurde von ihrem wirren Haar verdeckt, aber ihr Körper versteifte sich, als sie begriff, dass Jadzia nicht zurück gekehrt war in dieser Nacht.
Bevor Valion auch nur den Mund öffnen konnte, warf Anya ihre Decke beiseite und sprang auf. „Wo ist sie?“, fragte sie schrill und stellte sich den Wachen in voller Größe entgegen. „Wo ist Jadzia?! Antwortet mir, ihr verdammten Dreckskerle!“„Halt dein Maul!“, knurrte einer der Wächter und versetzte ihr einen so heftigen Stoß gegen die Schulter, dass Anya stolpernd ihr Gleichgewicht zurück gewinnen musste. „Sie ist auf Eraviers Befehl draußen, und mehr hat dich nicht zu interessieren!“, antwortete der andere, während er sie voller Verachtung musterte. Valion versuchte, die Gesichter der beiden einzuordnen, und konnte es nicht; er hatte sie, wenn, dann nur flüchtig gesehen. Wo war Guy, der sich sonst um Anya kümmerte?
„Das hat mich sehr wohl zu interessieren, wenn sie dem selben Wagen zugeteilt ist!“, tobte Anya. „Was meint ihr mit »draußen«?! Antwortet gefälligst! Wo habt ihr sie hingebracht, ihr hirnloses Pack?!“ „Bleibt einfach hier und verhaltet euch still, bevor ihr euch Ärger einhandelt“, grollte der zweite Wächter und nickte dann dem ersten zu, und damit wandten sie sich ab und stapften davon. Nur, dass Anya keineswegs gewillt war, still zu bleiben oder sie einfach so davon kommen zu lassen. „Bleibt sofort stehen!“, schimpfte sie und folgte ihnen, „Ich verlange, dass ihr mir sagt, was mit ihr-“
Weiter kam sie nicht; das Ende ihrer Kette, die sie in ihrer Wut und Verwirrung völlig vergessen hatte, war erreicht, und beinahe hätte sie sich mit ihrem Versuch voran zu kommen selbst umgerissen. Erschrocken sog sie die Luft durch die Zähne, und ihre Augen zuckten zu ihrem Handgelenk, dann zurück zu den Wachen, die den Wagen gerade durch den Vorhang verließen, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Sie hatten sie einfach stehen gelassen.
„So eine gottverdammte Scheiße“, flüsterte sie.
Einen Moment stand sie nur da, erstarrt vor Wut, mit wirrem Haar und geballten Fäusten, und Valion wusste überhaupt nicht, was er sagen sollte. Er hatte Anya nie so aus der Bahn geworfen gesehen. Gleichzeitig schien sie erhaben über allen Trost; sie wandte sich ihm nicht zu, sah ihn nicht an. Vielleicht nahm sie ihn in diesem Moment nicht einmal wahr.
Irgendwann riss sie sich selbst gewaltsam aus ihrer Starre, ging zu ihrem kleinen Tischchen hinüber, ließ sich auf einen Schemel fallen und begann, ihre Haare zu bürsten, so wie jeden Morgen. Der Anblick hätte gewohnt sein müssen, das Zeichen, dass sie die Fassung zurück gewann; aber nicht heute. Es hätte kaum Furcht erregender sein können, wenn sie mit einem Messer gefuchtelt hätte. Sie bearbeitete ihr Haar so grimmig, als wäre es ihr Feind, und Valion konnte ihre Kopfhaut fast kreischen hören.
Der Anblick war so schmerzhaft, dass er es schließlich nicht mehr aushielt. „Es geht ihr bestimmt gut“, sagte er leise und näherte sich Anya, sorgfältig darauf bedacht, wie weit seine eigene Kette reichte, die klirrend hinter ihm her schleifte.
„Natürlich geht es ihr gut. Wir sprechen von Jadzia. Wer ihr etwas antun will, bereut das immer schnell“, antwortete sie gereizt, ohne von ihrem Haar abzulassen. „Aber du machst dir Sorgen“, stellte er leise fest, und wurde mit einem wütenden Blick gestraft. „Was kümmert dich das auf einmal, hm?“
Das war einfach ungerecht, und instinktiv wollte Valion sich von ihr abwenden. Anscheinend war all der gute Wille, den sie noch am Vortag aufgebracht hatte, schon wieder dahin. Warum musste sie gerade jetzt, wenn er sie trösten, sich sogar mit ihr versöhnen wollte, schon wieder so abweisend sein?
„Es tut mir Leid.“ Er murmelte die Worte nur, weil es ihm so widerstrebte, ihre Launen einfach so zu akzeptieren. Aber hatte er sich nicht vorgenommen, nicht mehr so ein Idiot zu sein? Er musste nachgeben, wenn er jemals ihr Vertrauen gewinnen wollte.
Anya schien jedenfalls überrascht; sie sah ihn nicht an, aber sie ließ die Haarbürste gedankenverloren sinken. „Was tut dir Leid?“, fragte sie, und ihre Verwirrung war so echt, dass Valion fast einen Rückzieher gemacht hätte. Alles, nur keine Schuld eingestehen. Er starrte auf den Boden und scharrte unbehaglich mit den Füßen, als er antwortete: „Alles. Was ich gesagt habe. Dass ich… dich erschreckt habe. Ich habe gedacht… dass du mich loswerden willst. Mir das Leben schwer machen.“
Einen Moment lang hingen diese Worte nur im Raum, und keiner von ihnen wusste, wie sie von diesem Punkt aus fortfahren sollten. Vielleicht gab es überhaupt keinen Weg, alles, was zwischen ihnen vom ersten Augenblick an schief gelaufen war, einfach so weg zu wischen. Vielleicht waren sie zu unterschiedlich, um jemals Freunde zu werden.
Dann seufzte Anya und sagte leise: „Ich weiß. Aber die Schuld liegt nicht nur bei dir. Ich habe versucht, dich von mir fern zu halten. Den Eimer kaltes Wasser hätte ich mir sonst gespart. Ich weiß, du fragst dich warum“, kam sie seiner Frage zuvor, und dann wandte sie sich tatsächlich zu ihm um, suchte seinen Blick. Vielleicht sollte er nur begreifen, dass sie nicht scherzte, als sie langsam und deutlich sagte: „Ich wollte, dass du mir nicht vertraust, damit ich dir nicht näher kommen muss. Ich wollte dich nicht verführen müssen. Vor allem nicht auf Befehl.“
Valions Gesichtszüge entglitten ihm, und er starrte sie mit offenen Mund an, bis er hervor brachte: „Was?!“ Er kam sich vor, als hätte er irgendetwas Wichtiges verpasst, oder als wäre er wirklich zu dumm, um die Zusammenhänge zu begreifen. Wovon redete sie da? Wie kam sie überhaupt dazu?
Es sei denn, er hatte Recht gehabt. Vielleicht hatte Eravier wirklich einen Plan verfolgt, als er Valion zu Jadzia und Anya geschickt hatte. Nicht, um ihn auszuhorchen, sondern… dafür.
„War es-“, setzte er an, und Anya unterbrach ihn: „Ja, Eravier hat mir diesen Auftrag gegeben.“ Erstaunt bemerkte Valion, dass sie jetzt nicht mehr seinen Vornamen verwendete, wie ein heimliches Eingeständnis. „Er wollte nicht abwarten, bis du eigene Erfahrungen machst, und deshalb hat er mich auf dich angesetzt. Schon bevor du in die Wälder davon gelaufen bist… eigentlich vom ersten Tag an. Und damals habe ich ihn schon vertröstet, ihm gesagt, dass ich dich nicht anfasse, bevor du aus dem Pestwagen hinaus bist. Nimm es mir nicht übel, aber ich musste zumindest versuchen, aus dieser Sache heraus zu kommen.“
Sie lächelte, und jetzt sah sie wieder schön aus, gelassen und überhaupt nicht mehr verschlossen und arrogant. Valion konnte nicht anders, als erleichtert zurück zu lächeln, und er war selten so froh gewesen, sich in jemand getäuscht zu haben. Er hätte Anya niemals übel nehmen können, dass sie ihm keine Liebe oder Zuneigung vorgespielt hatte. Auf eine verrückte Art hatte sie versucht, ihn zu beschützen.
Fast wie von selbst kamen die Worte, die er vorher nur unter Zwang gesagt hatte, jetzt völlig frei über seine Lippen: „Es tut mir Leid, dass ich-“ „Ich weiß. Und es ist schon gut“, winkte Anya ab, und griff wieder nach ihrer Bürste. Während sie ihre Arbeit etwas ruhiger wieder aufnahm, fuhr sie fort: „Letztendlich hatte das Alles auch etwas Gutes. Du warst ein wenig auf dich gestellt, und hast dadurch anscheinend ein paar Kontakte geknüpft. Und das ist wichtig, denn so oder so wirst du Erfahrungen sammeln müssen. Aber es wäre mir wirklich lieber, wenn du das auf eigene Faust tust, ohne dass ich mich daran beteiligen muss. Was ist nun eigentlich mit deinem Freund, Marceus, ist er- was hast du?“
Anya hatte sich von Valion abgewandt, doch als sie wieder zu ihm sah, hatte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig wieder verdüstert. „Und was, wenn ich das überhaupt nicht will?“, fragte er zornig.
Dann haben wir beide ein Problem; du mit Eravier, und ich mit Fourmi. Und das wollen wir beide nicht, dachte Anya, aber sie riss sich zusammen. Das war nicht der richtige Moment, ihn mit Eravier, der Rebellion oder mit ihren eigenen, egoistischen Plänen zu konfrontieren. Das letzte, was sie jetzt brauchte, war ein weiterer Streit.
„Dann würde ich dich fragen, was der Grund dafür ist. Du hast schon mit jemand geschlafen, nicht wahr? Was hindert dich daran, das noch einmal zu tun?“, fragte sie deshalb ruhig. „Das- das geht dich nichts an“, murmelte Valion zur Antwort. Er sah sie nicht an, starrte mit verschränkten Armen vor sich auf den Boden. Sie hätte erwartet, dass er rot wurde, sich schämte wegen dem, was sie besprachen, aber davon zeigte sich überhaupt nichts. Er war einfach nur trotzig. Das verwirrte sie, passte nicht zu dem, was sie bisher von ihm gesehen hatte, und nicht zu dem, was sie sich an Argumenten zurecht gelegt hatte.
„Nun, du kannst alles ein bisschen heraus zögern, das sei dir gegönnt“, versuchte sie ihre Worte abzuschwächen, „Aber letztendlich wirst du keine Wahl haben. Du bist jetzt ein Sklave; das ist der Zweck, zu dem du gekauft wurdest, und-“ „Ich wurde nicht gekauft, ich wurde verschleppt!“, unterbrach er sie, noch wütender als zuvor, und diese fehlgeleitete Wut auf sie begann Anya auf die Nerven zu gehen.
Er verhielt sich wie ein störrisches Kind, das die Schuld für irgendein Ärgernis bei seiner Mutter suchte. Nur, dass Valion kein Kind war, und es besser wissen musste. Was erhoffte er sich davon, sich so zu verhalten? Anya hatte keine Ahnung, aber sie wusste, dass sie Kinder genau deshalb noch nie hatte ausstehen können; diese Unfähigkeit, ja, sogar strikte Weigerung, die Realität als das zu sehen, was sie war. Und hatte nicht gerade das den Gedanke, mit ihm schlafen zu müssen, so unerträglich gemacht hatte? Dass er in ihren Augen immer noch ein Kind war, weil er sich so trotzig und egoistisch verhielt?
„Das spielt aber keine-!“, wollte sie ihm entgegnen, aber er ließ sie nicht einmal ausreden. „Es spielt sehr wohl eine Rolle! Ich habe hier nichts verloren, und ich bleibe auch nicht hier, und bis ich hier heraus komme, werde ich einfach so tun als ob!“ „Und wie willst du das anstellen?“, gab Anya zurück, und der Ton ihrer Stimme war jetzt schneidend, ohne dass sie das verhindern konnte. „Was glaubst du denn, wo du hier bist? Auf dem Weg in die Freiheit?“
Im hintersten Winkel ihres Verstandes wusste sie, dass sie jetzt doch wieder stritten und den gerade erst geschlossenen Frieden zerstörten. Aber sein Tonfall, die pure, fehlgeleitete Rechtschaffenheit seines Zorns, die schiere Naivität, mit der er an sein Schicksal heran ging, legte all ihre Vernunft lahm.
„In spätestens zwei Wochen wirst du in einem Bordell sitzen und entweder verkauft werden, oder bezahlt werden, um mit jemand zu schlafen! Und wenn du dich dann noch widersetzt, wird Eravier dich mit Freude dazu zwingen! Du kannst nicht derartig naiv sein, dass dir das nicht klar ist!“ „Dann lasse ich mir eben etwas einfallen! Es gibt immer irgendeinen Ausweg! So einfach gebe ich nicht auf!“
Anya lachte ungläubig auf. Was für dummes Gerede! Der Junge hatte keine blassen Schimmer, wie er irgendetwas bewerkstelligen sollte, und dass er das nicht endlich selbst zugab, gab den Ausschlag, dass sie scharf erwiderte: „So einfach wie wer? Wie wir anderen? Herzchen, du bist nicht der erste Sklave auf der ganzen Welt! Wir versuchen hier alle, irgendwie zurecht zu kommen, wir hatten auch andere Träume! Oder denkst du, dass wir uns alle darum gerissen haben, hier zu sein?“ „Wenn nicht, warum seid ihr dann überhaupt hier? Warum habt ihr euch denn verkauft?! Wozu, wenn ihr nicht hier sein wolltet?!“, herrschte Valion sie an, „Ist mir auch egal, wie ihr euch rechtfertigt! Ich bin nicht so wie ihr, egal was ihr mir einreden wollt! Mich hat man hierher gezwungen! Ich bin kein Sklave, und erst recht keine Hure!“
Erst als die Worte verhallt waren verstand er, was er gerade gesagt hatte. Mehr noch, er konnte es in Anyas Gesicht lesen; eine Andeutung von Wut und Schmerz, bevor ihre Miene steinern und gleichgültig wurde. Sie schluckte schwer; vielleicht, weil sie wusste, dass man einmal gesagte Worte nicht zurück nehmen konnte. So wie die, die Valion in diesem Moment gern zurück genommen hätte.
„Ich glaube, du bist einem Irrtum aufgesessen“, sagte sie langsam, und als er den Mund öffnen wollte, eine Entschuldigung stammeln, irgendetwas erwidern, hob sie nur die Hand und brachte ihn zum Schweigen. „Du glaubst, du wärst anders als wir, weil du deine eigene Entscheidung nachvollziehen kannst, und unsere nicht. Du redest dir ein, deine Vergangenheit würde dich zu etwas Besserem machen.“ Sie pausierte, durchbohrte ihn nur mit ihrem Blick, bevor sie sagte: „Aber du irrst dich. Dich unterscheidet nichts von uns. Du bist nicht weniger eine »Hure« als wir alle, denn sonst wärst auch du nicht hier. Du hast etwas, das du nicht verlieren wolltest, gegen deine Freiheit getauscht. Du hast dich anketten und mitnehmen lassen, so wie wir alle.“
Das ist nicht wahr, wollte Valion sie anschreien. Ich bin nicht freiwillig hier! Ich gehöre nicht hierher! Ich habe nichts getan, ich wollte das nicht, ich-
Aber er konnte die Erinnerung nicht auslöschen. Wie er vor Eravier gestanden hatte, wie er die Worte gesagt hatte, die ihn zu diesem Moment geführt hatte; Im vollen Bewusstsein, worüber er verhandelte.
Ich werde freiwillig mitgehen. Ich werde ein Sklave.
„Du bist ein Heuchler, und ein Lügner“, sagte sie, und jetzt war ihre Stimme eisig, kein Funken Freundlichkeit mehr darin. „Und solange du dich weigerst, endlich zu verstehen, warum du hier bist, kann dir niemand helfen. Nicht einmal ich.“
Damit wandte sie sich von ihm ab, griff nach ihrer Bürste und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Ab diesem Moment war er für Anya nur noch ein weiterer Einrichtungsgegenstand.
Nur, dass Valion sich nicht einmal wie ein Gegenstand fühlte, sondern nur wie der letzte Dreck. Und zornig auf Anya, auf sich selbst, auf alles um ihn. Er stand nur da und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Aber er kam nicht damit zurecht, weder mit dem, was von ihm verlangt wurde, noch dem, was er gerade getan hatte, schon wieder.
„Anya“, sagte er leise. Sie musste ihm zuhören, sie musste verstehen, dass er das nicht so gemeint hatte, dass er sie nicht hatte verletzen wollen, dass er einfach nicht wusste, was er tun sollte. Dass sie ihn in die Ecke drängte, ihn zwang über Dinge nachzudenken, über die er einfach nicht nachdenken konnte. Dass der Gedanke an Flucht alles war, was ihn noch zusammen hielt.
Aber nein, sie reagierte nicht mehr auf ihn. Einfach so, weil sie es konnte, und das fachte Valions Wut nur weiter an.
Vielleicht hatten sie sich beide auf irgendeine Weise verkauft, aber er hatte trotzdem mehr durchgemacht als sie! Warum hackte sie schon wieder auf ihm herum? Sie hatte einfach voraus gesetzt, dass er mit Marceus oder sonst wem schlafen würde, dass er sich dazu durchringen konnte, all das zu tun, was Eravier von ihm verlangte. Wie konnte sie so sicher sein, dass er das fertig brachte? Wie konnte sie seinen Widerstand so untergraben, ihm alle Hoffnung auf einen Ausweg zunichte machen?
Sie behandelte ihn wie ein dummes Kind, wie einen Tor, und das hasste er aus tiefster Seele. Sie stocherte in offenen Wunden, traf ihn so, dass er nicht ausweichen konnte. Und vielleicht war das der andere Grund, warum Anya ihm von Anfang an missfallen hatte, noch bevor sie ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet hatte: dass er instinktiv gewusst hatte, dass sie so in ihn hinein sehen konnte. So, wie ihn sonst nur ein Mensch in seinem Leben durchschaut hatte.
Der Gedanke tat weh; er konnte fast Nishas Stimme hören, wie sie ihn aufzog. Ihr halb amüsiertes, halb bitteres Lächeln, mit dem sie auf ihn herab sah. Jede Schwäche offen legte.
Sei nicht so dramatisch. Ist doch alles halb so schlimm.
- Für dich vielleicht.
Für dich auch nicht. Du bist nur zu sehr daran gewöhnt, dass es dir die anderen leicht machen. Du erwartest immer, dass es nach deinem Willen geht. Dafür würdest du doch alles tun.
Und hatte sie ihm damit nicht das selbe wie Anya gesagt?
Du bist ein Heuchler, und ein Lügner.
Er hatte sie nie wirklich verstanden, so wenig wie Anya. Aber in diesem Moment sehnte er sich nach ihr, egal wie unnahbar sie ihm manchmal erschienen war. Warum hatten sie sich so voneinander entfernt? War es sein Fehler gewesen? Und wenn ja, durfte er ihn dann noch einmal machen?
„Anya“, sagte er leise, fast flehend, und ging unsicher einen Schritt in ihre Richtung. „Es tut mir Leid. Du hast Recht, und es tut mir Leid. Hörst du?“
Sie hörte ihn, denn sie hielt inne. Vielleicht bemerkte sie die Veränderung in seiner Stimme. Vielleicht konnte sie ihn wirklich so lesen wie sonst kaum ein anderer Mensch auf der Welt. In dem Moment, in dem sie sich wieder zu ihm um wandte und ihn musterte, wurde ihm klar, dass er sie niemals hätte täuschen können. Dass er das vermutlich niemals gekonnt hatte.
„Nein, das tut es nicht. Noch nicht“, sagte sie leise und nüchtern. „Aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf. Ich habe ja auch gar keine andere Wahl. Denn was Eravier mit mir tut, wenn ich versage… nein, darüber hast du nicht nachgedacht. Keine Sekunde lang.“ Und sie hatte recht, natürlich hatte sie recht, sie musste dazu nicht einmal Valions entsetzten Gesichtsausdruck ansehen. Ohne ihn noch weiter zu Wort kommen zu lassen, hob sie die Bürste und drückte sie ihm in die Hand. „Da. Mach dich nützlich.“
Der plötzliche Themenwechsel, der Befehlston und die Aufgabe verwirrten Valion eine Sekunde lang. Aber dann gehorchte er einfach und fragte nicht mehr nach, tat nur das, was sie ihm aufgetragen hatte. Vielleicht als Schuldeingeständnis, vielleicht auch, weil ihm diese Aufgabe vertraut war.
Wie oft hatte er Mila oder Arinda vor sich sitzen gehabt, auf seinem Bett, oder auf der Bank vorm Esstisch, unruhig mit den Füßen schlenkernd oder gedankenverloren in die Gegend starrend? Er hatte sich immer um sie gekümmert, erst unter Protest, dann klaglos, schließlich mit Freude. Fast jeden Tag hatte er das dünne blonde Haar seiner Schwestern gebürstet und geflochten. Milas wirres Haar, das immer ein wenig am Hinterkopf ab stand, und Arindas spröderes Haar, das sich in den Längen kräuselte. Seine Hände, auch wenn die Fessel schwer an ihnen zog, wussten von selbst, was sie tun mussten, ließen ihm Zeit, sich zu beruhigen, nachzudenken.
Auch wenn ihm die Arbeit nichts ausmachte, verstand er doch nicht, warum Anya sich von ihm helfen ließ, gerade in diesem Moment, nach allem, was er gesagt hatte. War er jetzt nur ein bequemer Ersatz für Jadzia, weil sie nicht da war? Ein besserer Diener? Irgendwie glaubte er das nicht. Während er geduldig Anyas lange, schwere Locken bändigte, und sie stumm und mit geradem Rücken vor ihm saß, dachte er darüber nach. Er erinnerte sich daran, wie Jadzia Anya beim Waschen ihres Haars geholfen hatte, und wie er gedacht hatte, dass Anya auf sie herab sah. Zu diesem Schluss war er gekommen, weil Anya selten um irgendetwas bat; sie forderte. Aber Jadzia selbst hatte weder widersprochen, noch den Eindruck gemacht hatte, dass sie Anya widerwillig half.
Langsam, während Valion Partie um Partie ihres Haars ausbürstete, fragte er sich, ob Anya nicht vielmehr auf sie beide angewiesen war. Er hätte ihr so einfach weh tun können, so wie Eravier, der ihre Haare gepackt, sie einfach daran zurück gezerrt hatte. Ob die Dienerinnen ihr vielleicht schon Schmerzen zugefügt hatten, in einem unbeobachteten Moment? Vielleicht sogar immer wieder, so lange, bis Anya keine Wahl hatte, als niemand anderen an sich heran zu lassen? Sie hatte etwas derartiges gesagt, auch wenn er ihr damals nicht geglaubt hatte. Aber er hatte schon damals gewusst, dass sie den Hass der Dienerinnen auf sich zog.
Völlig ohne nachzudenken begann er nach dem Bürsten damit, Anyas Haar zu flechten. Störrisch war es, und schwer, viel dicker und länger als Milas oder Arindas Haar. Beide hatten kaum abwarten wollen, bis er ihre Haare gebürstet hatte, geschweige denn, bis er mit dem Flechten fertig war. Die Erinnerung lag schwer auf ihm, und er vermisste sogar Arindas ungeduldiges Gezappel.
Anya schien zu spüren, dass er mit den Gedanken weit weg war, und brach endlich ihr langes Schweigen. „Du kannst das gut“, sagte sie versöhnlich. Er hörte das Lächeln aus ihrer Stimme, das Friedensangebot, und auch das beruhigte ihn ein wenig. „Ich hatte viel Gelegenheit zum Üben.“ „Wem hast du sonst die Haare geflochten?“ „Meinen Schwestern.“ „Wie viele?“ „Zwei.“ „Wie alt sind sie?“ „Sechs und Neun. Arinda wird bald zehn Jahre alt.“ „Und, sehen sie ihrem großen Bruder ähnlich? Sind sie wie er zarte kleine Trotzköpfe mit großen blauen Augen und einer Menge dummer Ideen?“
Sie ärgerte ihn, aber Valion konnte nicht anders, er musste lächeln. Wie treffend das schon wieder war, wie herausfordernd und persönlich. Fast glaubte er, dass Anya einfach nicht anders konnte, dass sie immer in andere vordringen musste. Sehen, wo es weh tat.
„Ich bin nicht zart“, antwortete er, und sie lachte leise. „Lügner.“ „Ich bin fertig“, entgegnete er nur und steckte die letzte Locken mit Haarnadeln fest, die er ohne nachzudenken von dem Tischchen klaubte.
Dann trat er ein Stück von ihr zurück, und sie betastete vorsichtig sein Werk. Der geflochtene Knoten sah schwer aus, viel mächtiger als bei Mila oder Arinda, zu groß, um unter einer Haube versteckt zu werden. Aber er hatte Anya nie eine tragen sehen, also ging er davon aus, dass das egal war. Anstand hatte für sie keine Bedeutung mehr, das ging ihm plötzlich auf. Und für ihn selbst auch nicht. Er vertrieb den Gedanken.
Anya lächelte, während ihre Finger vorsichtig über die geflochtenen Strähnen fuhren, die Struktur des Flechtmusters erfühlten. „Das fühlt sich wirklich gut gemacht an. Zu schade, dass ich mir dein Kunstwerk nicht anschauen kann.“ Sie seufzte und starrte wehmütig auf die Fessel an ihrem Arm. „Ich kann nicht einmal Gael überfallen und seinen Spiegel borgen. Oder nach Jadzia suchen. So schnell geht es, dass man wieder da sitzt und sich nicht zu helfen weiß.“
Ihre plötzliche Niedergeschlagenheit traf Valion unvorbereitet, aber er konnte sie nachfühlen. Ging es ihm anders, wenn er an Jan dachte? Er wünschte nur, er hätte sie irgendwie aufheitern können, bis ihm klar wurde, dass er das natürlich konnte. Er hatte einen Spiegel. Er konnte ihr damit sogar beweisen, dass er ihr vertraute.
„Warte“, sagte er nur, ging zu ihrem Lager zurück und zog das Bündel mit dem zerbrochenen Spiegel hervor, wickelte ihn aus, wobei er den restlichen Inhalt sorgfältig beiseite legte, und kehrte zu ihr zurück, hielt ihr den Rahmen bereitwillig entgegen.
Anya, die ihm verwirrt mit den Augen gefolgt war, warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. Sie war alles, aber nicht begriffsstutzig, und erkannte auf den ersten Blick, was sie vor sich hatte. „Das hast du noch? Damit hast du doch-“, setzte sie an, und Valion unterbrach sie: „Nicht ich!“ Fast wäre er schon wieder vorwurfsvoll geworden, deshalb zwang er sich, wesentlich ruhiger zu sagen: „Ich habe nur… ich habe ihm eine Scherbe gegeben. Ich wusste nicht, was er damit tun würde. Ich wollte nicht, dass er-“ Er brach ab, weil der Gedanke an Jan schon wieder schmerzte. Anya musterte ihn prüfend, aber dann nickte sie. „Ja, das glaube ich dir. Na gut, dann zeig her.“
Sie nahm den Spiegel vorsichtig von ihm entgegen und betrachtete sich in den kläglichen, gesplitterten Resten des Glases, drehte und wendete ihn. Valion sah ihr zu, beobachtete ihre Reflektion; unregelmäßig, von Rissen durchzogen. Ein zerbrochenes Bild, aber trotzdem schön.
Sie betrachtete sich aufmerksam, drehte ihren Kopf, neigte ihn auch nach vorn, bevor sie feststellte: „Hübsch. Ein bisschen gewöhnlich, aber dafür sehr gelungen.“ „Gewöhnlich?“, fragte er unsicher nach, weil er sich keinen Reim darauf machen konnte, und sie lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie lieferte ihm keine Erklärung, und fast schien es, als spräche sie zu sich selbst, als sie sagte: „Ja. Aber ich beginne, mich damit zu arrangieren. Mit dem hier, damit, mit allem.“ Sie wies auf den Wagen, auf ihre Handfessel, aber vielleicht meinte sie einfach: Damit, eine Sklavin zu sein. „Etwas anderes bleibt mir wohl nicht übrig. Es war so viel einfacher, als ich ein Mädchen hatte, das mir half. Ach, wir haben Stunden allein damit zugebracht, meine Haare zu frisieren. Aber das ist jetzt vorbei, wie so vieles.“
Sie wandte sich zu ihm um, und jetzt war ihr Lächeln wieder traurig. „Du bist nicht der Einzige, weißt du? Der bis zuletzt darum gekämpft hat, sich seine kleine Welt aufrecht zu erhalten. Der sich gesträubt hat, es so weit kommen zu lassen.“
Valion verstand nur vage, dass sie von ihrem Streit sprach, von dem, was er gesagt hatte, und hastig stammelte er: „Ich wollte nicht-“ „Ich weiß“, unterbrach Anya ihn milde. „Weißt du, jeder von uns versteht, was du durch machst. Weil wir das selbe erleben, und viele noch viel schlimmer als wir beide. Da draußen, in den vergitterten Wagen, dort werden die Nächte lang und kalt. Woher ich das weiß? Weil sie das bereitwillig erzählen, wenn du einen Moment mit ihnen redest, als wären sie Menschen und keine eingesperrten Tiere. Und wir kommen uns alle verlassen vor. Wir wollen alle die Augen schließen und glauben, dass alles nur ein böser Traum war. Aber wenn du dich vor dem verschließt, was hier passiert, wirst du eines Tages davon überrascht werden. Du wirst dich fragen, warum du dein Herz nicht besser geschützt hast. Und das wird ein bitterer, bitterer Tag für dich sein.“
Sie sah jetzt müde aus, traurig, und älter. Er hatte nie gewusst, wie er sie einschätzen sollte, aber plötzlich war ihm klar, dass sie fast so alt wie seine eigene Mutter sein musste. Die Falten in den Augenwinkeln und um den Mund, die ersten grauen Haare, die er beim Flechten bemerkt hatte, sie sprachen ihre eigene Sprache. Was hatte sie erlebt? Warum war sie hier? Er wollte gern die Hand heben, ihr tröstend über die Wange streichen, wie seiner Mutter, wenn sie traurig war. Und konnte es doch nicht, weil er wusste, dass er dafür viel stärker hätte sein müssen. So stark wie Jadzia vielleicht.
Und dann, als hätte es diesen kurzen Moment niemals gegeben, zwang Anya sich zu einem Lächeln und erhob sich. „So, jetzt bist du dran. Setz’ dich. Schauen wir, was wir mit dir anstellen können, und vor allem mit diesem Vogelnest da“, befahl sie, auf einmal energisch und gezwungen gut gelaunt, und schob ihn zu ihrem Sitzplatz. Verwirrt ließ Valion sich fallen und ließ zu, dass sie ihrerseits begann, seine Haare zu bürsten. Vielleicht hatte er aus den Augenwinkel gesehen, dass sie sich die Augen wischte. Vielleicht hatte sie aber auch nur eine Haarsträhne hinter ihr Ohr gestrichen, die sich gelöst hatte.
Eine Weile arbeitete Anya schweigend, kämmte sein Haar erst glatt und dann mal in die eine, dann die andere Richtung. Oft runzelte sie die Stirn, wenn sie das Ergebnis begutachtete. „Warum haben sie das nur so kurz geschnitten“, murmelte sie zwischendurch unwillig. „Wieso?“, fragte er perplex, und sie seufzte. „So macht das nichts her. Aber ich habe deinen Zottelkopf gesehen, vielleicht blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig, als alles gerade abzuschneiden. Wer hat sich nur um mein Haar gekümmert?“ „Meine Mutter. Aber sie hat es gehasst“, gab Valion zu und zuckte mit den Schultern. „Sie hat ihre Haare auch immer nur irgendwie geschnitten. Milas und Arindas Haar zu flechten hat sie auch furchtbar gelangweilt. Irgendwann hat sie mich das machen lassen.“ „Sie hätte dir auch dein eigenes Haar überlassen sollen. Vielleicht hättest du das selbst besser hin gekriegt. Na egal, das ist das Beste, was ich daraus machen kann“, sagte Anya und legte die Bürste beiseite.
Wenn Valion gedacht hatte, dass sie nun mit ihm fertig war, hatte er sich aber getäuscht. Stattdessen griff sie nach einer silbern glänzende Dose, öffnete sie und entnahm ihr eine Puderquaste. „Moment mal“, sagte er, aber sein Protest wurde ignoriert; im nächsten Moment wurde er von einer weißen Wolke eingehüllt. „Gewöhn’ es dir lieber früher als später an“, predigte Anya, „Wenn ich Eravier richtig verstanden habe, wirst du in die feine Gesellschaft eingeführt. Dort reichen Wasser und Seife nicht aus. Du wirst mehr lernen müssen, als dich regelmäßig zu rasieren. Die richtige Kleidung, das richtige Auftreten, die richtige Sprache.“ „Meinetwegen“, murmelte Valion unwillig durch seine nur spaltbreit geöffneten Lippen, weil er das Gefühl hatte, sonst einen Mund voll weißen Staub einatmen zu müssen. „So, damit kannst du dich also abfinden, aber nicht mit dem Rest?“, fragte sie, und verstummte dann, als sich Valion schon versteifte, um im nächsten Moment einzulenken: „Verzeih. Ich sollte nicht schon wieder damit anfangen.“
Sie schwieg eine Weile, während sie weiter an seinem Gesicht arbeitete, was auch immer sie da tat, Valion hatte keine Ahnung. Aber ihr Schweigen war lauernd, als hätte sie nicht vor, das Thema ruhen zu lassen, sondern suchte nur nach einem anderen Weg, erneut zu beginnen. „Eines verstehe ich aber nicht“, setzte sie irgendwann wieder an, „und werde nicht gleich wieder trotzig, es ist nur eine Frage.“ „Was?“, murmelte Valion gottergeben, mit dem festen Vorsatz, gar nicht erst zu antworten, wenn ihm die Frage nicht gefiel. „Ich verstehe nicht, warum du dich so sträubst. Ich weiß, dass du zumindest mit einem Menschen geschlafen hast. Und wenn ich richtig liege, hast du es bei einem weiteren in Erwägung gezogen? Und damals schien dich das nicht zu ängstigen oder anzuekeln.“
Sie formulierte jeden Satz mit solcher Vorsicht und konzentrierte sich so sehr darauf, ihn nicht zu verletzen, dass plötzlich etwas völlig anderes durch ihre Sprache hindurch schimmerte. Der Ausdruck ihrer Stimme war plötzlich so nobel und gewählt wie der von Eravier, jede Silbe so akkurat und korrekt, als hätte sie geübt sie auszusprechen. Nicht, weil sie sich darauf konzentrierte, sondern gerade, weil sie nicht darauf achtete.
Und ihre Vorsicht war auch entwaffnend; sie schien akzeptiert zu haben, dass sie ihn nicht drängen konnte. Außerdem schien ihre Frage jetzt einen völlig anderen Zweck zu verfolgen, und das stürzte ihn plötzlich in Verlegenheit. Wie sollte er darüber sprechen, ausgerechnet mit ihr?
Um seine Verlegenheit zu überspielen wich er schnell in eine andere Richtung aus: „Gibt es das überhaupt? Dass man sich… ekelt?“ „Natürlich“, antwortete Anya überraschend freimütig, und jetzt lächelte sie vage. „Du würdest staunen, wie viele sich überhaupt nicht wohl damit fühlen, mit jemandem das Bett zu teilen. Manche davon lieben so wie du und ich, andere graut es selbst vor einer zarten Romanze. Und dann gibt es die, die sich selbst genug sind, Einsiedler, die ihre Zeit lieber in Einsamkeit verbringen. Daran ist nichts falsch. Menschen sind verschieden.“ „Was ist mit dir?“, warf Valion schnell ein, damit sie nicht wieder auf ihn zu sprechen kam. „Mit mir? Nun, wie du vielleicht bemerkt hast, habe ich, was sowohl das eine als auch das andere betrifft, keine Scheu“, antwortete sie genau so ehrlich. „Aber… du bist mit vielen Männern zusammen, oder? Tust du das gern?“
Jetzt zögerte sie tatsächlich einen Moment, ließ sogar von ihm ab, und überraschte Valion damit. Es war, als würde sie sich diese Frage in diesem Moment selbst stellen. Als wäre sie sich bis zu diesem Zeitpunkt selbst nicht sicher gewesen.
„Ja“, sagte sie schließlich leise, während sie ihre Arbeit wieder aufnahm. „Ja, ich denke schon. Es ist… nicht viel Liebe im Spiel. Manchmal fehlt mir das. Oft sogar. Aber ich zwinge mich nicht dazu, mit jemand zu schlafen. Es hinterlässt keine schlechten Gefühle; es tut nicht weh.“ „Auch wenn dich andere dafür verurteilen? Das muss doch weh tun.“
Anya hielt inne. Etwas an dieser Frage ließ sie aufhorchen, und Valions Schultern waren jetzt versteift; als erwarte er etwas von ihrer Antwort. „Was ist mit dir? Hat dich jemand verurteilt?“, fragte sie gerade heraus, und bereute es im nächsten Moment. Zu direkt, wie immer. Immer traf sie bei anderen den wunden Punkt. „Niemand“, murmelte er, aber sein Körper sprach eine ganz andere Sprache.
Jemand, der ihm wichtig war. Vielleicht sogar jemand, den er sehr geliebt hatte. Und wie gut kannte Anya selbst diesen Schmerz? Nichts war zerstörerischer als die Ablehnung eines Menschen, von dem man um jeden Preis geliebt werden wollte. Vielleicht sogar so mächtig, dass er sich von Dingen abgewendet hatte, die sonst selbstverständlich für ihn gewesen wären; Liebe, Körperlichkeit, Hingabe.
Wer hat dich so verletzt?, dachte Anya. Und womit?
Aber das fragte sie nicht. Stattdessen ließ sie von ihm ab, legte die Puderquaste zurück und gab ihm den Spiegel.
„Da. Das ist natürlich nur ein Anfang. Aber vielleicht gefällt es dir ja sogar.“
Valion nahm den Spiegel misstrauisch entgegen und starrte hinein. Er blieb stumm, aber Anya sah die Verwunderung in seiner Miene. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Tortur irgendetwas bringen würde, geschweige denn, dass er ihm sein Anblick gefallen würde. Er fuhr durch sein Haar, berührte seine Haut, die durch den Puder jetzt blass, aber viel ebenmäßiger wirkte.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte er, völlig erstaunt, und sie musste schmunzeln. „Das ist nicht schwer, wenn man einmal weiß, wie. Ich kann es dir gern beibringen“, sagte sie, und er nickte zaghaft. Er warf noch einen Blick in den Spiegel, und sah dann zu ihr auf. Seine Augen wirkten größer, unschuldiger in seinem blassen Gesicht, als er leise fragte: „Anya? Wenn… also, nur wenn ich wirklich länger hier bleiben muss, und… wenn ich keine Wahl hätte, und niemand anderen habe… würdest du mir helfen?“
Anya glaubte sich verhört zu haben, aber er sah sie immer noch mit dem gleichen, ernsten Blick an. Er hatte nicht ausgesprochen, was er wirklich meinte, aber das musste er auch nicht; er wollte, dass sie mit ihm schlief, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sah. Natürlich nur, um Eraviers Strafe zu entgehen. Weil er sich sicher bei ihr fühlte, und weil sie beide wussten, dass eine Vereinigung zwischen ihnen niemals irgendeine Bedeutung gewonnen hätte. Ein Freundschaftsdienst, sonst nichts.
Du lieber Himmel. Was sollte sie darauf erwidern? Natürlich passte dieser Wunsch mehr als perfekt in ihre Pläne, und sie würde sowohl Fourmi als auch Eravier damit zufrieden stellen. Sie hatte ihn so weit gebracht, das Unvermeidliche endlich anzunehmen. Warum war der Beigeschmack dann so bitter?
Er war so ein Küken. So völlig verloren, unfähig zu verstehen, was er selbst wollte oder wie er sich mit dem zurecht finden sollte, was die Welt ihm aufgebürdet hatte.
Und das erinnerte sie an sich selbst; an die junge Frau ganz in schwarz, ohne einen Mann, ein Kind oder eine Zukunft. Wann hatte sie zum ersten Mal begreifen müssen, dass Verweigerung sie niemals retten konnte? Sie war älter als Valion jetzt gewesen. Oh ja, sie war in seinem Alter genauso kindisch gewesen, vielleicht noch ein wenig naiver. Und sie bemitleidete sie beide; ihn, und ihr altes ich, die sich in so vielem so erschreckend glichen.
Sie streckte ihre Hand aus, strich über seine Wange. Sein Gesicht war jetzt so blass und ebenmäßig, die Sommersprossen und kleinen Rötungen versteckt. Hübsch war er, zart und unschuldig, selbst wenn er das nicht wahrhaben wollte; gewiss keine Eigenschaften, die die Welt an einem jungen Mann forderte oder belohnte. Und nichts, das sie mit Macht oder durch Nachlässigkeit zerstören durfte. Aber natürlich konnte sie ihm alles beibringen, wenn er das wirklich wollte. Sie hatte doch selbst gesagt, dass ihr das nicht weh tat.
„Gut, ich bin einverstanden, unter einer Bedingung: Du wirst es nicht nur dabei belassen. Du kannst deine Frist nur hinaus zögern, wenn du in anderen Bereichen glänzt. Du musst lernen, wie du dich zu verhalten hast. Wenn du Eravier das zeigst, was er sehen will, wird er dir vielleicht mehr Zeit geben.“
An seinen zusammengepressten Lippen sah sie, dass ihm das nicht gefiel, dass er schon wieder ausweichen wollte… aber dann nickte er. Er rang sich dazu durch, in der Hoffnung, dass er diesen einen, entscheidenden letzten Schritt nicht gehen musste.
„Womit fangen wir an?“, fragte er leise und tonlos. „Mit den einfachen Dingen“, antwortete sie sanft. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter. Er zuckte zuerst zurück, aber dann ließ er sie gewähren, ließ zu, dass sie ihn auf den Mund küsste. Er hob die Hand, und seine schmalen Finger strichen über ihr Haar, das er selbst geflochten hatte, ihre Wangen, auf ihre Schulter. Vorsichtig war er, zurückhaltend, weder grob noch fordernd, das war gut. Und es gab keine Anziehung zwischen ihnen, genau wie Anya gedacht hatte, zumindest keine romantische. Ihr Kuss war eine Formalität, eine Übung.
Dann schob Valion sie von sich, wenn auch sanft.
„Na, war das so schlimm?“, fragte sie, und er zuckte mit den Schultern.
„Nein. Da war einfach… nichts.“
Seine Stimme klang erleichtert, als hätte er gerade die Entdeckung gemacht, dass es völlig ungefährlich war jemand zu küssen, den man nicht liebte. Anya lächelte über sein Erstaunen. Das hätte sie ihm sagen können, aber vermutlich hatte er das am eigenen Leib erfahren müssen.
„Vielleicht wirst du ja irgendwann feststellen, dass du völlig unbegründet Angst hattest.“
Valion wollte etwas erwidern, aber dann hörten sie das Schlagen von Pferdehufen, laute Stimmen, Aufruhr, und sie wechselten einen unbehaglichen Blick.
„Was ist jetzt schon wieder…?“, flüsterte Anya und richtete sich unsicher auf. „Kann es denn nicht einen Tag lang ruhig sein?“
„Was denkst du, geht da draußen vor?“, fragte Valion sie, aber sie konnte nur mit den Schultern zucken.
„Ich weiß es nicht. Aber vermutlich nichts Gutes“, antwortete sie leise. Ihr Blick blieb auf den Eingang ihres Wagens fixiert. „Hier passiert schon lange nichts Gutes mehr. Eravier spielt ein gefährliches Spiel mit uns…“
Aber heimlich war ihr ganz egal, was Eravier schon wieder plante. Ihre Gedanken kreisten um etwas völlig anderes.
Jadzia… wo bist du nur?
Guy hatte alle Hände voll zu tun. Während er durch das sich auflösende Lager stapfte und anderen Wächtern im Vorbeigehen zunickte, verfluchte er sein Pech. Warum musste er gerade jetzt nach einer einzelnen Person suchen, und das in diesem Chaos? Er konnte auch niemand von seinem Posten abziehen, um ihm zu helfen, dafür hatte keiner Zeit.
Das Lager war angreifbar, wenn sie aufbrachen oder in Bewegung waren. Gute Wächter ließen sich davon nicht beeindrucken, und Guy hatte in den letzten Jahren genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, wo ihre Schwächen lagen. Worauf es an kam war, den Außenring des Lagers nicht brechen lassen, Angriffspunkte zu erkennen und mit mehr Männern zu besetzen, und vor allem nichts auf das Gezeter und die Hektik zu geben. Zum Glück hatten sie einen guten Hauptmann, der sich mit diesen Belangen aus kannte: Gerard Oury war ein Wächter vom alten Schlag, ein Respekt gebietender Ochse mit nur einem Auge. Er war schon bei vielen Reisen dabei gewesen, und er begegnete jedem Problem mit der gleichen, bewährten Taktik: Mehr Männer.
Warum hatte Guy dann trotzdem so viel zu tun? Die Antwort war natürlich: Eraviers verdammte Launen. Er hatte Guy ausgewählt, und nur der Teufel, mit dem dieser finstere Bastard im Bunde sein musste, wusste wohl, warum. Diese Meinung behielt Guy aber für sich, lebensmüde war er nicht. Was er wusste war, dass sein Herr längst nicht mehr mit Oury zufrieden war, erst recht nicht, seitdem er seine Pläne von Jadzia und Guy ausführen ließ. Eravier wollte einen neuen Hauptmann, und Guy bemerkte schnell, dass er plötzlich immer mehr Macht hatte. Er konnte Befehle geben, Aufgaben verteilen, entschied plötzlich über Fragen, die Ourys Sache waren. Das war einerseits gut, und kam ihm andererseits wie ein finsterer Pakt vor.
Und es raubte ihm Zeit. Er hatte Jadzia gesucht, und dann über Umwege erfahren, dass sie nicht in ihrem Wagen war; Niemand hatte sie gesehen. Dabei hatte sie doch darauf bestanden, dabei zu sein, wenn die ausgesandten Wachen mit ihrer Beute zurück kehrten. Das alles war schließlich ihr Plan gewesen. Aber nein, die Frau war einfach nicht fassbar.
Ungehalten stapfte Guy zum Lager der Wächter zurück, das selbst gerade in Hektik versank. Natürlich bauten die Wachen ihre Zelte nicht selbst auf und ab, sie waren im Dienst. Deshalb sammelten sie nur ihre wenigen Habseligkeiten ein, Tuch und Gestänge wurde von den Dienern in den anderen Wägen sicher verstaut. Die Zelte nahmen nicht viel Platz weg; die Planen waren dünn, das Gestänge niedrig, und da die Wächter in Schichten schliefen, war ein Zelt immer drei von ihnen zugeteilt. Das einzige, das dauerhaft darin aufbewahrt wurde, waren die eigenen Decken und das wenige an Kleidung, das die Wächter überhaupt besaßen. Sonst nichts, denn Diebstahl untereinander war nicht selten, abgesehen von den Decken - wer die mitgehen ließ, hatte bald ein Messer im Bauch und einen Hauptmann, der dazu gelangweilt mit den Achseln zuckte und noch einen Schlag ins Gesicht hinterher gab. Bei Stiefeln und Decken verstanden Wächter und Soldaten keinen Spaß.
Guy selbst wollte auch nur seine Decken einsammeln und sicher verstauen, und schnell prüfen, ob er irgendetwas liegen gelassen hatte. Er bückte sich und kroch in sein Zelt, nur um perplex inne zu halten. Wäre er ein weniger praktischer Mensch gewesen, hätte er sich vielleicht die Augen gerieben und sich gefragt, ob er träumte. Doch Guy runzelte einfach nur die Stirn.
Jadzia. Sie lag schlafend vor ihm.
Das Zelt war sonst leer, stellte Guy fest; die anderen zwei Männer, die auch hier geschlafen hatte, hatten nichts hinterlassen. Vielleicht hatten sie ihre Sachen schon vor Stunden ausgeräumt. Jadzia jedenfalls schlief tief und fest, das hieß, sie musste schon eine Weile hier sein. Sie hatte sich in seine Decken eingehüllt, die Knie an den Körper gezogen, die Arme zur Stütze und als Kopfkissen. Guy sah seine Kleidung, gefaltet und so weit wie möglich beiseite gelegt. Vermutlich hatte Jadzia sich Sorgen gemacht, dass sie sie sonst im Schlaf berühren würde.
Einen Moment betrachtete Guy sie nur, wie sie da lag und schlief, obwohl das sonst nicht seine Art war. Irgendetwas an ihrem Anblick passte nicht ins Bild, nicht zu dem, was er von ihr kannte. Schließlich verstand er; das war das erste Mal, dass sie wirklich friedlich aussah. Im Schlaf wirkte sie harmlos; schutzbedürftig statt hartherzig und gewissenlos. Und Guy begriff plötzlich, wie viel Respekt er wirklich vor ihr hatte, wie sehr ihre reine Anwesenheit ihn sonst einschüchterte. War es ein Wunder, dass selbst Eravier sie nicht klein kriegte? Ihre Ausstrahlung war bei weitem nicht die gleiche, doch sie war sich in ihrer Wirkung durchaus ebenbürtig.
Doch nicht jetzt. Im Schlaf sah Jadzia nur friedlich aus, unschuldig. Er dachte daran, wie oft Anya davon sprach, dass Jadzia eine ruhige und sanfte Person war, dass niemand sie richtig einschätzte. Vielleicht verstand er jetzt. Hätte er sie jemals so gesehen, wäre er auch zu diesem Schluss gekommen.
Eine Sekunde lang fragte Guy sich, welche Jadzia die echte war. Die abgebrühte, skrupellose Jägerin, die ihn bei seinen Aufträgen für Eravier begleitete? Oder die sanfte, warmherzige Frau, die Anya glaubte zu kennen? Aber er war kein großer Philosoph, und letztlich ging ihn das auch gar nichts an. Er griff nach Jadzias Schulter und rüttelte sie ein wenig; nicht zu unsanft, um sie nicht zu erschrecken. Doch die Wirkung war selbst für ihn verblüffend; Jadzia öffnete sofort die Augen und setzte sich auf.
„Ah, Guy. Haben sie ihn aufgegriffen?“, fragte sie nach nur einer Sekunde Bedenkzeit. Von einem Moment auf den anderen war sie wach, aufnahmefähig und musterte ihn. Guy kannte Menschen, die zu diesem Kunststück in der Lage waren; er hatte in seinem Leben genug alte Soldaten gekannt. Viele, die des Schlachtfelds müde waren, wurden zu Wächtern, und behielten doch ihre alten Instinkte. Nur, dass Jadzia nicht alt genug war, um irgendein Schlachtfeld gesehen zu haben.
Doch wenn Guy eines gut konnte, dann war es, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Stattdessen antwortete er knapp: „Wird bald soweit sein.“ Jadzia nickte, streckte sich noch einmal, warf die Decke von sich und machte Anstalten, sich zu erheben. Sie sah Guy sogar erwartungsvoll an, damit er begriff, dass er ebenfalls aufstehen und aus dem Zelteingang verschwinden sollte. Aber damit würde er sie nicht so einfach davon kommen lassen.
Statt ihr Platz zu machen, stützte er ein Knie auf und ließ das andere angewinkelt, eine Haltung, in der er halbwegs bequem kniete und nur leicht die niedrige Zeltdecke streifte, und sah sie streng an. „Halt mal. Ich hab das ganze Lager wegen dir auf den Kopf gestellt. Du gehörst in deinen Wagen. Was soll das?“
Jadzia lächelte schmal und zuckte mit den Schultern, eine bemerkenswert gelassene Geste dafür, dass sie einfach alle Regeln brach. „Ich habe dort gerade nichts zu suchen“, antwortete sie völlig ruhig. „Ich behindere andere bei ihren Aufgaben, bin eine Ablenkung. Deshalb habe ich mich zurück gezogen und versucht, niemand im Weg zu stehen. Du weißt ja, wie das ist.“ „Du kannst nicht einfach hier schlafen. Eravier macht dich einen Kopf kürzer.“ „Das wird er nicht, weil ich Anya helfe, seine Befehle auszuführen. Und weil er mich braucht, besonders jetzt“, sagte sie leichthin und lächelte bitter.
Und in gewisser Weise hatte sie damit Recht. Hätte Eravier gewollt, dass sie wie Anya oder der Junge angekettet wurde, hätte er das Lager nach ihr durchsuchen und sie zu ihrem Platz zurück schleifen lassen können. Das hatte er aber nicht getan. Guy runzelte dennoch besorgt die Stirn. Er hatte schon früher gedacht, das Jadzia es mit ihrer Herausforderung gegenüber Eravier übertrieb. Sie wurde immer sorgloser. Oder selbstmörderischer. Langsam schüttelte er den Kopf. „Du solltest ihn nicht reizen. Auf lange Sicht-“ „Auf lange Sicht? Oh bitte, Guy, bring mich nicht zum Lachen“, antwortete sie bitter, und jetzt schien sie regelrecht wütend. „Auf lange Sicht werde ich im Haus irgendeines reichen Freiers enden. Für mich gibt es keine lange Sicht! Und jetzt lass mich vorbei!“
Ihr offener Zorn war überraschend für Guy, bis ihm plötzlich klar wurde, was er gerade darstellte: ein großes, massives Hindernis zwischen ihr und dem einzigen möglichen Ausweg aus dem Zelt. Er hatte sie in die Ecke getrieben, ohne das selbst zu bemerken. Außerdem hatte sie anscheinend nicht damit gerechnet, von ihm gefunden zu werden. Hatte sie gewusst, dass sie auf seinem Lager schlief? Oder hatte sie sich nur für irgendein Zelt entschieden, das verlassen wirkte? Er glaubte eher, dass Letzteres zutraf.
Und noch etwas bemerkte er, und das war, dass ihre linke Hand unter seiner Decke verborgen war, und um einen Gegenstand geschlossen. „Ah… schon gut“, brummte er und wandte sich von ihr ab. „Werde nicht weiter im Weg stehen. Du musst nicht mit einem Messer auf mich los.“
Selbst aus den Augenwinkeln sah er, dass sie zusammen zuckte. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er das bemerken würde. Aber das war so oder so gleichgültig. Guy richtete sich auf, wollte die Enge des kleinen Zeltes schon verlassen, als Jadzia leise sagte: „Warte.“
Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Und er tat, was sie ihm befahl; ein guter Wächter hörte im entscheidenden Moment auf seinen Hauptmann, egal wie er aussah oder was seine Anweisung war. Er verharrte stumm, wartete darauf, was sie sagen würde, und sie schien sich zu sammeln.
„Wie ist die Stimmung da draußen, Guy?“, fragte sie schließlich, und schien ein wenig ihrer Sicherheit zurück gewonnen zu haben. „Gereizt. Karvashs Leute sind besonders unruhig“, berichtete er pflichtbewusst. „Der Brand hat sie durchgeschüttelt, sie sind müde, es fehlt an Vielem. Faures Diener tun, was ihre Herrin ihnen sagt, aber das muss nicht so bleiben. Besnard duckt sich, und das macht den anderen Angst. Sie wissen, wenn ein Feigling den Schwanz einzieht, dann hat er einen guten Grund dazu.“ „Dann geht unsere Strategie auf“, sagte Jadzia leise. „Ja.“ „Gut. Dann lass uns jetzt gehen. Wir müssen die nächste Hürde nehmen. Sie müssen noch mehr Angst haben, nur so werden sie uns die anderen Rebellen ausliefern.“
Ihre Stimme klang gleichgültig, als sie das sagte. Sie hatte, im Gegensatz zu Eravier, keine Freude an dem Chaos, das sie stiftete. Einerseits war das beruhigend für Guy. Andererseits warf es eine Frage auf, die er nie gewagt hatte zu stellen. Er wusste nicht einmal, warum es jetzt anders war. Vielleicht, weil er die andere Seite seines Hauptmannes gesehen hatte. Das friedlich schlafende Gesicht eines Menschen, der nicht furchteinflößend oder kaltherzig war.
„Jadzia? Warum tun wir das?“
Sie musterte ihn einen Moment nur stumm. Er meinte, ihre Überraschung zu sehen, auch wenn sie eigentlich zu gut maskiert war durch Gleichgültigkeit. Einer der wenigen Momente, in denen er tatsächlich in ihrem Gesicht lesen konnte, was sie dachte. „Warum tun wir »was«?“ „Warum bringen wir unsere eigenen Leute gegen uns auf? Wir haben einen sehr gefährlichen Weg eingeschlagen“, antwortete er leise. Er wusste, das seine Worte Eravier in Frage stellten; er hätte niemals gewagt, ihm selbst diese Fragen zu stellen. Nur Jadzia.
Sie schwieg, seufzte dann, und pflichtete ihm sogar bei: „Ich weiß. Aber anders werden wir die Rebellion nicht hervor locken können.“ Aber das wusste Guy längst. Was er nicht verstand, war der Grund. „Wozu? Was will Eravier von ihnen?“ „Von der Rebellion? Nichts“, erklärte Jadzia ohne jede Regung, „Für ihn ist das nur ein Spiel.“
Guy hatte geglaubt, auf die Wahrheit vorbereitet zu sein, aber Jadzias Worte jagten ihm trotzdem einen Schauer über den Rücken. Er hatte in diesem Moment Eraviers Lächeln vor Augen. Seinen eiskalten Blick, mit dem er im Gesicht eines gepeinigten jungen Mannes nach dem Ausdruck seines Schmerzes suchte, um sich darüber zu amüsieren. Er kannte Eravier zu gut, um nicht zu wissen, was für eine Art von Herr er war. Seine ganzen Untergebenen in einen Kleinkrieg hinein zu ziehen, nur, um zu sehen, was geschehen würde? Ja, das klang nach ihm.
„Das ist alles?“, fragte er tonlos, und Jadzia nickte. „Ja. Ich fürchte, so ist es.“ Ihr Blick schweifte ab, und für einen Moment schien sie nachdenklich. „Wäre er ein besserer Mensch, würde er vielleicht für jemand kämpfen, den er liebt. Vielleicht redet er sich das auch ein; dass er alles rückgängig machen kann. Aber wenn, dann hängt Herz sein Herz nicht wirklich daran. Ist das nicht traurig?“
Guy runzelte die Stirn; der plötzliche Wechsel ihrer Stimmung verwirrte ihn, und er verstand auch nicht, was Jadzia ihm damit sagen wollte. Es war, als fehle ihm ein wichtiges Verbindungsstück zwischen dem, was sie sagte, und dem, was sie meinte. Er versuchte einen Moment, den Zusammenhang zu konstruieren, und gab dann frustriert auf.
„Hm“, brummte er defensiv und zuckte mit den Schultern, und Jadzia lächelte verhalten. . „Ach, ich vergaß - das war für dich nicht offensichtlich. Diese Art von Liebe ist dir fremd.“ „Das mag wohl stimmen“, gab er nach kurzem Zögern widerwillig zu. Er fragte nicht, woher sie das wusste, und wusste selbst nicht, warum er das Preis gab. „Das muss es“, sagte Jadzia, und jetzt klang ihre Stimme hart. „Sonst würde ich dich nicht in Anyas Nähe dulden.“
Ja, auch das wusste er. Es gab kaum etwas, das Jadzia berührte… außer diese eine Sache. Anya. Wenn es um Anya ging, kannte sie weder Mitleid, noch machte sie Scherze. In diesen Momenten reichte ihre Besessenheit an die von Eravier heran. Guy verstand, woher diese Gefühle wohl rührten. Er mochte Anya selbst, ihre selbstsichere Art, wie offen sie war, und wie einfach sie sich auf andere einließ, wenn sie das nur wollte. Und gerade deshalb schien es ihm nicht richtig. Weder, wie Eravier sie behandelte, noch was Jadzia von ihr verlangte. Sie war weder ein Spielzeug, noch ein zu hütender Schatz, den niemand berühren durfte.
„Was auch immer du sagst. Aber ich meine doch-“ „Was?“, unterbrach sie ihn unwirsch und verschränkte die Arme, als fordere sie ihn heraus. „-dass man einen Menschen nicht so besitzen kann“, schloss er vorsichtig. Er wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte, und wusste gar nicht, wie er überhaupt in dieses Gespräch hinein geraten war. Was ging es ihn schon an?
Aber er war nun einmal ein guter Wächter. Etwas von seinem Hauptmann zu halten hieß auch, ihm einen Wink zu geben, wenn er falsch lag. Was der daraus machte… das war nicht die Sache seiner Soldaten.
Jadzia lächelte. Aber dieses Lächeln erreichte diesmal nicht die Augen, und er wusste sicher, dass ihre Geduld gerade zur Neige ging. „Wenn du so denkst, arbeitest du für den falschen Mann“, sagte sie, und der Spott in ihrer Stimme war jetzt so schneidend wie Anyas. Sei vorsichtig, sagte ihre Stimme. Du überschreitest gerade eine Grenze. „Das glaube ich nicht“, murmelte er und sah sie ernst an.
Sie erwiderte seinen Blick. Und ja, sie verstand. Warum hätte sie sonst langsam den Kopf schütteln sollen, nachdem sie ihn eine lange, lange Zeit gemustert hatte? Warum sagte sie schließlich: „Eravier ist dein Herr, und mein Besitzer. Vergiss das niemals“, wenn nicht, um ihn zu warnen? „Und jetzt mach Platz. Wir haben Arbeit zu tun.“ „Zu Befehl“, antwortete er. Aber heimlich widersprach er ihr; es gab einen Unterschied zwischen einem Herren und einem Hauptmann.
Die ausgerittenen Wächter kehrten zurück, als die Sonne ihren Zenit überschritten hatte und der Wagenzug sich gerade zum Aufbruch formierte, unruhiger und chaotischer als jemals zuvor. Mehrere Diener sahen die Reiter von Weitem kommen, und sie waren so erschrocken über ihr Auftauchen, dass es fast zu einer Panik gekommen wäre. Als würde die Gemeinschaft nur auf einen Angriff von außen warten; einen Angriff, den sie herausgefordert hatten. Allein die Ruhe der Wächter, die ihre ungewöhnlich sorgfältige Verteidigung öffneten, verhinderte, dass die Angst um sich griff. Die zurück kehrenden Männer konnten in die Mitte des formierten Zuges reiten.
Sie waren nicht allein; sie hatten einen Gefangenen bei sich, gefesselt, geknebelt und mit einem Sack über dem Kopf. Noch während sie mit grimmigen Gesichtern abstiegen und den sich windenden Mann vom Rücken eines der Tiere herunter zerrten, sammelte sich ein Kreis von tuschelnden Beobachtern um sie. Niemand jagte die Gaffer fort oder herrschte sie an, dass sie an ihre Arbeit gehen sollten, weder die Wächter, noch andere Diener. Der Gefangene wurde auch nicht abgeführt; er wehrte sich und zerrte an seinen Fesseln, aber niemand machte sich daran, ihn außer Sicht zu schaffen. Und als hätte Eravier sie erwartet, verließ er seinen Wagen und ging seinen Männern mit einem gelassenen Lächeln entgegen. Er wollte seine Beute nicht heimlich, still und leise beiseite schaffen; er wollte eine öffentliche Hinrichtung.
„Was haben wir denn hier?“, fragte er amüsiert in die Runde. Er fixierte niemand bestimmten, ließ seinen Blick nur schweifen. Er erspähte Besnard, der sich mit seiner grimmig blickenden Frau hinter anderen Dienern zu verstecken schien, und Karvash, der indigniert zu dem Treiben stieß. Karvash wagte es nicht einmal, die Stimme vor allen anderen zu erheben. Unsicher näherte er sich zu Eravier, neigte sich zu ihm und stellte eine geflüsterte Frage. Eraviers Antwort war ein wölfisches Grinsen.
„Mein werter Freund Gael fragte mich gerade, was dieses Schauspiel hier zu bedeuten hat“, sagte er laut an die Diener gewandt, die wie ein Mann zurück zuckten. In diesem Moment wünschte vermutlich jeder der Anwesenden, an einem anderen Ort zu sein.
Selbst Fourmi fühlte sich unbehaglich. Er hielt den Kopf gesenkt, zwischen anderen niederen Dienerinnen verborgen, und ließ sich von der Reaktion der Menge treiben; das musste er, denn so nahe an Eravier war die Gefahr enttarnt zu werden größer als jemals zuvor. Aber er musste wissen, was vor sich ging; er hatte keine andere Wahl. Unauffällig schweiften seine Augen über alle Anwesenden, und sein Herz hämmerte in seiner Brust.
„Da das eine Frage ist, die euch alle angeht, werde ich sie auch beantworten. Wir haben-“, erklärte Eravier und gab den Wachen einen Wink, bevor er fort fuhr: „-einige Abtrünnige in unseren Reihen. Feige Ratten, die sich aus unserem Lager schleichen wollten, um uns zu verraten!“
Der gefesselte Mann knurrte protestierend durch seinen Knebel hindurch und lehnte sich noch einmal heftig gegen seine Gefangenschaft auf, doch er wurde von den Wächtern fest gehalten. Sie rissen ihm den Sack vom Kopf, aber Fourmi wusste schon, wer der Gefangene war. Sie erkannte die Stimme, und ihr Herz zog sich so sehr zusammen, dass es schmerzte.
Ansell. Sie hatten ihn übel zugerichtet, eines seiner Augen war zu geschwollen, und Blut war aus seinem Mundwinkel geflossen und auf seinem Kinn geronnen. Vermutlich hatten sie ihm Zähne ausgeschlagen.
Fourmis Hände verkrampften sich zu Fäusten. Gottverdammt, was war passiert? Sie war sicher gewesen, dass er entkommen würde. Alles war vorbereitet gewesen, alles abgesprochen, Rebellen waren nur für diesen Moment dem Zug gefolgt und hatten auf ihren Einsatz gewartet. Nichts hätte schief gehen dürfen, es sei denn-
Es sei denn, du wurdest verraten.
Eine andere Möglichkeit gab es nicht, und diese Erkenntnis war bitter. Eravier, oder wer auch immer ihm half, war schlauer als die Rebellion. Er musste Spitzel direkt in ihre Reihen geschickt haben. Sie sah zu Eravier, der Ansell mit höhnischem Lächeln musterte, und dann hob er den Blick, und seine Augen schweiften über die Diener. Suchten und bohrten, um die Reaktionen zu sehen, die ihn befriedigten. Angst. Hass. Unterwerfung. Und Widerstand, um ihn zu finden und auszumerzen. Und obwohl Fourmi ihn so sehr hasste wie noch nie in ihrem Leben, zwang sie sich, besorgt und eingeschüchtert auszusehen. Und seine Augen glitten über sie hinweg, bevor er sich erneut Ansell zu wandte. Der Knebel wurde ihm abgenommen, und er spuckte angewidert aus.
„Was soll das?! Was wollt ihr mit mir?!“, schrie er. Eravier nickte den Wächtern zu, die ihn hielten, und ohne auch nur inne zu halten schlugen sie ihrem Gefangenen ins Gesicht. Ein Flüstern ging durch die Menge, wie Wind durch die toten Zweigen eines kahlen Baumes. „Ich stelle hier die Fragen“, stellte Eravier amüsiert fest, und sein groteskes Lächeln zeigte deutlich, was diese ganze Situation für ihn war: ein amüsantes Spiel, dessen Regeln er selbst bestimmten konnte und in dem jeder andere ein Verlierer war.
„Aber du hast noch eine Chance: Sag mir, wer deine Mitverschwörer sind, dann bin ich vielleicht gnädig.“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Ansell mit belegter Stimme. „Ich habe nur Anweisungen erhalten.“ Frisches Blut lief aus seinem Mundwinkel und sein Kinn hinab, und er schaffte es, nicht nur zerschlagen und verängstigt auszusehen, sondern auch nachgiebig zu klingen. Dabei war seine Antwort nur fehlerfrei aus dem Gedächtnis zitiert; das, was er im Ernstfall zu sagen hatte, für den Fall, dass er jemals gefangen genommen wurde. Auch das hatte Fourmi mit ihm besprochen.
„Aber deine Kontakte, die kennst du. Jemand hat dir Aufgaben überbracht. Ich will Namen“, forderte Eravier, und jetzt war er schon weniger heiter.
„Nein, ich habe ihre Namen nicht-“, versuchte zu Ansell zu antworten, und Eravier hob erneut die Hand. Ansell kassierte von den Wächtern einen weiteren Schlag ins Gesicht, aber er schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß nichts! Ich wei-“, sagte er, und der nächste Schlag traf ihn in den Magen. Die Stimme versagte ihm, und hätten die Wächter ihn nicht festgehalten, wäre er gestürzt. Aber selbst in seinem erbarmungswürdigen Zustand schüttelte er den Kopf, und jetzt war Eraviers Gesicht vor Wut verzerrt. Er ging auf ihn zu, packte ihn am Kragen und riss ihn mühelos hoch, zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen.
„Du willst keine Namen nennen? Du würdest lieber sterben? Hast du dir das gut überlegt?“, zischte er wütend. „Du verteidigst das feige Pack, das dich lieber leiden sehen würde, als sich ihrem gerechten Urteil zu stellen. Warum nicht die Chance ergreifen, zu leben?“
Ansell starrte ihn an, keuchend, blutend, am Ende. Er öffnete den Mund, und…
Fourmi hätte Ansell viel zugetraut, aber nicht, dass er lachte. Ein ersticktes Kichern, das sich zu schallendem Gelächter ausweitete. „Die Chance zu leben?“, fragte er lachend. „Ich bin doch schon tot! So tot wie Faure war, in dem Moment, in dem er sich hier eingemischt hat. Ich bin doch-“
Im nächsten Moment rissen seine Worte ab, weil Eravier ihn herum zerrte und zu Boden schleuderte. Er wehrte sich nicht einmal, bremste seinen Sturz nicht ab; Ansell schrie auf, dann fiel er in sich zusammen wie ein Bündel Lumpen. Keuchend vor Schmerzen lag er im Staub, umringt von fassungslos starrenden Augen.
„Das ist alles, was du sagen willst?“, fragte Eravier drohend, aber Ansell konnte ihm zunächst nicht antworten. Er lachte wieder, ein ersticktes, schmerzverzerrtes Winseln, dann brachte er hervor: „Oh… oh doch, da… gibt’s etwas, das ich… sagen will.“ Er holte tief Luft. Das todesmutige Grinsen auf seinem Gesicht hätte Eravier darauf vorbereiten müssen, was er als nächstes tat.
Er sang.
„Singend öffnet der Sieg uns das Tor! Die Freiheit lenkt unsere Schritte! Und-“
Eravier holte aus, und Fourmi schloss die Augen. Ein Schlag, ein Aufseufzen der Menge. Stille.
Und Fourmi gestand sich endlich ein, was sich seit dem Moment, in dem Tarn ihm den Arm gebrochen hatte, abgezeichnet hatte. Er brauchte jede Hilfe, die er bekommen konnte.