Wenn es nach Guy ging, dann war die Suche schon von dem Moment an zum Scheitern verurteilt, an dem sie begann. Er war seit fast sechs Jahren ein Wächter, hatte an mehreren Jagden nach entflohenen Sklaven teilgenommen und kannte sich inzwischen aus. Eine Verfolgung auf dem Flachland, mit festen Landmarken, daraus konnte etwas werden. In der Stadt war die Suche schwieriger, aber irgendjemand hatte immer etwas gesehen und gab die Details heraus, entweder gegen etwas Geld oder nach einer kräftigen Tracht Prügel.
Aber in einem verdammten Wald? Unmöglich. Zu viele Haufen getrockneten Laubs, zu viele umgestürzte Bäume, dazu die riesigen Felsen überall - praktisch alles bot ein sicheres Versteck. Außerdem war das Gelände hier unwegsam, was das Vorrankommen erschwerte, und nach einer Weile, als Krönung des Ganzen, war Nebel aufgezogen und die Dämmerung setzte ein. Wenn sie eine verdächtige Silhouette im Dunst erkannten, dann war es meistens nur ein anderer Wächter oder ein Baumstamm. Er hatte Levin mehrmals davon abhalten müssen, das erstbeste Ziel über den Haufen zu knallen.
Levin, das war überhaupt so ein Ärgernis. Er war einer der neu angeheuerten Wächter, und darunter war immer einiges übles Gesindel, selbst nach Guys eher niedrigen Maßstäben. Jemand auf Befehl zusammen zu schlagen gehörte einfach zu den Aufgaben eines Wächters. Aber Levin machte sich einen Spaß daraus, die Sklaven und selbst die Diener unnötig zu schikanieren, selbst wenn sie nur routiniert Wache schoben. Levin war ein Schwein, ein Großmaul, und außerdem legte sich gern mit Schwächeren an. Das fiel ihm gar nicht so leicht, denn im Vergleich zu den anderen Wächtern war er eher schmächtig, doch er hatte dafür einen ziemlichen Schlag am Leib.
Vielleicht war es auch kein Wunder, dass der Sklavenjunge mit seinem Freund abgehauen war - Levin hatte ihm schließlich ordentlich eine reingehauen und ihm dann auch noch mehr Prügel angedroht, das hatte Guy von einem anderen Wächter erfahren, bevor das Chaos ausgebrochen war. Und jetzt schien Levin sich aus irgendeinem Grund sogar darüber zu freuen, dass sie diese beiden Sklaven nachts im nebligen Wald suchen durften. Vermutlich war er scharf darauf, ungestraft ein paar Knochen zu brechen. Das gefiel Guy nicht, er war nicht Wächter geworden, um sich an wehrlosen Jungs zu vergreifen. Himmel, die meisten von denen sahen aus wie Mädchen, wer konnte da guten Gewissens zuschlagen?
Trotzdem, wenn sie die zwei tatsächlich aufspürten, würde Guy rein aus Prinzip ebenfalls ein paar Treffer landen, nur zur Strafe dafür, dass er stundenlang mit diesem Trottel Levin durch den Wald hatte irren müssen.
„Ich wette wir kriegen sie bald”, sagte Levin schon zum tausendsten Mal. In seinem hässlichen Gesicht zeigte sich schon die ganze Zeit das selbe, schmierige Grinsen, während sie so leise es ging durch den Wald pirschten und auf jedes Geräusch achteten. Eins musste man Levin lassen, er war ausdauernd, Guy ging inzwischen langsam die Puste aus. Trotz ihrer leisen Schritte und der ständigen Ausschau legten sie ein ziemliches Tempo vor. Der Nebeldunst mischte sich mit dem Schweiß auf Guys Rücken und seiner Stirn und lief in kalten Bächen in seinen Nacken und den Bund seiner Hose, und die Feuchtigkeit des Waldbodens kroch in die Stiefel und ließ ihn frieren.
„Nimm’ endlich das verdammte Gewehr herunter, das ist eine Suche und keine Jagd”, grollte er nun ungehalten, in der Hoffnung, dass er dadurch einen Moment Pause bekommen würde. „Kommt mir aber wie eine vor, und sonst würde es ja auch keinen Spaß machen, oder?”, antworte Levin und grinste noch breiter. Es war unübersehbar, dass ihn das Jagdfieber gepackt hatte, im Gegensatz zu Guy, der sich nur warme Füße und trockene Kleidung wünschte. „Wir jagen sie durchs Unterholz wie das Rotwild. Wir können mit ihnen machen, was wir wollen”, fuhr Levin fort. „Verdammt, ich habe Eravier noch nie so teuflisch wütend gesehen, aber gut für uns. Alles erlaubt, wenn wir sie leben lassen! Wir könnten ihnen die Beine brechen und sie dann vor uns her kriechen lassen, wenn wir Lust dazu haben.” Guy verzog angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf. „So wie du mit deiner Muskete herum fuchtelst, würdest du sie dann im falschen Moment aus reiner Dummheit abknallen. So ein Mist kommt überhaupt nicht in Frage, wir-”
Im selben Moment hielt er inne und lauschte. Er hatte etwas gehört, ein leises, verstohlens Rascheln. Er hob die Hand und brachte Levin zum Halt, der anlegte und völlig voreilig in die Dunstschwaden zielte. Sie harrten aus, lauschten. Da war es wieder, ein Rascheln, und leiser, regelmäßiger Atem, ein wenig zu schnell. Guy sah nichts Verdächtiges, aber rechts von ihm, in kurzer Entfernung, war eine kleine Senke im Schatten eines Felsens, ein ideales Versteck. Er nickte Levin zu und schlich geduckt in auf den großen Stein zu, und jetzt hörte er den Atem deutlicher. Da war jemand.
Ohne dass Guy es wollte, beschleunigte sich sein Herzschlag, und legte noch einmal zu, als er hörte, dass der Atem von mehr als einer Person stammen musste. Innerlich war ihm nach Feiern zumute. Das war es also, das Ende seiner Suche. Er sah sich schon mit einem großen Becher Wein und einem deftigen Abendessen am Feuer sitzen, für den Rest des Abends von seinem Dienst befreit. Vielleicht würde er sogar-
„Kommt raus und ergebt euch!”, brüllte Levin plötzlich und stürmte auf den Felsen zu. Anscheinend hatten die Anspannung der letzten Stunden und die Aufregung über ihre Entdeckung ihn aufgestachelt, denn jetzt ließ er jede Vorsicht fallen. Im nächsten Moment sprang etwas aus den Schatten, und Guy duckte sich gerade noch rechtzeitig. Levin schoss völlig aus Reflex, und die Kugel pflügte keinen halben Meter über Guy hinweg, prallte an dem Felsen ab und schoss als Querschläger davon. Der ohrenbetäubende Krach war nichts im Vergleich zu Guys Wut, als er erkannte, was sie da gestellt hatten - eine großes, schönes Reh war aus dem Schatten geprescht, hinter ihr zwei kleine, verängstigte Kitze. Aufgescheucht von dem lauten Knall stoben sie Haken schlagend durch den Wald davon. In der Ferne hörte Guy einen überraschten Aufschrei, aber weitere Schüsse fielen nicht - da hatte sich jemand besser unter Kontrolle als sein schwachsinniger Kollege, der ihn eben fast erschossen hätte.
Guy wandte sich zu Levin um, packte ihn am Kragen und brüllte ihn an: „Gottverdammt nochmal, jetzt weiß jeder, wo wir sind, du blödes Arschloch! Wenn sie das gehört haben, sind sie jetzt in eine komplett andere Richtung unterwegs!”
Damit stieß er ihn von sich und stapfte weiter. Sie hätten genauso gut zurück gehen können nach dem ganzen Krach, den sie veranstaltet hatten, aber das hätte auch nur Ärger gegeben. Also waren sie dazu verdammt, bis zum Ende der Suche in diesem nassen, nebeligen, dreimal verfluchten Wald herum zu irren!
Levin machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und klappt ihn dann wieder zu, um beleidigt das abgefeuerte Gewehr zu schultern und hinter seinem Kollegen her zu trotten. Für eine Weile gingen sie nur schweigend weiter und lauschten, aber natürlich hörten sie jetzt, nachdem einem Schuss aus nächster Nähe ihre Trommelfelle betäubt hatte, fast gar nichts mehr.
Guy versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu sammeln. Eines wurde ihm immer klarer, sie würden niemals zu den Jungen aufschließen, wenn sie weiter blindlinks durch den Wald rannten, erst recht nicht, nachdem sie den ganzen Wald aufgescheucht hatten. Statt zu hoffen, ihre Fährte durch Zufall zu finden und ihnen zu folgen, musste er stattdessen vorraussehen, wo sie hingehen würden. Er wusste, dass ihr erstes Ziel die Pferde sein würden, aber was, wenn sie sich um entschieden? Was war die Alternative?
„Der Fluss”, murmelte Guy halblaut. „Was?”, fragte Levin perplex, aber Guy ignorierte ihn trotzig und spann seine Gedanken weiter. Im Notfall würden die Jungen den Fluss überqueren. Für ihre Verfolger war das nicht möglich, zumindest langfristig, der Wagenzug würde einen Strom dieser Größe niemals überwinden können. Ihr erster Anlaufpunkt waren vielleicht die Pferde, aber wenn sie dort kein Glück hatten, würden sie im Schutz des Waldrandes auf den Fluss zugehen und dabei die Ebene im Auge behalten. Also musste er sich dort postieren. Und das Beste war, aus dieser Richtung würden sie keine Wachen erwarten, und genau das würde er zu seinem Vorteil nutzen.
Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf seine Lippen, und zielsicher bog er ab und steuerte auf den Fluss zu, ohne auf Levins Verwirrung wegen der plötzlichen Richtungsänderung zu achten. Mit einem Mal packte ihn das Jagdfieber - er wollte die zwei erwischen, musste sie einfach kriegen. Es waren nur zwei halbstarke Jungen, allein ohne Ziel oder Hilfe, und er war sich fast sicher, dass ihre Angst sie unvorsichtig machte. Er stellte sich vor, wie sie durch den Wald hasteten, hin- und hergetrieben von den umher streifenden Wachen. Ihr Atem musste so schnell und hastig gehen wie der des in die Enge getriebenen Rehs. Vielleicht verbargen sie sich auch genau in diesem Moment hinter einem ähnlichen Felsen, verängstigt, zitternd, darum betend, dass man sie nicht bemerkte. Oder waren sie vielleicht immer noch voller Hoffnung, entkommen zu können?
~
Marceus Auftauchen weckte völlig neuen Mut in Valion. Er war plötzlich so voller Hoffnung, entkommen zu können, dass er zunächst gar nicht bemerkte, wie verwirrt Jan zwischen ihm und Marceus hin- und herblickte. Er setzte gerade dazu an, Marceus mit weiteren Fragen zu überschütten, als Jan mit einer Mischung aus Ärger und Unsicherheit fragte: „Moment mal, du kennst den Kerl? Wer zum Teufel ist das?”
Erst jetzt wurde Valion klar wurde, wie bizarr die Situation für Jan sein musste. In einem Moment hatten sie sich darauf vorbereitet ihren unbekannten Verfolger endlich niederzustrecken, und im nächsten sprach er mit eben diesem Verfolger, als hätten sie nur darauf gewartet, sich genau hier, an diesem Ort und zu dieser Zeit zu treffen.
„Tut mir Leid, Jan, das ist Marceus”, versuchte Valion zu erklären, „er arbeitet für Jefrem, er ist ein Knecht. Ich habe dir von ihm erzählt, er hat mir geholfen die-” „Du hast ihn mal erwähnt”, unterbrach Jan ihn knapp, und Valion war nicht sicher, ob er wütend oder einfach nur verwirrt war. Vielleicht beides. Obwohl er sich ein wenig entspannte, wanderten seine Blicke misstrauisch hin und her, als erwarte er immer noch, sich im nächsten Moment verteidigen zu müssen. Anscheinend traute er dem neuen Frieden überhaupt nicht.
„Ehrlich gesagt kennen wir uns erst ein paar Stunden, aber… wir sind Freunde”, versuchte Valion es weiter, und Marceus stimmte mit einem Nicken zu, aber falls sie gehofft hatten Jan damit zu beruhigen, hatten sie sich getäuscht. Im Gegenteil, bei dem Wort »Freunde« zuckte sein Mund kurz verächtlich, und dann starrte er Marceus feindselig an und fragte harsch: „Gut, aber warum zum Teufel bist du uns gefolgt? Es ist schon schwer genug zu zweit nicht gesehen zu werden, geschweige denn zu dritt. Sag, was du zu sagen hast und verschwinde.”
Für einen Moment war Marceus perplex und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er warf einen Hilfe suchenden Blick zu Valion, der aber auch nur unmerklich mit den Achseln zucken konnte. Jan schien gerade eine spontane Abneigung gegen Marceus zu entwickeln, vielleicht, weil er ihm im Nahkampf auf Anhieb unterlegen gewesen war. Oder weil er sich unnötig vor einem Verfolger gefürchtet hatte, der sich als harmlos heraus stellte? Was es auch war, er musste seinem Ärger anscheinend Luft machen.
Marceus schien das auch zu begreifen. Er versuchte möglichst ruhig und sachlich zu klingen, als er erklärte: „Ich soll euch nur helfen den richtigen Weg zu finden. Der Plan ist folgender: Ich bringe euch bis zum Waldrand, dort wartet Tarn auf euch. Er hat ein Pferd für euch, und dann werdet ihr verschwinden können.” „Tarn… als ob wir ihm trauen könnten”, grollte Jan, und es versetzte Valion ungewollt einen Stich.
Wo kam das jetzt wieder her? Er war sich bewusst, dass Jan keine Chance gehabt hatte Tarn näher kennen zu lernen, und natürlich wusste er auch nicht, dass Tarn ein Teil der Rebellion war und ihnen helfen wollte. Aber auf der anderen Seite gab es doch überhaupt keinen Streit zwischen ihnen, zumindest soweit er das wusste.
Aber hatte Jan nicht vor Stunden etwas Ähnliches gesagt?
Er war vielleicht nett zu dir, aber du kannst ihm nicht vertrauen.
Er hatte es für eine allgemeine Warnung gehalten, einen einfachen Hinweis, aber jetzt fragte er sich, ob mehr dahinter steckte. Was wusste Jan? Es verunsicherte Valion, wie er sich jetzt verhielt.
Marceus wiederum schienen Jans Worte zu verärgern. Seine freundliche Miene erstarrte, und das Lächeln wich aus seinem Gesicht. Stattdessen musterte er ihn jetzt mit einem abschätzigen Blick. „Was weißt du schon?”, fragte er. „Wenn irgendjemand auf eurer Seite ist, dann wohl Tarn. Ihr solltet seine Hilfe nicht mit Füßen treten. Er macht sich Sorgen, und er geht große Risiken für euch ein!”
Jan lachte bitter auf und trat einen aggressiven Schritt auf Marceus zu, der zwar nicht vor ihm zurückwich, aber doch kurz zusammen zuckte. „Auf unserer Seite?”, fragte er aufgebracht. „Warum hat er Valion dann nicht erzählt, dass Eravier mich darauf angesetzt hat Informationen aus ihm herauszuholen, hm?! Warum hatte er vor mich zu erschießen?” „Wann soll er denn versucht haben-”, fragte Valion völlig perplex, aber Jan unterbrach ihn sofort: „Was denkst du denn, wer auf uns gefeuert hat, bevor wir verschwunden sind? Der einzelne Schuss? Ich habe ihn gesehen, und dass er dich oder mich nicht aus dem Weg geräumt hat, war vermutlich nur Teil irgendeines Plans. Tut mir Leid, aber ich bin dafür, dass wir uns weiter allein durchschlagen. Wir brauchen keine Hilfe, von niemand. Tarn verdient dein Vertrauen nicht, und er da erst recht nicht”, schloss er bitter und deutete auf Marceus, dessen Miene sich noch mehr verdüsterte.
Sie warfen sich gegenseitig feindselige Blicke zu, und Valion hätte sie am liebsten geschüttelt und gefragt, was das eigentlich sollte. Sie hatten jetzt keine Zeit für sinnlose Anfeindungen, jeder von ihnen wusste wie sehr die Zeit drängte, und trotzdem standen die zwei sich frontal gegenüber und sahen aus als würden sie sich gleich gegenseitig an die Gurgel gehen wollen.
Marceus betrachtete Jan voller Verachtung und fragte: „Und warum sollte Valion ausgerechnet dir trauen? Ich kenne Kerle wie dich. Ich war neugierig, wer so wahnsinnig wäre zu versuchen, Eravier mit einer Scherbe die Kehle durchzuschneiden, aber jetzt wird mir einiges klar. Ich glaube Valion ist sich noch gar nicht im Klaren, wozu du fähig bist.” „Was meinst du damit?”, fragte Valion, aber er wurde von beiden ignoriert, stattdessen lachte Jan nur und antwortete gehässig: „Du musst es ja wissen. »Ein Dieb kennt einen Dieb wie ein Wolf den anderen«, was?” „Was soll das heißen?”, fragte Marceus aufbrausend, aber Jan grinste nur abfällig und sagte: „Du hast mich schon verstanden.”
Die Situation wäre fast eskaliert, aber plötzlich wurde die Stille des Waldes von einem Schuss durchbrochen. Vögel flatterten kreischend auf, und dann, bevor sie überhaupt dazu kamen sich gegenseitig entsetzt anzustarren, preschte eine Ricke mit zwei Rehkitzen an dem Felsen hinter dem sie standen vorbei, registrierte erschrocken die Menschen in ihrer Nähe und galoppierte in eine andere Richtung weiter, ihre kleine Familie immer in ihrem Windschatten. Mit einem Satz hechteten die drei Jungen in die Deckung des Felsens und hielten den Atem an. Die Rehe mussten irgendwo den Weg eines anderen Wächters gekreuzt haben, denn in der Entfernung hörten sie einen erschrockenen Aufschrei.
Für einen Moment hielten sie alle drei den Atem an, aber ein zweiter Schuss blieb aus, und langsam beruhigte sich ihr galoppierender Herzschlag. Sie sahen sich alle gegenseitig an, und jedem von ihnen stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Das war verdammt nahe”, sagte Marceus und wagte sich ein wenig vor, um hinter dem Felsen hervor zu spähen, aber er sah nichts Beunruhigendes. „Wir müssen weiter, die Zeit wird knapp”, sagte Valion, und Jan nickte widerwillig. „Ja, gehen wir. Aber ohne ihn, und am besten in die entgegengesetzte Richtung.” „Ihr habt keine Chance, wenn ihr versucht allein weiter zu kommen”, hielt Marceus grimmig dagegen. Jan öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber diesmal kam Valion ihm zuvor.
„Was zum Teufel ist eigentlich los mit euch?!”, fluchte er, und die ungewohnte Heftigkeit in seiner Stimme schien sowohl Jan als auch Marceus zu verblüffen, denn sie wurden augenblicklich still. „Wenn ihr euren verdammten Streit austragen müsst, dann tut das getrost ohne mich! Ihr seid mir keine Hilfe, keiner von euch!” Er sah erst Jan, dann Marceus wütend an, und betretenes Schweigen folgte, kombiniert mit unbehaglichem Fingerknacken und intensivem Starren in irgendeine Richtung. Die eigenen Schuhe, der Himmel und willkürlich ausgewählte Baumstämme wurden plötzlich enorm interessant und einer genauen Musterung unterzogen, und Valion hätte beinahe laut gelacht. Er musste gerade wie seine eigene Mutter geklungen haben, wenn sie ihm ordentlich den Kopf wusch.
Gleichzeitig wurde ihm erst jetzt klar, worum es eigentlich ging: Sowohl Jan als auch Marceus wollten die Führung übernehmen. Vom ersten Moment an bekamen sich darüber in die Haare, wer eigentlich das Sagen hatte und die letztendliche Entscheidung über das weitere Vorgehen traf. Valion gestand sich ein, dass er die Sache nicht gerade vereinfacht hatte - erst hatte er sich von Jan führen lassen, dann hatte er die Verantwortung sofort Marceus übertragen, als er aufgetaucht war, und Jan damit verwirrt.
Es half wohl nichts, er musste selbst das nächste Ziel vorgeben, sonst konnten sie noch die ganze Nacht am selben Fleck stehen. „Wir gehen zu Tarn. Keine Diskussion”, sagte er und erstickte Jans Protest im Keim. „Marceus, wo treffen wir ihn?” „Es ist eine Lichtung am Waldrand. Wenn du sie siehst, erkennst du sie, in der Mitte liegt ein kleiner Teich und der Boden ist sehr steinig. Ihr müsst dem Fluss folgen, bis das Weideland beginnt, und dann ein Stück am Waldrand entlang”, erklärte Marceus. Valion nickte und sagte: „Gut, wir gehen dorthin. Aber wir werden den Weg selbst finden. Marceus, du deckst uns den Rücken und verschwindest bei der ersten Gelegenheit.” Marceus verzog ein wenig das Gesicht, was Jan ein schmales Grinsen entlockte, und für einen Moment betrachteten sie sich grimmig, aber Valion gab ihnen mit einem Blick zu verstehen, dass er keine weiteren Streitereien dulden würde, und so nickten sie nur stumm. Zu dritt wagten sie sich aus dem Schatten des Felsens und setzten ihren Marsch fort.
Um die verlorene Zeit aufzuholen legten sie jetzt ein hohes Tempo vor, und obwohl Valion gern Marceus die Führung überlassen hatte, ging er zielstrebig vorran. Seine Orientierung hatte ihn bisher nicht getrogen, dann musste sie jetzt auch bis zu ihrem Ziel genügen. Irgendwann, während er wieder einmal scheinbar willkürlich abbog, sagte Marceus leise zu ihm: „Bevor ich euch gefunden habe war ich besorgt, wie weit ihr vom Weg abgekommen seid, aber das war wohl unbegründet.” „Er ist halt nicht blöd”, grummelte Jan leise, bevor Valion sich bedanken konnte, und Marceus rollte nur mit den Augen und sagte nichts weiter dazu. Die Stimmung zwischen den Beiden änderte sich auf ihrem Weg kein Bisschen, im Gegenteil, sie belauerten sich stumm.
Das Rauschen des nahen Flusses schwoll zu einem immer stärkeren Tosen an, und als sie schließlich darauf stießen, war Valion überrascht zu sehen, dass das Flachland hier abrupt endete. Das gegenüberliegende Ufer war steinig und steil, und der Fluss wälzte sich durch einen tiefen Einschnitt im Gestein. Es war ein wilder, gefährlicher Lauf voller Stromschnellen und abgebrochener Felsspitzen, die zur Schneeschmelze jedes Jahr aufs neue ins Flussbett abrutschen mussten. Zum Flachland hin sank das Gelände dafür überwiegend gleichmäßig ab, und nur die vielen Felsen und Bänke voller grob zertrümmertem Gestein gaben Aufschluss darüber, wie weit der Fluss bei Hochwasser bis zum nahen Wald reichen musste. Valion sah nun, dass es unmöglich war den Wasserlauf mit Pferden zu überqueren.
Zumindest hatten sie anscheinend ein gutes Stück weg gespart, denn der Wald war hier schon wesentlich lichter und verwandelte sich auf den nächsten hundert Metern in Weideland. Sie mussten jetzt nur noch dem Saum des Waldes folgen, um in kürzester Zeit auf Tarn zu stoßen.
„Wir sind fast da”, sagte Valion ermutigt und wandte sich zu Marceus und Jan um, die ebenso wie er auf den Fluss blickten, beide offenbar mit gemischten Gefühlen. Jan jedenfalls schien Valions Gedankengänge geteilt zu haben, denn er sagte missmutig: „Zumindest können wir uns den Versuch sparen, über den Fluss zu kommen. Das Flachland, oder nirgendwohin.” „Sieht ganz so aus. Verlieren wir nicht noch mehr Zeit”, stimmte Valion zu und wollte sich zum Gehen wenden, doch Marceus schüttelte den Kopf und machte keine Anstalten, ihnen zu folgen. „Ab jetzt seid ihr auf euch allein gestellt. Ich wünschte, ich könnte euch weiter begleiten, aber ich muss zurück - Befehl von Jefrem.”
„Wurde auch Zeit”, brummte Jan, aber Valions Laune sank beträchtlich. Er hatte gehofft, den Moment des Abschieds noch hinauszögern zu können. Wenn sie sich von Marceus trennten, dann würde Valion ihn vermutlich niemals wiedersehen. Auch wenn sie nicht viel Zeit miteinander verbracht hatten fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass er diese gerade erst geschlossene Freundschaft so schnell wieder verlieren sollte.
„Und du willst wirklich nicht mitkommen? Ich meine, nicht nur bis zu Tarn, sondern weiter…”, versuchte Valion es noch einmal, aber Marceus schüttelte nur den Kopf. „Du weißt doch, wie ich dazu stehe. Meine Freiheit-” „-ist nicht viel wert, ich weiß”, beendete Valion resignierend seinen Satz. Natürlich wusste er wie Marceus zu diesem Thema stand, und er gestand sich außerdem widerwillig ein, dass sich der Konflikt zwischen Marceus und Jan bei einer gemeinsamen Flucht mit der Zeit nur verschlimmern würde. Wie er es auch drehte und wendete, es gab keinen Grund für Marceus, sie weiter zu begleiten.
Unsicher trat Valion auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin, und Marceus ergriff sie, drückte sie kräftig und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Zieh’ nicht so ein Gesicht. Du kommst frei, das ist das Wichtigste. Vielleicht, in ein paar Jahren, wenn Gras über alles gewachsen ist, hast du mal Zeit und Muse, mich in der Hauptstadt zu besuchen. Sklave hin oder her, dann schleiche ich mich raus und wir gehen einen heben.”
Das klang, als würden sie sich verabreden statt über eine ungewisse Zukunft sprechen, in der Valion und Jan mit viel Glück entkamen. Aber vielleicht gab es Valion gerade deshalb Kraft. Für Marceus war ihre erfolgreiche Flucht beschlossene Sache, etwas, mit dem man jetzt schon rechnen konnte. Wenn er so viel Vertrauen in sie hatte, konnte dann überhaupt noch etwas schief gehen?
„Einverstanden”, sagte Valion und lächelte, und unvermittelt zog Marceus ihn in eine kurze Umarmung. Jan machte einen hastigen Schritt nach vorn und wollte etwas sagen, aber da hatte Marceus Valion schon sanft wieder von sich geschoben. „Keine Bange, niemand spannt dir in den letzten Minuten noch deinen Freund aus”, sagte er mit einem leicht spöttischen Lächeln, und Valion wurde erst jetzt bewusst, dass er Marceus nie von sich und Jan erzählt hatte und er trotzdem Bescheid zu wissen schien.
„War’s das?”, fragte Jan schneidend und trat demonstrativ neben Valion, um seine Hand zu ergreifen. „Fast”, antwortete Marceus, und zu Valions Überraschung wandte er sich jetzt direkt an Jan, zog ein langes spitzes Messer aus seinem Gürtel und reichte es ihm.
„Hier, das ist für dich.” Jan versuchte gleichzeitig sein Misstrauen aufrecht zu erhalten und sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, aber es gelang ihm nicht ganz. „Was soll ich mit dem Käsemesser?”, fragte er abwehrend, und trotzdem nahm er das Stilett am Heft entgegen und wog es prüfend in der Hand. „Wie sagtest du noch? »Ein Dieb kennt einen Dieb wie ein Wolf den anderen«?”, fragte Marceus und lächelte schmal. „Guter Spruch. Sehr treffend, ich gebe es zu. Und deshalb weiß ich auch, dass du mit dem Messer umgehen kannst. Du kannst es sicher besser gebrauchen als ich, du hast noch einen weiten Weg vor dir. Beschütze ihn damit”, sagte er und deutete mit einem Nicken auf Valion. „Nicht, dass ich dir nicht zutraue, dich zu verteidigen”, sagte er in einem entschuldigenden Tonfall an Valion gewandt, „aber ich glaube Messerkampf zählt nicht unbedingt zu deinen Stärken.”
Aber zu euren?, dachte Valion verwirrt, und plötzlich wurde ihm noch etwas über Marceus und Jans Rivalität klar - in bestimmten Eigenheiten schienen sie sich erschreckend ähnlich, und das stieß sie voneinander ab. Irgendetwas verband sie miteinander, auch wenn er sich sicher war, dass sie sich zuvor niemals gesehen hatten. Es war nur eine Intuition, zu vage, als dass er den Finger darauf legen konnte, aber er war sich sicher, dass er sich nicht täuschte.
Dann nickte Jan, und es war, als hätten er und Marceus eine geheime Abmachung getroffen, denn mit einem Schlag ließ die Feindseligkeit, die zwischen ihnen stand, spürbar nach. „Danke”, sagte Jan knapp, aber nicht unfreundlich, „Ich schätze, damit hast du was gut bei mir.” „Zieh’ die Ohrfeige von vorhin ab, und wir sind quitt”, sagte Marceus mit einem Grinsen, dann zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht, und sie trennten sich ohne ein weiteres Wort des Abschieds. Valion und Jan folgten dem Waldsaum in Richtung Westen, und Marceus bewegte sich am Ufer des Flusses entlang Richtung Norden.
Marceus beeilte sich, vorwärts zu kommen. Die Zeit wurde knapp, und bisher war er nur durch Glück und Zufall entkommen. Die Dämmerung war zwar auf seiner Seite, aber mit jeder weiteren Stunde würden die Wachen den Kreis enger ziehen und sich weiter auf den Waldrand zu bewegen, und das verminderte seinen Spielraum. Er plante, eine Weile tiefer in den Wald hinein zu laufen, dann in einem weiten Bogen die Lichtung zu umgehen, die Tarn als Treffpunkt ausgesucht hatte, um schließlich zum Lager zurückkehren.
Obwohl er sich eigentlich auf seinen eigenen Weg konzentrieren wollte, war Marceus abgelenkt. Er dachte an Valion und an sein Angebot, ebenfalls die Chance zur Flucht zu nutzen. Valion hatte es vermutlich gar nicht bemerkt, aber er hatte tatsächlich einen Moment gezögert. Dann hatte er Jans eisigen Blick bemerkt und gewusst, dass er keine Entscheidung zu treffen hatte, sondern nur das Richtige zur richtigen Zeit sagen durfte. Hätte er nicht abgewiegelt, hätte Jan dafür gesorgt, dass sein Ausflug in die Freiheit ein kurzes und schmerzhaftes Ende fand, und das war es, was Marceus so besorgte.
Jan war nicht nur eifersüchtig, er war beinahe rasend vor Angst, dass Valion ihm entglitt. Eine kurze und freundschaftliche Umarmung hatte schon ausgereicht, ihn völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wie berechtigt oder unberechtigt seine Angst war, vermochte Marceus nicht zu sagen, auch wenn er nicht das Gefühl gehabt hatte, dass Valion besonders flatterhaft oder gar unehrlich war, im Gegenteil. Und es fehlte ihm auch nicht an Zuneigung gegenüber Jan, deshalb war es ja auch nicht schwer zu erraten gewesen, wie die beiden zueinander standen. Valion war in seinem Gebaren noch relativ zurückhaltend, aber Jan hätte genausogut ein Banner tragen können, auf dem in großen Buchstaben »Finger weg, meins!« prangte. Er schien von der Angst getrieben, dass er Valion auf dem Weg verlieren würde, obwohl Marceus nicht klar war, was er genau fürchtete: dass Valion ihn zurücklassen würde, oder doch eher, dass er einfach aufgeben und die Flucht abbrechen würde.
Er fragte er sich, ob Valion bewusst war, wie gefährlich Jans Angst nicht nur für ihre Gegner, sondern auch für sie beide war. Sie konnte sich gegen sie richten, sie entzweien und sogar gegeneinander ausspielen. Vielleicht würde ihre Verbindung schon zerbrechen, bevor sie überhaupt die nächste Stadt erreichten, aber wenn Marceus ehrlich war, war ihm das im Grunde nur Recht. Jan war kein Umgang für Valion, genausowenig wie er selbst.
Er dachte daran, wie er und Jan sich gegenüber gestanden und sofort erkannt hatten, auch ohne dass sie sich jemals zuvor gesehen hatte. Man sah es an den Augen, in den Gesten, der Art, wie die Waffe in der Hand lag. „Ein Dieb erkennt einen Dieb…”, murmelte er abwesend, aber sie waren mehr als das. Man konnte einem Menschen mehr stehlen als seine Habseligkeiten. Sein Leben zum Beispiel.
Vielleicht hätte er Valion warnen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht hätte er ihn ausgelacht oder seine Worte einfach ignoriert, denn was hatte Marceus schon als Beweis? Eine vage Ahnung, die sich auf seiner eigenen, dunklen Vergangenheit gründete? Und vielleicht war es Valion sogar bewusst. Wer konnte das schon sagen?
So oder so, es war zu spät, er war aus dem Spiel. Was auch immer diese Nacht geschehen würde war jetzt außerhalb seines Einflusses. Alles weitere lag jetzt in Tarns Händen.
~
Die Wärme des Tages schwand mit jeder Minute, und eine kalte Nacht kündigte sich an, ein verfrühter Vorbote des Herbstes. Obwohl der Waldboden immer noch von Nebel verhüllt war, war der Himmel klar und blau, und die ersten Sterne zeigten sich.
Tarn betrachtete die Sternbilder, während er lauschte und in der unerwarteten Kälte fror. Das Herbstviereck war schon im Nordosten sichtbar, auch wenn es noch eine Weile dauern würde, bis es über den Himmel zog. Er sah Wega und Deneb und erkannte schließlich den Schwan und die Leier. Früher hatte er die Sterne gern betrachtet, aber irgendwann hatten sie ihren Reiz verloren. Sie waren schön, aber gleichgültig, es fehlte ihnen an Wärme. Das Himmelszelt war groß, fern und unwirklich, und ein paar Lichter in der Dunkelheit machten kaum einen Unterschied, taugten nur als Zeitvertreib. Doch wenn er sich nicht ablenkte, kreisten seine Gedanken unablässig um die Frage, wo Valion jetzt war. War er gefangen genommen worden? Immer noch auf dem Weg? Hatte er sich verirrt, hatte Marceus ihn nicht aufspüren können? War er vielleicht bis zu den Pferden gekommen und jetzt auf dem Rückweg zum Wald? Er konnte nur einsam in der Kälte ausharren, und die Zeit verging quälend langsam.
Nur dass er nach einer Weile gar nicht mehr so einsam war.
Vielleicht war zu sehr in seine Gedanken versunken gewesen und hatte den Neuankömmlings nicht bemerkt, aber eigentlich glaubte Tarn das nicht. Das Bewusstsein, dass sich irgendjemand in seiner Nähe aufhielt, war nur ein unterschwelliges Gefühl, und hätte er nicht still ausgeharrt, hätte er es vermutlich übersehen oder ignoriert. Es war das vage Wissen, beobachtet zu werden, obwohl er nur das leise Rauschen des Waldes hörte und die einzige Bewegung in seinem Blickfeld die schwankenden Äste der Bäume waren. Jemand war bei ihm. Er kannte nur eine Handvoll von Personen, die auf diese Weise unsichtbar sein konnten, und sie alle waren Spione der Rebellion.
Tarn wusste, dass neben den verdeckten Sympathisanten der Rebellion nur ein ausgebildeter Spion im Wagenzug mitreiste, der den Kontakt zu ihren Verbündeten hielt und Befehle übermittelte. Tarn kannte weder seine wahre Identität noch sein Gesicht, nur den Namen, mit dem er sich ansprechen ließ: Fourmi.
Von ihm hatte er die verdeckte Weisung erhalten, Valion zu überwachen und unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass er am Leben blieb, noch bevor er gebrandmarkt worden war. Genauso anonym war er zu dem Treffen im Haus von Valions Eltern beordert worden, wo er Fourmi das erste Mal persönlich gegenüber gestanden hatte, statt nur seine Befehle entgegen zu nehmen. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte er sein Gesicht nicht gesehen, und eine äußerst knappe Vorstellung und die Bekanntgabe, dass sie zusammen über Valion wachen würden war alles, was er an Informationen erhalten hatte.
Tarn wusste, dass ihre Zusammenarbeit nicht in Fourmis Interesse liegen konnte, denn der schützte seine Identität äußerst sorgfältig. Dass er überhaupt in direktem Kontakt mit Tarn treten musste war für ihn genauso unerwünscht wie unumgänglich, da von höherer Stelle befohlen.
Tarn wiederum traute Fourmi trotz seiner Kontakte zur Rebellion nicht. Der Spion kam und ging, wie es ihm gefiel, legte keine Rechenschaft ab und kommunizierte nur das Nötigste. Es gab keinen Austausch und keine Kooperation zwischen ihnen, nicht einmal nach der kurzen Begegnung im Haus von Valions Eltern. Nach diesem Treffen hatten sie sich nur zu zwei Gelegenheiten für einige Sekunden gesehen, und ein paar andere Male hatte Tarn vage geahnt, dass Fourmi sich in der Nähe befinden musste, aber sich vor ihm verbarg. Es gefiel Tarn nicht, dass er nicht in seine Aufträge eingeweiht war und dass der Spion nicht nur Valion, sondern auch ihn selbst zu überwachen schien. Es bestätigte ihm nur, was er schon lange vermutete: die Rebellion traute ihm längst nicht mehr so sehr wie früher.
„Ich weiß, dass du hier bist, Fourmi”, sagte Tarn leise, „Wir sollten reden.”
Niemand antwortete, und das beunruhigte ihn. Er wandte sich noch einmal um, sah immer noch niemand, und plötzlich beschlichen ihn Zweifel. Wer war hier bei ihm? Tatsächlich Fourmi? Und wenn ja, warum zeigte er sich nicht? Wenn nein, wer lauerte ihm dann hier auf?
Er versuchte es noch einmal, während er sich unsicher im Kreis drehte, und aus seiner Stimme sprach Irritation, als er in die Stille hinein fragte: „Was soll das? Wer ist da?” Zu einem weiteren Wort kam er nicht, weil ein gesichtsloser Schemen aus dem Schatten eines Baumes sprang und ihm die Faust in die Magengrube rammte.
Tarn hatte alles erwartet, aber nicht das, und er verdankte es nur seiner jahrelangen Erfahrung, dass er die Muskeln reflexartig anspannte. Trotzdem trieb ihm der Schlag fast die Luft aus den Lungen, und er strauchelte einen Schritt rückwärts. Instinktiv griff er nach dem Stilett und erinnerte sich zu spät, dass er es Marceus gegeben hatte.
Fourmi ließ ihm keine Zeit seine Überraschung zu überwinden, schlug ihm die Schusswaffe aus der linken Hand und gab ihm einen Stoß, der ihn aus dem Gleichgewicht bringen sollte, aber Tarn warf sich dagegen und griff nach der Kehle seines Angreifers. Seine Hand wurde abgewehrt, und Fourmi holte aus um ihm einen Kinnhaken zu geben, doch Tarn blockte den Schwinger mit seinem Arm und schlug ihm stattdessen mit der flachen Hand ins Gesicht. Diesmal ließ er seinem Gegner keine Zeit für einen Gegenangriff, trat nach seinem Schienbein und nutzte den Moment in dem Fourmi zurück sprang, um die Muskete vom Boden zu greifen. Er würde auf diese Entfernung nicht dazu kommen zu schießen, aber er konnte damit zuschlagen. Fourmi erkannte seinen Nachteil, griff nach seiner Gürtelscheide, zog ein Dolchmesser hervor und ging damit auf Tarn los. Er hielt sich nicht mit Finten auf, er führte einen geraden Stich in Tarns Richtung, und als er bemerkte, dass Tarn plötzlich grinste, war es bereits zu spät. Fourmi wusste es nicht, aber mit einem Messer würde er ihn nie besiegen.
Tarn versuchte gar nicht erst, mit der Muskete zu kontern, er ließ sie fallen, packte Fourmis Handgelenk, nutzte seinen Schwung aus um sich unter seinem Arm weg zu ducken, riss diesen dann nach hinten und schickte Fourmi auf die Knie. Es war ein einfacher Trick, aber Fourmi hatte ihn nicht kommen sehen, genauso wenig wie den Schmerz, als sein Arm mit einem Knacken zwischen Tarns Händen brach.
Er schrie auf und ließ das Messer fallen, aber Tarn ließ ihn nicht los. Ein gebrochener Arm bedeutete in diesem Moment gar nichts; wenn er nur eine Sekunde nachlässig wurde, würde er es sofort bereuen, und deshalb schickte er einen Tritt in die Nieren hinterher. Erst als er einen gequälten Aufschrei hörte war er sicher, dass keine Gegenwehr mehr zu erwarten war, und verspätet begann sein Herz zu rasen. Was war hier passiert, und warum?
„Los, töte mich schon, du verdammter Verräter, das ist deine letzte Chance davon zu kommen”, spie Fourmi aufgebracht, und Tarn glaubte sich zu verhören. „Verräter? Gilt es schon als Verrat, sich zu verteidigen?”, fragte er wütend und verdrehte Fourmi den Arm noch weiter, sodass er gequält aufschrie. „Ich dachte eigentlich, wir hätten diese Nacht Besseres zu tun, als uns gegenseitig außer Gefecht zu setzen”, fuhr er grimmig fort. „Du hast all unsere Pläne ruiniert, das sollte dir doch klar sein! Dachtest du wirklich, die Rebellion lässt zu, dass du damit durchkommst?”, fragte Fourmi mit gepresster Stimme. Die Schmerzen in seinem Arm mussten höllisch sein, doch obwohl Tarns griff ihn eigentlich zu Boden zwingen musste, hielt er sich erstaunlicherweise fast aufrecht. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst”, knurrte Tarn, und Fourmi schnaubte ungläubig. „Ach nein? Dann lass mich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, was wir vor ein paar Tagen mit Abstimmung beschlossen haben”, sagte er zähneknirschend, und trotz seiner Schmerzen war seine Stimme jetzt sogar spöttisch. „Valion sollte völlig unbehelligt bleiben, mindestens bis wir Lutejia erreichen. Aber nach ein paar Tagen in deiner Obhut weiß er nicht nur über alles Bescheid, sondern lässt sich mit anderen Sklaven ein und nutzt die erstbeste Gelegenheit zur Flucht, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Rebellion zu ziehen! Ist dir überhaupt klar, was das für uns bedeutet?!”
Tarn lauschte den Worten mit versteinerter Miene. Obwohl er keinen Grund dazu hatte, fühlte er sich schuldbewusst - er stimmte mit vielen Zielen der Rebellion überein, aber den Plänen, die Valion betrafen, hatte er nie etwas abgewinnen können, und ja, vielleicht hatte er etwas dazu beigetragen, dass Valion jetzt auf der Flucht war und sie in Gefahr waren, entdeckt zu werden. Es war naiv gewesen anzunehmen, dass seine eigenen Pläne nicht irgendwann mit denen der Rebellion kollidieren würden. Auf der anderen Seite war es befreiend, all diese Anschuldigungen endlich zu hören, statt auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden und die stille Missbilligung zu fühlen.
„Es bedeutet vermutlich, dass du beschlossen hast mich besser aus dem Weg zu räumen”, murmelte er mehr zu sich selbst, und Fourmi lachte unter Schmerzen. „Dachtest du, nur weil du Eravier überwachst, wärst du unersetzlich? Du hast dich schon lange auf dünnem Eis bewegt, Tarn, aber alles hat seine Grenzen. Die meisten sind der Ansicht, dass du nicht mehr objektiv urteilst. Du bist für uns nutzlos geworden, zumindest auf dieser Position. Du hast zu viele Verbindungen zu den Leuten hier, und die meisten sind nicht einmal Teil der Rebellion, ganz zu schweigen von Eravier.
Aber dein letzter Fehler war, dass du Jan nicht aus dem Weg geräumt hast, als du die Gelegenheit dazu hattest. Hättest du deine Pflicht erfüllt, wären wir jetzt nicht gezwungen, unser Küken unter diesen unmöglichen Bedingungen wieder zurück ins Nest zu setzen und zu hoffen, dass es keiner bemerkt!” „Mit Jan aus dem Spiel hätte sich Eraviers Zorn auf Valion konzentriert, und das sollte ich schließlich verhindern”, konterte Tarn kalt. Plötzlich ergriff ihn nicht nur Wut über den Angriff auf ihn, sondern auch darüber, wie Fourmi über Valion sprach. „Und was den Jungen betrifft, war wirklich alles mein Fehler, Fourmi?”, fragte er grimmig und drehte Fourmis Arm weiter herum. Es war unter der Kapuze kaum sichtbar, aber langsam wurde das Gesicht des Spions kalkweiß. Vielleicht würde er vor Schmerz bald in Ohnmacht fallen, und es war Tarn in diesem Moment völlig egal. „Oder habt ihr Valion einfach nicht so unter Kontrolle, wie ihr dachtet? Habt ihr wirklich geglaubt, dass er sich tot stellt, bis ihr eine Verwendung für ihn findet? Dachtet ihr, dass er das mit sich machen lässt? Ausgerechnet ihr Sohn?”
Fourmi gab einen gurgelnden Schrei von sich, und Tarn ließ seinen Arm endlich los, nicht aus Mitleid, sondern aus Desinteresse. Die Rebellion war nun also gegen ihn - damit würde er sich zu gegebener Zeit beschäftigen, aber nicht jetzt. „Verschwinde, bevor ich dich wirklich töte”, sagte er kalt, und Fourmi kroch ein Stück von ihm zurück, aber er floh auch nicht. Anscheinend hatte er noch nicht alles gesagt. „Ich habe dich vielleicht nicht erwischt, aber glaube ja nicht, dass du damit in Sicherheit bist. Für den Fall meines Versagens steht schon jemand bereit, der dir das Licht ausbläst”, sagte Fourmi keuchend, aber in seiner Stimme lag auch Häme. Er wusste, dass er über kurz oder lang gewinnen würde, und das trieb Tarn zur Weißglut. „Denkst du das macht mir Angst?”, fragte er wütend und versetzte dem Spion einen heftigen Tritt in die Rippen, der ihn zurückwarf, aber Fourmi lachte ihn nur aus. „Das sollte es, ja, und deshalb habe ich auch ein Angebot für dich. Du kannst immer noch deinen Hals retten”, sagte er und richtete sich stöhnend wieder auf. „Es war eigentlich meine Aufgabe, aber wenn du es an meiner statt erledigst, muss ich dich nicht töten…”
Das war ganz eindeutig ein Ausweichplan; Fourmi hatte nicht damit gerechnet, den Tag mit einem gebrochenen Arm und geprellten Nieren zu beenden, und sie beide waren die einzigen, die genug ausrichten konnten um das Blatt an diesem Abend noch zu wenden. Einerseits verabscheute er dieses kriecherische Angebot, aber gleichzeitig hatte er es vermutlich bitter nötig, wenn er jetzt tatsächlich auf der Abschussliste stand.
„Was soll tun?”, fragte Tarn schneidend, und Fourmi grinste unter seiner Kapuze. „Wenn du es schaffst, dass Valion wieder gefangen genommen wird und bis morgen alles wieder beim Alten ist, dann lassen wir dich laufen. Du wirst nur aus der Rebellion ausgestoßen, aber du wirst leben.”
Tarn sah ihn nur grimmig an, und Fourmi kroch sogar noch einen Schritt weiter vor ihm zurück, den gebrochenen Arm an der Seite haltend. Dennoch hatte er in diesem Moment die ganze Macht, und das wusste er. Er würde entscheiden, ob Tarn auf der Abschussliste der Rebellion landete - entweder durch seinen Befehl, oder durch die Nachricht seines Todes.
Es war eine schreckliche Wahl. Er konnte Valion verraten und sein eigenes Leben schützen, oder er konnte ihm in dieser Nacht zur Flucht verhelfen und sein eigenes Todesurteil unterzeichnen. Wenn er verneinte, oder Fourmi zur Hölle schickte, dann war er nicht einmal mehr an Eraviers Seite sicher. Es gab tausende Wege, einen Abtrünnigen zu beseitigen. Ein Messer im Dunkeln, Gift im Essen, eine Schlange im Bett… am Ende würde ihm nur die Flucht bleiben.
Wenn er leben wollte, gab es im Grunde nur einen Ausweg. Und rational betrachtet war es unerheblich, wie oder wann Valion die Möglichkeit zur Flucht bekam. Er konnte jetzt fliehen, oder in einem Monat, oder erst in einem Jahr. Tarn hatte die Mittel dazu, notfalls auch ohne dass Eravier und die Rebellion jemals etwas davon erfuhren., auch auf eigene Faust, wenn es darauf ankam. Aber es ging nicht nur um Valion, nicht wahr?
„Was habt ihr mit Jan vor?”, fragte er, und Fourmi zuckte mit den Schultern, desinteressiet. Eins war sicher, Jan war nicht Teil des Plans, war es nie gewesen. „Ob er lebt oder stirbt, ist für uns nicht relevant. Schaff ihn aus dem Weg. Häng’ ihm bestenfalls die Verbindung zur Rebellion an, das wird Valion entlasten.”
Es klang so einfach, und trotzdem drehte sich Tarn bei dem Gedanken, dieses Vorhaben umzusetzen, der Magen um. Es war Verrat. Es spielte keine Rolle, ob er es nur zu seinem eigenen oder Valions Besten tat.
Aber war er nicht der geborene Verräter?
„Ich tue es”, sagte er grimmig, und als Fourmi erleichtert ausatmete, griff er ihn an seinem Umhang und riss ihn auf die Füße. Er hätte es gern darauf ankommen lassen und ihm die Luft abgeschnürt, bis er tot zusammenbrach, doch stattdessen schob er die Kapuze zurück, unter der sich das gut gehütete Geheimnis von Fourmis Identität verbarg. Es war eine viel größere Genugtuung, sich das bleiche, ängstliche Gesicht einzuprägen. Keine Versteckspiele mehr, er wusste nun, wer ihm so lange Zeit aufgelauert hatte, und er sah in Fourmis Gesicht, dass ihm bewusst war, dass Tarn ihn erkannte. „Du verdammter Bastard”, fluchte er, und Tarn lächelte ihn nur spöttisch an und stellte ihn auf die Füße.
Es war die perfekte Demütigung, und fast sah es so aus, als würde Fourmi sich trotz seines gebrochenen Arms auf Tarn stürzen und ihm den Garaus machen wollen, doch in diesem Moment hörten sie plötzlich beide die Stimmen und Schritte zweier Wachen, die aus dem Nebel gelaufen kamen.
Tarn wandte sich mit dem Oberkörper halb zu ihnen um, und ironischerweise war Fourmi aus den Augen zu lassen das Beste, was er tun konnte. In der Sekunde, in der er sich abwandte, erhielt er zum zweiten Mal an diesem Tag einen Schlag in den Magen, und diesmal versagten seine Reflexe. Der Schmerz explodierte regelrecht in seinem Körper, trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn zu Boden gehen, während Fourmi auf dem Absatz kehrt machte und zwischen die Bäume in die Sicherheit des Waldes hechtete. Es war ein Vergeltungsschlag gewesen, aber ohne es selbst zu realisieren hatte er Tarn damit das perfekte Alibi geliefert. Er hatte sich mit einem Rebell geschlagen, vor Zeugen, war angegriffen und zu Boden geschickt worden. Gab es etwas Besseres, als seinen Ruf als loyaler Anhänger von Eravier zu sichern?
„Stehen bleiben!”, brüllte einer der Wächter und feuerte seine Waffe auf den fliehenden Rebellen ab, während der andere im Laufschritt zu Tarn eilte, sich zu ihm herunter beugte und fluchend fragte: „Verdammt, wer war der Bastard? Was zum Teufel ist denn heute los?!” Tarn erkannte ihn trotz der Schmerzenstränen, die seinen Blick verschwimmen ließen an der Statur und der Stimme. Guy, wenn er sich recht erinnerte, einer der altgedienten Wächter. Trotz der Schmerzen hätte er beinahe gelacht, weil es so perfekt in seinen Plan passte. Wo auch immer die beiden her gekommen waren, warum auch immer sie genau hierher gekommen waren, sie würden Fourmi jetzt gleich beschäftigen, wenn sie ihm nachliefen und ihn quer durch den Wald jagten. Er musste nur die richtigen Worte finden.
„Rebellen…”, brachte er keuchend hervor, „…haben uns infiltriert… wollen einen der Sklaven befreien… er gehört zu ihnen…” „Welcher von beiden?”, fragte Guy sofort, und Tarn hustete angestrengt, um seine Kehle frei zu bekommen. Immerhin musste er seinen Stolz und sein Gewissen hinunter schlucken.
Wie kann ich dir vertrauen?
Es war eine so unschuldige Frage. Sie konnte nur von jemand gestellt werden, der keinen Verrat kannte. Was würde Valion sagen, wenn er erfuhr, was geschehen war? Würde er es verstehen? Würde er irgendwann einsehen, dass man in einem Krieg Soldaten opfern musste, um am Ende den Sieg davon zu tragen?
Tarn räusperte sich und glaubte Blut zu schmecken. Vielleicht hatte er sich bei dem Schlag in die Magengrube auf die Zunge gebissen. Oder vielleicht quälte ihn wieder eine von vielen, bitteren Erinnerungen. Es gab zu viele, und in zu vielen hatte er Opfer gebracht.
Ich bin kein bisschen vertrauenswürdig, Valion, dachte Tarn und sagte so laut und deutlich wie möglich: „Er heißt Jan.”