Erst nachdem Jan ihn verlassen hatte, fiel Valion endlich ein, was er vergessen hatte: Er hatte Jan erzählen wollen, was zwischen ihm und Marceus vorgefallen war.
Im ersten Moment schien es nicht einmal schlimm zu sein, aber dann schlichen sich Zweifel ein. Warum hatte er nichts gesagt? Ausgerechnet dieses Detail vergessen? Jan hatte ihm sogar das Stichwort geliefert. Und trotzdem hatte er nicht einmal den Versuch unternommen.
Du bist ein Lügner.
Hatte er es wieder getan? Etwas verheimlicht, von dem er wusste, dass es Jan nicht gefallen würde? Nicht absichtlich, sondern einfach nur unterbewusst? Valion war sich nicht sicher, und das war schlimmer als die Gewissheit. Er konnte sich selbst nicht über den Weg trauen.
„Verdammt“, murmelte Valion niedergeschlagen und ließ sich auf den Hocker vor dem Waschtisch fallen.
„Am frühen Morgen schon so ein loses Mundwerk! Lektion Nummer eins für heute: Gewöhn‘ dir das Fluchen ab.“
Valion schreckte nicht auf; er hatte schon so eine Ahnung gehabt, dass Anya seit geraumer Zeit wach war und nur zu höflich gewesen war, auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt war sie hinter der Trennwand hervorgetreten, zerzaust vom Schlafen, aber ihre Augen hellwach.
„Wie lange hast du gelauscht?“, fragte Valion müde.
„Unfreiwillig zugehört“, korrigierte sie, „Und leider von Anfang an.“ Sie trat neben Valion und griff sich ihre Bürste, schlug sie gegen den Krug, der einen dumpfen Ton von sich gab. „Der hat gereicht, um mich zu wecken. Aber keine Sorge, das war das einzige laute Geräusch. Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf euch aufmerksam geworden ist.“
„Hm.“
„Was hat dir denn jetzt wieder die Laune ruiniert?“, fragte Anya und begann, ihr Haar auszubürsten. „Ich dachte, du würdest dich freuen. Er ist gesund, er ist zu dir zurückgekommen, und wie ich höre, immer noch völlig vernarrt in dich. Was in aller Welt kann dir daran nicht gefallen?“
„Dass du eine Abmachung mit der Rebellion hast, von der ich nichts weiß, zum Beispiel?“, konterte Valion missgelaunt. Natürlich war das nicht der Grund, aber zumindest war es nicht so persönlich wie das, was ihn wirklich beschäftigte.
Anya seufzte. „Glaub mir, da gibt es keine großen Intrigen. Betrachte mich nicht als ihr Mitglied oder etwas in dieser Art. Ich wüsste nicht einmal, wie ich sie rufen sollte, wenn ich sie brauche. Ich soll nur auf dich aufpassen. Deine Ausbildung überwachen. Dafür sorgen, dass du nicht in Schwierigkeiten gerätst. Im Grunde dasselbe, was Eravier mir aufgetragen hat.“
„Wie beruhigend“, murrte Valion, aber Anya ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie griff in sein Haar und verstrubbelte es demonstrativ.
„He!“
„Werde nicht schon wieder trotzig! Im Gegensatz zu Eravier will ich das Beste für dich, nicht das, was mir den größten Profit heraus schlägt. Und so ungern ich es zugebe, du bist mir ans Herz gewachsen. Also schmoll jetzt nicht wie ein Kind!“
Sie hatte es leichthin gesagt, aber trotzdem trafen ihre Worte Valion unvorbereitet. Sie mochte ihn. Selbst, wenn er das im Grunde gewusst hatte, rührte es ihn unerwartet stark. Er konnte nicht anders, er musste lächeln, und Anya lächelte zurück. „Da, schon besser. Und jetzt mach Platz, mein Haar ist in einem furchtbaren Zustand. Diese schreckliche Feuchtigkeit ist Schuld.“
„Soll ich dir helfen?“
„Ich bitte darum.“
Anya hatte nicht gelogen, ihr Haar war störrisch an diesem Morgen. Valion half ihr, es zu bändigen, während sie auf ihr Frühstück warteten, aber als sie mit dem Frisieren fertig waren, war noch niemand bei ihnen aufgetaucht. Es dauerte eine weitere Stunde, bis sich jemand um sie kümmerte, und Anya war nicht begeistert davon.
„Das wurde auch Zeit! Was hat so lange gedauert?!“, murrte sie, als endlich ein Diener eintraf und sie mit dem Nötigsten versorgte. Der Mann zuckte nur mit den Achseln; anscheinend war Anyas Zorn nicht das Schlimmste, was ihm heute begegnet war.
„Die Pferde sind uns im Gewitter scheu geworden, ein Wagen stürzte um“, berichtete er gelassen. „Wir mussten deshalb eine Weile rasten.“
„Ist jemand verletzt?“, fragte Valion, aber der Diener schüttelte den Kopf.
„Nein, alle sind wohlauf, mit dem Schrecken davon gekommen. Wir dachten erst-“ Er unterbrach sich plötzlich, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass er sich fast verraten hätte, und fuhr hastig fort: „Wie auch immer, Herr Eravier wünscht, euch beide zu sehen. Ihr sollt euch frisch machen und ihn dann aufsuchen. Ein Wächter wird euch dorthin begleiten.“
„Hat er dir mitgeteilt, warum er uns sehen will?“, fragte Anya, aber der Diener schüttelte erneut den Kopf. Er löste ihre Kette, damit sie sich waschen und ankleiden konnten, dann verließ er sie auch schon.
Valion und Anya tauschten einen Blick; sie waren beide nicht begeistert von der Aussicht, vor Eravier antreten zu müssen. „Was meinst du, will er von uns?“, fragte Valion.
Anya seufzte und verschränkte die Arme. „Vermutlich einen Lagebericht. Immerhin ist etwas Zeit vergangen. Sicher will er deinen Fortschritt prüfen.“
„Ich werde mir Mühe geben“, versprach Valion, aber Anya schnaubte nur amüsiert.
„Ich hatte auch nicht angenommen, dass du es darauf anlegst, mich in Schwierigkeiten zu bringen“, sagte sie, und fügte mit einem spöttischen Lächeln hinzu: „Zumindest jetzt nicht mehr. Und jetzt an die Arbeit, wir müssen dich heute besonders vorzeigbar machen.“
Nachdem sich Valion gewaschen, angekleidet und unter Anyas Beihilfe frisiert hatte, trafen auch schon zwei Wächter ein. Sie waren wegen des Regenwetters schlecht gelaunt und knurrten nur gereizt, als Anya ihnen mitteilte, dass sie sich noch gedulden mussten.
„Sind wir nicht fertig?“, fragte Valion irritiert, aber Anya reicht ihm kommentarlos das Gesichtspuder. Anscheinend war es ihr ernst damit gewesen, ihn heute besonders herauszuputzen. Zaghaft trug er unter Anyas Mithilfe eine Schicht auf, diesmal ohne Spiegel. Anya schien trotzdem überzeugt von ihrem Ergebnis.
„Gar nicht so schlecht. Es fehlt dir an Übung, aber für den Augenblick genügt das. Jetzt komm.“
Sie verließen gemeinsam den Wagen, und die Wächter nahmen sie in ihre Mitte und führten sie zu Eravier.
Mittlerweile erkannte Valion, ob der Wagenzug gerade lagerte oder nur eine Rast einlegte. Es herrschte die gleiche Betriebsamkeit, aber da nach wie vor das Meiste in den Wagen verstaut war, wirkte alles übersichtlicher. Die Luft war frisch, rein gewaschen durch den Regen, der mittlerweile zu einem schwachen Nieseln zurückgegangen war. Die Wolkendecke zerriss bereits zu einzelnen Fetzen, und die Mittagssonne schien durch die Lücken. Nur am Horizont türmten sich immer noch dunkle Wolkenwände. Das schwache Grollen in der Ferne, letzte Nachwehen des Gewitters, wurde vom Gewirr der Stimmen und den Geräuschen der Arbeit fast übertönt. Einige eilig entzündete Feuer brannten, und das feuchte Holz erzeugte eine Menge Qualm.
Das Gedränge konzentrierte sich heute um einen der Wagen, der, reichlich mit Schlamm bedeckt, an der Seite des Zuges stand. Vermutlich der, der umgestürzt war. Reparaturen gingen vor sich, Material wurde gesichtet, teilweise entsorgt. Die Stimmung war unterschwellig gereizt. Einige beobachteten Valion und Anya länger als nötig, während sie vorbei gingen.
„Warum starren sie uns so an?“, flüsterte Valion Anya zu. Anya schmunzelte.
„Oh, sie starren nicht uns an, sie wissen, wie ich normalerweise aussehe“, flüsterte sie zurück. „Sie starren dich an, und das aus gutem Grund.“
Sie lieferte keine weitere Erklärung dazu ab, denn etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Abrupt hielt sie inne und winkte einer Frau in einiger Entfernung zu.
„Sophie!“
Einer der Wächter packte sie an der Schulter und wollte sie anraunzen, doch im nächsten Moment war die junge Frau auf sie aufmerksam geworden. Valion erkannte sie, er hatte sie schon einmal mit Anya zusammen gesehen; eine von Karvashs Frauen. Sie hob die Hand und gebot den Wächtern mit einer Geste, Anya zu ihr zu lassen. Valion dachte, sie würden ein Gespräch beginnen, aber sie umarmten einander nur lange und herzlich, dann kehrte Anya zu den Wächtern zurück, die fast ebenso verwirrt waren wie Valion.
„Ich bin fertig“, sagte Anya gelassen, und ging voran, sodass die Wachen ein wenig hinter ihr zurück fielen. „Wir sind wohl nicht die Einzigen, die so lange eingesperrt waren“, flüsterte sie Valion zu, sobald ihre Bewacher außer Hörweite waren. „Zur Zeit ist es praktisch niemand gestattet, sich länger bei den Sklaven aufzuhalten, und jeder, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist, wird verhört. Eravier meint es anscheinend ernst mit seiner Rebellenjagd.“
„Hört auf zu tratschen“, knurrte der Wächter und gab seinem Kamerad einen Wink. Sie holten auf und nahmen Anya und Valion erneut in ihre Mitte. Anya lächelte nur spöttisch und verstummte.
Schließlich erreichten sie Eraviers Wagen, der erneut ein wenig abseits vom Rest der Kolonne stand. Ein Knecht kümmerte sich um die Pferde, die direkt daneben angebunden waren und Heu fraßen. Dass sie nicht zu den anderen Pferden geführt worden waren sagte Valion, dass ihre ungeplante Rast von kurzer Dauer sein sollte.
Obwohl Valion nur ein einziges Mal in Eraviers Quartier gewesen war, schauderte er. Er erinnerte sich nur zu gut daran, hier gewesen zu sein, von Eravier begutachtet zu werden. Zumindest waren auch die Wächter nicht erpicht darauf, ihrem Herren zu begegnen. Sie blieben vor dem Eingang stehen und winkten Valion und Anya lediglich weiter. Anya ging vor, schob die Planen beiseite und hielt sie für Valion, damit er ebenfalls eintreten konnte.
Sie gelangten in den schmalen, düsteren Bereich, der vom Rest des Wagens abgeschirmt war, und Anya gebot Valion, stehen zu bleiben. Unvermittelt befiel ihn ein unheimliches Gefühl des Wiedererkennens; kein Déjà-vu, denn er war ja schon einmal hier gewesen, aber es fühlte sich doch ähnlich an. Seine Gefühle von damals waren ihm unheimlich gegenwärtig. Wie sehr er Anya misstraut hatte. Sie war ihm damals so fremd gewesen, obwohl er jetzt das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen.
Anya schien es ähnlich zu gehen. „Da sind wir nun wieder, nicht wahr?“, fragte sie. Valion nickte nervös. „Keine Angst, du bist diesmal viel besser vorbereitet. Bleib direkt hinter mir; ich werde erst einmal sehen, ob wir überhaupt erwünscht sind. Und denk daran: Immer lächeln.“
Valion sah ihr die Anspannung an, aber ihr ruhiger, heiterer Ausdruck blieb derselbe, gefror auf ihrem Gesicht zu einer undurchdringlichen Maske. Ohne weiter zu zögern wandte sie sich um, schob den zweiten Vorhang beiseite und trat in Eraviers Quartier.
Sie fanden Eravier nicht allein vor, im Gegenteil schien er sehr beschäftigt. Neben ihm standen Karvash und Besnard, über eine Landkarte gebeugt. Beide hatten Aufzeichnungen mitgebracht; sie hielten Papiere in den Händen, und noch viel mehr davon türmte sich auf dem Tisch und bildete Stapel. Notizblätter lagen direkt neben der Karte verstreut, hastig vollgekritzelt, geändert, ganze Passagen durchgestrichen. Valion erkannte hinter Anyas Rücken hervor keine Details, aber die Männer schienen mit Listen und Berechnungen ihre weitere Reise zu planen.
„-sage doch, unsere Verluste sind zu groß, um auf unserem geplanten Weg zu bleiben. Wenn wir nicht bald Vorräte fassen, werden wir den Gürtel alle enger schnallen müssen“, erklärte Besnard gerade. Eraviers Augen huschten über die Liste, die er in der Hand hielt, bevor er sie beiseitelegte und eine hastige Berechnung auf einem weiteren Papier durchführte.
„Wir würden unsere Reise um ... weitere achtzehn Tage verlängern. Das müssen wir mindestens auf zehn verkürzen. Ich werde meine bereits vereinbarten Geschäfte in der Hauptstadt nicht warten lassen.“
„Ich verstehe deinen Groll, Ansin, auch ich habe unsere Rückkehr eher erwartet“, unterbrach Karvash ihn, bemüht um einen besänftigenden Tonfall. „Dennoch scheint es mir, dass wir diesen Aufschub dringend benötigen werden. Bedenke meine missliche Lage! Ich brauche dringend einen Ersatz für mein Zelt!“
„Deine Lage ist durchaus akzeptabel“, antwortete Eravier desinteressiert. „Sollte dein neuer Schlafplatz deinen Huren zu beengt sein, dann schick sie zu den Wachen, das wird den Männern die Zeit vertreiben und die Moral heben.“
Karvash kniff die Lippen zusammen, aber er erwiderte wohlweislich nichts.
„Es geht nicht nur um Lebensmittel und ein paar Gebrauchsgegenstände“, warf Besnard ein. Er rang regelrecht die Hände, so nervös war er, dass er widersprechen musste. „Wenn du meine Aufzeichnungen prüfst, wirst du sehen, dass uns kaum noch etwas für die Reparatur der Wagen zur Verfügung steht. Wachs wird uns knapp, und Seife. Und dein Berater wird dir berichten können, dass ihm die medizinischen Versorgungsgüter ebenfalls ausgegangen sind. Wir werden auf dem Zahnfleisch kriechen, wenn wir Luteija erreichen!“
Eravier sah auf, wollte etwas erwidern, und bemerkte, dass Anya im Eingang stand. „Ach, ist es schon so weit?“, fragte er und rieb sich die Stirn, als müsste er Kopfschmerzen vertreiben. Er wandte sich an Karvash und Besnard. „Ich werde eure Vorschläge in Betracht ziehen und eure Rechnungen prüfen. Meine Entscheidung wird euch von Tarn mitgeteilt, ich erwarte seinen Bericht. Geht jetzt, ich habe noch andere Dinge zu tun.“
Die beiden Männer beeilten sich, fortzukommen, und drängten sich mit einem hastig gemurmelten Gruß an Anya und Valion vorbei. Eravier ließ den Blick wieder sinken, starrte auf die Karte, die Berechnungen.
Und dann, mit einer einzigen, zornigen Armbewegung, fegte er alles vom Tisch. Anya zuckte heftig zurück und hätte beinahe Valion um gerempelt, der immer noch hinter ihr stand, abgeschirmt von Eraviers Wut.
„Ein einziges Mal möchte ich erleben, dass diese Kretins ihre Zahlen in Ordnung halten“, murmelte er übellaunig, erhob sich und ging langsam, bedrohlich, auf Anya zu.
„Wo ist Valion? Ich dachte, ich hätte mich klar-“
Valion trat einen hastigen Schritt nach vorn, direkt neben Anya, und Eravier hielt inne; anscheinend hatte er ihn in Anyas Schatten tatsächlich nicht bemerkt. Der Ausdruck seines Gesichtes änderte sich plötzlich, seine Wut verrauchte, machte einem völlig neutralen Ausdruck Platz. Hätte Valion es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, dass er erstaunt war und es hastig zu verbergen suchte. Einen Moment lang stand er da, betrachtete ihn. Dann winkte er ihn heran.
Valion schluckte seine Nervosität herunter und ging auf ihn zu, blieb dann in angemessenem Abstand zu ihm stehen. Leicht verbeugte er sich, so, wie Anya es ihm gezeigt hatte, und nahm dann wieder seine gerade Haltung ein.
Eravier beobachtete ihn, nickte schließlich. „Das ist nicht schlecht.“ Er trat näher an Valion heran, und Valion musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Eravier hob die Hand, ließ sie über seine Schulter gleiten, und umrundete ihn. Wie ein Raubtier, das seine Beute betrachtete. Seine Hand glitt Valions Rücken hinab, die Wirbelsäule entlang, als prüfe er seinen Stand.
„Dein Aussehen ist verbesserungsbedürftig, aber ein Anfang, durchaus. Deine neue Haltung gefällt mir. Und wir werden in Luteija wohl einen Schneider finden, der deine Vorzüge besser zu Geltung bringt, als es dieser Haufen Lumpen vermag.“ Damit schloss er seinen Rundgang um Valion ab, trat wieder vor ihn. „Nun, sag mir: Wie hast du die letzten Wochen verlebt?“
„I-Ich-“ Beinahe wäre Valion über seine eigenen Worte gestolpert. Fragte Eravier ihn ernsthaft danach, wie er sich fühlte? Mühsam beherrscht brachte er heraus: „Ich habe sie gut verlebt, auch wenn die Tage recht eintönig waren.“
„Du scheinst sie jedoch gut genutzt zu haben.“
„Ja. Ich habe unter Anyas Anleitung Verhaltensregeln erlernt.“
„Das ist kaum zu übersehen. Welche Themen habt ihr angeschnitten?“
„Grundregeln der Etikette und der Tischmanieren. Wie ich mich kleiden soll, und meine Haltung.“
„Anscheinend hat Anya auch deine Konversationskünste erweitert.“ Eravier lächelte spöttisch. An Anya gewandt sagte er: „Er spricht durchaus nicht mehr gänzlich wie ein Bauerntölpel. Es fehlt an Schliff und Charme, aber mehr kann man in der kurzen Zeit wohl nicht erwarten.“
Dann, bevor Anya antworten konnte, packte er plötzlich Valions Kinn, brachte sein Gesicht nahe an seines. Sein Griff war eisern, ließ keinen Widerstand zu.
Valion wollte schreien, aber kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Wenn Anya mit diesem Scheusal schlafen konnte, dann konnte er ihm in die Augen sehen.
Lächle. Lächle. Lächle.
Eravier studierte seine Haut, nickte dann. „Auch das sollte sich mit etwas Übung geben.“ Zu Valions Erleichterung ließ er ihn daraufhin los und kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück, ließ sich auf seinen Stuhl sinken. „Ich muss dich loben, meine Teure, du leistest gute Arbeit mit ihm. Wenn wir die Hauptstadt erreichen, werde ich wohl erste Interessenten für ihn gewinnen können.“
„Vielen Dank, Ansin“, sagte Anya lächelnd und neigte den Kopf zu einer angedeuteten Verbeugung. Aber Valion sah, dass ihre Mundwinkel zuckten; sie musste sich beherrschen, um ihn nicht auszulachen.
„Gibt es noch etwas, das du dir wünschst?“, fragte Eravier, jetzt wieder an Valion gewandt. „Ich bin geneigt, dich für deine Folgsamkeit zu belohnen.“
Valion sah zu Anya, und dachte daran, wie sie sich verzweifelt gewünscht hatte, ihr Haar betrachten zu können, und seine Antwort folgte ohne langes Nachdenken.
„Könnte ich einen Spiegel bekommen?“
Im nächsten Moment begriff er, worum er gerade gebeten hatte: Die Waffe, mit der Jan Eravier fast umgebracht hatte. Anyas Augen weiteten sich vor Entsetzen, und auf Eraviers Gesicht erschien ein unangenehmes Lächeln. Scheinbar unbewusst richtete er den Kragen seines Hemdes. Valion war sicher, dass der darunter verborgene Schnitt immer noch sichtbar sein musste.
„Ich- ich- ich meine, um meine Übungen fortsetzen zu können“, stammelte er hastig, und seine Panik schien Eravier nur noch mehr zu amüsieren. Sein Grinsen verbreiterte sich, so wölfisch, dass sich Valions Magen umdrehte.
„Natürlich. Ich nehme an, du hast deine Lektion gelernt, was zerbrochene Spiegel betrifft.
Geh jetzt. Ich möchte allein mit Anya sprechen.“
Valion warf Anya einen entsetzten Blick zu, aber sie winkte ihn fort. Und da er keine Wahl hatte, verließ er den Wagen nach kurzem Zögern und ließ sie allein zurück.
~
„Verzeih ihm. Er ist ein dummer Junge, er wollte mir nur eine Freude machen“, sagte Anya schnell, sobald Valion außer Hörweite war.
„Er ist ein wahres Unschuldslamm. Ich werde es ihm nicht nachtragen“, antwortete Eravier. Das Lächeln war nicht aus seinem Gesicht gewichen, aber Anya glaubte ihm kein Wort; seine Augen blickten kalt, misstrauisch. Sie wäre fast zurück gezuckt, als er die Hand ausstreckte, ihr bedeutete, zu ihm zu kommen. „Genug von ihm. Wie ist es dir ergangen, meine Liebe? Komm und erzähl mir davon.“
Anya lächelte zurück, obwohl sie am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht hätte. Jeder ihrer Instinkte warnte sie davor, hier zu bleiben, egal, wie ruhig und schmeichelnd sein Tonfall gerade war. Dennoch ging sie zu ihm, ließ zu, dass er einen Arm um ihre Hüfte legte.
„Ich vertreibe mir die Zeit, etwas anderes bleibt mir wohl kaum übrig“, sagte sie, und gab vor, die Karte zu studieren, um einen Blick auf die Aufzeichnungen zu erhaschen. „Und ich erfülle meine Aufgabe, wie du siehst. Er wird langsam zutraulicher, aber er sträubt sich noch ein wenig gegen körperliche Zuwendung. Wir arbeiten daran.“
„Die Zeit muss dir sehr lang geworden sein, ohne deine sonstige Gesellschaft.“ Eraviers Ton war lauernd. Irgendetwas bezweckte er mit seinen Worten, aber Anya wusste nicht, was.
„Ich habe mich damit arrangiert“, antwortete sie und sah wieder zu ihm auf, ihr ständiges Lächeln eingefroren auf ihrem Gesicht. Hoffentlich hatte sie das gesagt, was er hören wollte.
„Oder du hast die Gelegenheit genutzt, dich mit deinen neusten Freunden auszutauschen.“ Von einem Moment auf den anderen war Eraviers Tonfall nicht länger freundlich, sondern eisig. Er erhob sich, und seine Hand, die auf ihrer Hüfte gelegen hatte, packte Anya und zerrte sie näher an sich heran.
Das hatte er also gewollt. Anyas Herz schlug auf einmal bis zum Hals. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte sie, aber Eravier grinste nur.
„Ach wirklich? Eine Sekunde lasse ich dich wieder aus deinem Käfig, und schon plauderst du mit Karvashs Huren! Ganz zu schweigen davon, dass ich die Wachen um deinen Wagen verdoppeln durfte, um ungebetenen Besuch fern zu halten.“
„Das ist lächerlich!“, erwiderte Anya wütend und gab ihm einen Stoß, der sie aus seinem Griff befreite. Nur, dass es nicht so lächerlich war, wie sie vorgab. Die Rebellion hatte also ein Auge auf sie gehabt, aber sich ihr nicht gezeigt. Wie typisch von ihnen; sie hatten damit mehr Schaden angerichtet, als sie ihr je genützt hatten. Wenn sie klug war, machte sie, dass sie aus Eraviers Reichweite kam.
Demonstrativ richtete sie ihr Haar und heuchelte Entrüstung. „Ich habe auf deinen Befehl hin mehrere Wochen allein mit diesem Jungen verbracht und ihm so viel beigebracht, wie ich konnte! Ich weiß nicht, was die Rebellen von ihm oder mir wollen, aber ich habe keine Menschenseele zu Gesicht bekommen! Ich werde mir von dir keine Verschwörung andichten lassen!“
Mit diesen Worten wandte sie sich um und wollte aus der Tür stolzieren, aber sie hatte die Rechnung ohne Eravier gemacht. Mit einem Satz war er hinter ihr, packte ihren Arm, drehte in ihr auf den Rücken und zerrte sie zurück.
„Du bleibst hier und wirst mir zuhören, meine Teure!“, zischte er in ihr Ohr. Sein Griff war so grob, dass Anya gequält keuchte. Hatte sie geglaubt, dass er sie einfach so gehen lassen würde? Dazu war er viel zu wütend.
„Was willst du?“, würgte sie hervor.
„Ich will dir einen wohlmeinenden Rat geben. Komm mir nicht in die Quere. Denk an Faure... er wusste nicht, wann er den Mund halten und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Oder willst du wie er ein Auge verlieren?“
Im nächsten Moment sah Anya aus dem Augenwinkel etwas silbernes aufblitzen, und sie reagierte, ohne nachzudenken. Ihr Körper zuckte heftig zurück, weg von dem Messer, das Eravier gezogen hatte. Mit aller Macht riss sie sich selbst herum. Ihre Schulter knirschte grotesk und wollte fast nachgeben, aber sie hatte keine Zeit, Schmerz zu fühlen. Ihre freie Hand schnellte vor, packte sein Handgelenk. Schmerz flammte in ihrer Wange auf, und etwas warmes, flüssiges, lief daran hinab.
Eine hysterische Stimme in ihrem Verstand kreischte sie an, ihn sofort loszulassen, um Gnade zu betteln. Dein Gesicht!, jaulte sie, Dein Gesicht! Anya würgte sie ab und erwartete mehr Schmerz als nur eine halb ausgekugelte Schulter, aber er ließ auf sich warten. Eravier konnte sein Handgelenk nicht mehr bewegen, sie hatte ihn so fest gepackt, dass er nicht gegen sie ankam, und er war außer sich vor Wut darüber. Anya sah es in seinen Augen. Noch nie war der Impuls so groß gewesen, ihn auszulachen. Aber sie lachte nicht.
Ihre Stimme erschien ihr kratzig, und seltsam weit entfernt, als sie völlig gelassen sagte: „Ich will dir auch einen wohlmeinenden Rat geben, mein Bester: Hör auf, mir zu drohen.“
„Oder was?“, spie Eravier.
Vielleicht war er im Begriff, wahnsinnig zu werden. Der Gedanke war Anya in diesem Moment schrecklich plausibel. Die Fehde mit der Rebellion, die Verräter, seine eigene Paranoia, dieses ganze Wagnis, in das er sich mutwillig hinein begeben hatte, zerrten an seinem Verstand. Noch hatte er die Schwelle nicht überschritten; er war sich voll bewusst, dass Anya eine ernstzunehmende Gegnerin war, und er sich vorsehen musste. Aber wie lange noch? Wann würde er die Realität hinter sich zurücklassen?
„Oder du wirst es bereuen“, erwiderte sie. „Hüte deine Zunge, oder du bist sie schneller los, als dir lieb ist. Du bist nicht unverwundbar; niemand ist das. Das hättest du lernen sollen, als der kleine Jan dir fast die Kehle durchgeschnitten hat. Wenn du weißt, was gut für dich ist, wirst du aufhören, mich zu behelligen, bis wir die Hauptstadt erreichen.“
Damit riss sie sich von ihm los, befreite ihren Arm aus seinem Griff, und versetzte ihm einen Stoß. Heftig genug, um sich aus seiner Reichweite zu bringen, aber nicht genug, um ihn von den Füßen zu werfen. Hätte sie ihn zu Fall gebracht, er hätte sie wieder angegriffen. Sie wusste nicht, warum sie sich dessen so sicher war, aber sie war es. Er hätte ihr diese Demütigung heim gezahlt.
Eravier fing sich, erstaunlich leichtfüßig, und er ließ das Messer leicht sinken. Von einem Moment auf den anderen machte seine haltlose Rage kühler Kalkulation Platz, und noch nie war Anya dafür so dankbar gewesen. Er war immer noch wütend, aber jetzt überlegte er tatsächlich, ob es ihm etwas bringen würde, ihr die Kehle durchzuschneiden, statt es nur tun zu wollen.
Wie absurd das war; Anya fühlte, wie sich ein breites, grimmiges Lächeln auf ihr Gesicht legte. Ihr Herz raste immer noch, und ihre Schulter pochte. Aber seltsamerweise hatte sie keine Angst mehr. Sollte er kommen. Sollte er versuchen, ihr weh zu tun. Sie rechnete nicht mit Hilfe, weder von den Wachen, noch von der Rebellion. Aber sie hatte sich selbst. Wer wusste schon, wie viel von seiner Haut sie ihm abziehen konnte, bevor er die Oberhand gewann? Falls er sie gewann.
Eravier sah sie lächeln, und zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, sah sie echte Zweifel in seinen Zügen. Er verstand nicht, warum sie keine Angst hatte.
„Und wenn nicht, was dann?!“, spie er. „Deine Rebellenfreunde sind weit weg! Wer wird dich beschützen, wenn meine Geduld mit dir am Ende ist? Wer wird verhindern, dass ich dich heraus zerren und vor allen Augen hinrichten lasse? Valion? Gael? Eine seiner Huren?“ Er lachte. „Sieh es ein, du bist völlig allein.“
„Glaub das ruhig“, erwiderte Anya kalt. „Glaub ruhig, dass du alles weißt. Das macht es so viel einfacher.“
Und endlich sah sie einen echten Riss in der Fassade seiner Überheblichkeit. Er wusste nicht mehr, ob sie ihn in die Irre führte, oder die Wahrheit sagte. Wilder Triumph erfüllte sie, und diesmal hätte sie wirklich gern gelacht.
Du feiger Dreckskerl. Daran wirst du eine Weile zu kauen haben, nicht wahr?
„Sieh es ein, Ansin: Du hast nicht alles in der Hand“, sagte sie und wischte sich mit einer wütenden Geste das Blut von der Wange. Dann wandte sie sich zum Gehen. Sie wusste, dass sie ihm den Rücken zudrehte, aber sie glaubte nicht, dass er sie jetzt noch töten würde. Nicht, bevor er herausgefunden hatte, was sie vorgab, zu wissen.
Aber er wäre nicht Eravier gewesen, wenn er nicht zu einem letzten Schlag ausgeholt hätte.
„Nein, nicht alles. Aber das, was dir am liebsten ist.“
Anya erstarrte in der Bewegung.
Nein. Nein, das durfte nicht sein.
Aber er hätte nicht damit geprahlt, nicht auf diese Art, wenn es nicht die Wahrheit gewesen wäre. Das war der Grund, warum Jadzia nicht zurück gekehrt war. Er hatte Ihr Jadzia weggenommen.
„Wo ist sie?“, fragte sie, aber Eravier lachte nur.
„Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, meine Hübsche. Du wolltest doch nicht mehr behelligt werden! Ich erfülle dir deinen Wunsch, ganz, wie du es wolltest. Also mach dir die Haare, halt dein Maul und warte ab. Du wirst sie früh genug wiedersehen. Ich frage mich nur, ob du sie dann noch haben willst.“
Anya hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt. Aber das hätte ihm nur die Genugtuung gegeben, dass er sie verwundet hatte. Sie straffte sich, und ohne ihn noch eines einzigen Blickes zu würdigen, verließ sie sein Quartier.
Anya rauschte nach draußen und war so außer sich, dass sie in den nächsten hinein rannte, der gerade auf dem Weg zu Eravier war. Fast hätte sie den Mann angeschnauzt, doch dann erkannte sie, dass es sich um Tarn handelte.
„Oh, du. Verzeih“, sagte sie benebelt.
Tarn bemerkte ihren Zustand sofort und hielt sie fest. „Du blutest! Was ist passiert? Alles in Ordnung?“, fragte er, so ehrlich besorgt und erschüttert, dass Anya in Tränen ausbrechen wollte. Was war da eben passiert? War sie gerade dem Tod von der Schippe gesprungen?
„Ich- Es-“, stammelte sie, und atmete schluchzend ein. Sie wollte alles erklären, aber plötzlich wurde ihr übel. Die Welt drehte sich um sie. Jadzia. Wo war sie jetzt? Sie brauchte sie so dringend in diesem Moment, und gleichzeitig gingen ihr tausend schreckliche Dinge durch den Kopf, die Eravier ihr vielleicht angetan hatte. Sie bekam keine Luft mehr. In Panik griff Anya nach Tarns Hand, krächzte: „Mir ist schwindlig ...“
Tarn benötigte keine weitere Erklärung, er legte einen Arm um Anya und stützte sie. „Komm. Gehen wir dorthin“, sagte er und führte sie ein Stück weiter, weg von Eraviers Wagen und hin zu einem anderen. Der Eingang war mit einer einfachen Holzstufe versehen, und Tarn half Anya, sich darauf niederzulassen. „Ganz ruhig. Atme tief durch. Ich bin da.“ Er fühlte Anyas Puls, dann ihre Stirn, strich beruhigend über ihren Rücken. Jeden anderen hätte Anya von sich gestoßen, aber Tarn schaffte es, dass sie sich tatsächlich ruhiger fühlte, gut aufgehoben. Ganz langsam legten sich der Schwindel und die Panik, das Atmen fiel ihr leichter. Sie schniefte immer wieder, aber die Tränen blieben aus, und irgendwann hatte sie das Gefühl, die Kontrolle wiedererlangt zu haben.
„Tut mir leid“, sagte sie leise und wischte sich die Augen. „Ich habe dich ja völlig überfallen.“
„Mach dir darüber keine Gedanken. Lass mich deine Verletzung behandeln“, antwortete Tarn besänftigend. Er stellte die Tasche ab, die er schon die ganze Zeit bei sich trug, und entnahm ihr sauberen Stoff und eine Flasche.
„Musst du nicht zu Eravier? Er wird wütend sein, wenn du nicht auftauchst“, fragte Anya, aber Tarn schüttelte nur den Kopf.
„Das hat Zeit, bis ich dich versorgt habe. Und so, wie du aussiehst, wird er sowieso eine Weile nicht ansprechbar sein. In dieser Stimmung hält man sich besser von ihm fern.“ Er tränkte den Stoff mit dem Inhalt der Flasche, und begann dann, sanft und sehr sorgfältig, Anyas Wange abzutupfen.
Anya lachte unkontrolliert auf, aber sie ließ ihn gewähren. „Stimmung! Ja, so kann man es auch nennen. Er hatte ein Messer. Ich dachte, er ermordet mich.“
Tarns Reaktion darauf sagte Anya mehr als tausend Worte: Er seufzte resigniert.
„Das tut mir so leid. Ich rede mit ihm. Er muss aufhören, allen das Leben zur Hölle zu machen.“
„Denkst du wirklich, dass er auf dich hören wird?“
„Ich-“ Tarns Stimme brach, er hielt inne, ließ das Tuch sinken, rang sichtlich um Fassung. „Ich weiß es nicht. Aber was soll ich sonst tun?“, brachte er schließlich hervor. Er war sichtlich am Ende seiner Kräfte, und in diesem Moment tat er Anya schrecklich leid. Sie wusste, wie es sich anfühlte, in seiner Situation zu sein, hin und her gerissen zwischen dem, was richtig war, und dem Mann, den man eigentlich liebte. Er versuchte immer noch, etwas Gutes in Eravier am Leben zu erhalten, ihn nicht völlig abstürzen zu lassen. Wann würde er bereit sein, zu akzeptieren, dass das hoffnungslos war?
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht angreifen“, sagte sie sanft. „Ich weiß, du fühlst dich für ihn verantwortlich. Aber Worte reichen hier nicht mehr.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, stimmte er zu. Aber Anya sah ihm an, dass er diese Wahrheit nicht annehmen konnte, zumindest noch nicht. Seine Hände zitterten leicht, als er das Tuch erneut tränkte und seine Arbeit ohne weitere Worte fortsetzte. Vermutlich quälte er sich schon lange damit, und Anya stand ihm einfach nicht nahe genug, um ihn wirklich zu erreichen. Selbst wenn, sie hätte das nicht auf sich nehmen können. Sie hatte schon einen Schützling, der seine eigenen Sorgen und schlechten Erinnerungen mit sich herum trug.
Siedendheiß fiel ihr plötzlich ein, dass sie Valion ganz vergessen hatte.
„Eine ganz andere Frage: Ist dir Valion über den Weg gelaufen? Er müsste dir beim Hinausgehen eigentlich begegnet sein“, fragte sie schnell, und Tarn lächelte vage.
„Durchaus. Er sah mich kommen und ging in Deckung.“
Anya konnte nicht anders, sie lachte prustend auf. „Wirklich?! Meine Güte, er ist so ein Kind! Ich rede mit ihm, so kann das nicht weiter gehen. Er kann nicht jedes Mal weglaufen, wenn ihm jemand begegnet, den er nicht leiden kann.“
Aber Tarn zuckte nur mit den Schultern. „Sieh es ihm nach; er hat es nicht leicht. Und es ist seine Entscheidung. So, fertig.“ Er verschloss die Flasche, steckte sie zurück in seinen Beutel und das blutige Tuch in seine Hosentasche. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass du so gut wie neu bist, aber du wirst vermutlich keine Narbe zurück behalten.“
„Wie schmeichelhaft“, spottete Anya, und vermied es, das verschmutzte Tuch anzusehen. Ihr Blut. Nicht, dass ihr der Anblick unbekannt war, aber ihr Magen schlingerte trotzdem. „Wenn wir schon dabei sind, du siehst auch nicht besser aus. Wann hast du das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen? Oder eine ordentliche Mahlzeit gegessen?“
Tarn schmunzelte tatsächlich. „Warum nur habe ich das Gefühl, gerade Jefrem zuzuhören?“
„Ein schmeichelhafter Vergleich, mein Lieber, aber das liegt auf der Hand: Wir lassen uns beide nicht hinters Licht führen“, konterte Anya.
„Wenn dir wirklich nach Plaudern ist, dann sag mir lieber, wie es Valion geht. Da ich ihn nicht gesehen habe, weiß ich nicht, wie es um seine Schulter bestellt ist.“
„Seine Schulter? Nun, ich kann dir zumindest eine Beschreibung liefern-“
~
Valion beobachtete Tarn und Anya aus der Deckung eines weiteren Wagens heraus.
Beim Hinausgehen hatte er eigentlich damit gerechnet, dass ihn Wachen vor Eraviers Quartier abfangen würden. Aber anscheinend hatte man nicht so schnell mit ihm gerechnet. Unschlüssig hatte er eine Weile herum gestanden, bis er plötzlich Tarn aus der Ferne heran kommen sah. Und dann, einem völlig unsinnigen Reflex folgend, war er in die entgegengesetzte Richtung gegangen und hinter einem der Wagen verschwunden.
Es kam ihm schon in der Sekunde albern vor, in der er sich vorsichtig nach vorn beugte und um die Ecke spähte, um Tarns weiteren Weg zu beobachten. Tarn hatte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gesehen, so unaufmerksam war er nicht. Er würde also wissen, dass Valion ihn absichtlich gemieden hatte. Und wenn Eravier Anya gehen ließ, würde sie feststellen, dass Valion nicht mehr vor dem Wagen stand. Schlimmer noch, wenn die Wachen kamen und ihn nicht vorfanden, würde er Ärger bekommen. Was zum Teufel hatte ihn geritten, etwas derartig Kindisches zu tun? Stumm betete er, dass Tarn seinen Weg fortsetzen und Eraviers Quartier betreten würde. Dann konnte Valion dorthin zurück kehren, ohne sich mit ihm unterhalten zu müssen.
Zuerst sah es auch so aus, als würde sein Wunsch erfüllt werden. Tarn ging geradewegs zum Eingang des Wagens, sah sich nicht um und hielt auch nicht inne. Dann, zu seiner und Valions Überraschung, wäre er fast von Anya umgerannt worden, die Hals über Kopf nach draußen stürzte.
Valion wurde kalt, sobald er Anya sah. Da stimmte etwas nicht, sie war völlig außer sich. Dann entdeckte er das Blut auf ihrem Gesicht. Er war drauf und dran, zu ihr zu laufen. Aber dann griff sie nach Tarns Hand, und er nahm sie in den Arm, führte sie ein Stück weiter und half ihr, sich zu setzen. Er blieb bei ihr, strich ihr über den Rücken, redete auf sie ein. Widerwillig blieb Valion stehen, beobachtete sie, und entschloss sich schließlich, nicht dazu zu stoßen. Er wollte Anya jetzt nicht bedrängen, und Tarn schien sich gut um sie zu kümmern. Sie beruhigte sich langsam, und ihr Gesicht hatte wieder etwas an Farbe gewonnen.
Wie erwartet versorgte Tarn auch Anyas Wunde. Sie unterhielten sich dabei, und jede Minute schien Anya sich mehr zu entspannen. Warum auch nicht? Valion wusste selbst, wie viel Ruhe ihm Tarns Gegenwart immer gegeben hatte. Schließlich lächelte Anya wieder, lachte wegen etwas, das Tarn zu ihr gesagt hatte. Anscheinend zog sie ihn sogar ein wenig auf. Tarn ließ es zu, schmunzelte. Ein ungewohnter Anblick. Sein Lächeln stand ihm gut zu Gesicht, ließ ihn jünger und weniger müde wirken. Er schien sich in Anyas Nähe sichtlich wohl zu fühlen. Wenn Valion Anya richtig einschätzte, beruhte das auf Gegenseitigkeit.
Sie passen gut zusammen, dachte Valion plötzlich, und diese Erkenntnis versetzte ihm einen unerwarteten Stich. Mehr noch, sie waren so vertraut miteinander, dass er sich fragte, ob er etwas Entscheidendes übersehen hatte. Aber selbst wenn nicht, wer sagte, dass sie nicht Interesse aneinander entwickeln würden? Der Gedanke war schrecklich plausibel. Warum sollte ausgerechnet Tarn unbeeindruckt von Anyas Schönheit sein? Und warum sollte Anya sich nicht von Tarn angezogen fühlen, wenn er so fürsorglich zu ihr war?
Woher kam dieses dumpfe Unbehagen? Valion konnte es sich nicht erklären, aber er hatte sich lange nicht mehr so unbeholfen gefühlt. Warum hatte er so wenig mit ihnen gemein?
Valion dachte an seine Freunde zu Hause, vor allem an Teron, der bei seinem Vater Schmieden lernte und schon immer älter als er ausgesehen hatte, größer und kräftiger. Aber selbst er hätte neben Tarn jung gewirkt, irgendwie kindlich. Alles an Tarn, die Gestik, die sichere Haltung, unterschied ihn von den Jungen in Valions Alter. Und Anya behandelte ihn nicht wie ein Kind. Sie war zu Valion nicht wirklich schroff, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie ihn nicht so betrachtete, wie sie Tarn betrachtete. Sie öffnete sich ihm, vertraute ihm.
Warum fühlte er sich jetzt so unterlegen? Er war hin und her gerissen. Einerseits wollte er sich zu ihnen gesellen, ein Teil ihres Gesprächs sein. Andererseits wollte er sie auseinanderbringen, ihre Aufmerksamkeit füreinander durchbrechen. Warum hatte er sich so kindisch versteckt? Jetzt stand er abseits, und kam sich wie ein riesengroßer Trottel vor. Und das Schlimmste war: Er war zu stolz, jetzt noch zu ihnen zu stoßen. Oder vielleicht war es nur Trotz, so wie Anya es ihm immer unterstellte.
Dann, ganz unvermittelt, hatten die beiden ihr Gespräch beendet, umarmten einander kurz. Valion hatte noch nie gesehen, dass Tarn irgendjemand umarmt hatte. Das bestätigte seinen Verdacht nur. Im nächsten Moment ging er hastig in Deckung, denn Tarn hatte nicht den Weg zu Eraviers Wagen eingeschlagen. Stattdessen steuerte er genau auf Valion zu. Würde er ihn jetzt zur Rede stellen?
Seine Schritte näherten sich immer weiter, doch dann hielten sie inne. Warteten, so lange, dass Valion fast versucht war, aus seinem Versteck zu kommen.
„Ich weiß, dass du nicht mit mir reden willst, Valion“, sagte Tarn schließlich. Er klang nicht wütend oder anklagend. Nur erschöpft, und ein wenig traurig. „Es tut mir leid, was passiert ist. Ich weiß, das es dir schwer fallen muss, mir jetzt noch zu vertrauen. Ich erwarte auch nicht, dass du mir verzeihst. Aber wenn du Hilfe brauchst, oder einfach nur reden willst, werde ich da sein. Egal, wie du entscheidest, ich werde es dir nicht nachtragen.“
Er hielt kurz inne, fügte dann hinzu: „Und vielleicht kannst du mich wissen lassen, wie es deiner Schulter geht. Ich würde ungern sehen, dass du Probleme bekommst. Im Notfall kann ich auch Anya beibringen, wie sie dich versorgen kann, falls dir das lieber ist. Denk einfach mal darüber nach.“
Er wartete ab, ob Valion sich dazu durchringen würde, mit ihm zu sprechen. Erst als nichts geschah machte er kehrt, und seine Schritte entfernten sich.
Valion sah ihm nicht nach, weil er wusste, dass Tarn sich nicht nach ihm umsehen würde. Er hatte doch selbst gesagt, dass er seinen Wunsch respektierte, nicht mit Tarn zu sprechen. Das hätte Valion beruhigen müssen, aber stattdessen fühlte er sich nur schlecht. Schäbig, dickköpfig, kindisch. Wozu hielt er seinen Groll aufrecht, wenn er nicht einmal wusste, worauf er wirklich wütend war? Einen Schachzug, der ihm und Jan letztendlich das Leben gerettet hatte? Ihnen letztendlich sogar Freiheit versprechen würde?
Wenn er Jan vergeben konnte, dass er ihn getäuscht hatte, in so vielen Dingen, warum nicht Tarn? Wogen seine Lügen mehr als Jans? Die Antwort aus seinem Inneren war: Ja. Das verwirrte ihn mehr als alles andere. Vielleicht war der Grund, dass er Tarn von Anfang an mehr als jedem anderen vertraut hatte. Er war sein einziger Anhaltspunkt gewesen, ein Funken Verbundenheit und Halt, als er ihn am nötigsten brauchte. Ein Versprechen auf Sicherheit.
Ich weiß, du magst ihn. Versprich mir, dass du dich von ihm fernhältst.
Er hatte es nicht versprochen, und er gestand sich ein, warum: Weil er im tiefsten Inneren nicht glauben konnte, dass die Rebellion recht hatte und Tarn gefährlich für sie war. Er konnte dieses Gefühl nicht begründen, aber nichtsdestotrotz war es da.
Es gab wohl nur ein Mittel gegen seine widerstreitenden Gefühle: Er musste Klarheit schaffen, herausfinden, was wirklich passiert war. Das konnte er nur, wenn er beiden Seiten zuhörte, und zwar nicht nur durch Hörensagen und Andeutungen. Er würde mit Tarn sprechen, und mit den Rebellen, sobald er Kontakt zu ihnen fand.
Seine Grübeleien wurden unterbrochen, als Anya neben ihm auftauchte. Zwei Wachen in ihrem Rücken blickten grimmig auf sie und Valion herunter, aber Anya flötete nur: „Ich sagte doch, dass er sich nur ein wenig ausruht. Warum seid ihr nur immer so misstrauisch?“
„Es ist euch nicht erlaubt, euch zu entfernen“, knurrte einer der beiden, „Los, kommt. Wir bringen euch zurück.“
Ihr Rückweg verlief lange schweigend. Valion betrachtete Anya von der Seite, denn der Schnitt auf ihrer Wange lenkte seine Aufmerksamkeit immer wieder auf sich. Er war nicht breit, aber er sah tief aus und musste ihr Schmerzen bereiten. Dennoch war sie seltsam heiter, fast gelassen.
„Geht es dir besser?“, flüsterte er ihr schließlich zu, und sie lächelte schmal.
„Ja, ist schon in Ordnung.“
„Was ist passiert?“
„Nichts besonderes.“ Sie sah Valions ungläubigen Blick und zuckte mit den Achseln. „Er wollte mir Angst einjagen, aber das hat er nicht geschafft. Sorg‘ dich nicht darum. Was dich angeht, ist alles in Ordnung, Eravier ist immer noch vernarrt in dich.“
„Das ist nicht komisch“, murrte Valion, aber Anyas Lächeln erstarb.
„Ich wünschte, ich würde scherzen“, sagte sie. Dann erhielt sie einen groben Stoß, und hielt wohlweislich den Mund.
Erst, als sie wieder zurück in ihrem Quartier angelangt waren, setzten sie ihr Gespräch fort. Kaum angekettet, hatte Valion als erstes sein Gesicht gewaschen. Er rechtfertigte sich innerlich damit, dass das Puder sich fremd anfühlte, trocken und irgendwie maskenhaft. Aber da gab es auch noch die Tatsache, dass Eravier ihn am Kinn gegriffen hatte, und er fühlte sich dreckig.
Anya wiederum hatte angekündigt, etwas lesen zu wollen, und sich mit einem Buch niedergelassen. Doch plötzlich stand sie wieder neben ihm und schüttelte den Kopf.
„So schnell ist der Zauber vorbei. Für etwa eine Stunde warst du wirklich sehr adrett, aber anscheinend sträubt sich dein ganzes Wesen dagegen“, sagte sie und strich durch sein zerzaustes Haar. Das schien ihre neue Lieblingsbeschäftigung zu sein.
„Hm“, brummte Valion, aber er hörte nur halb hin.
„Worüber zerbrichst du dir denn jetzt schon wieder den Kopf?“
Wie sollte er das nur erklären? Valion starrte in die Waschschüssel und fragte sich, wie er an Tarn heran kommen würde, und wie lange es bis zum Angriff der Rebellion dauern würde. Würde er Anya bis dahin beschützen müssen vor Eravier? Und wie zum Teufel würde er das anstellen? Was würde überhaupt mit ihr passieren, wenn die Rebellen angriffen? Oder mit Jadzia? Aber Anya hatte angeblich eine Abmachung mit der Rebellion. Würde ihr das nützen? Und er musste immer noch herausfinden, warum die Rebellen nicht gut auf Tarn zu sprechen waren. Anya hatte gesagt, sie wüsste nicht, wie sie die Rebellion rufen sollte, wie würde er diese also dann kontaktieren? Andererseits hatte Jan versprochen, dass die Rebellen sich bei ihm melden würden, wenn sie das nächste Mal rasteten. Wann würde das sein?
Er hatte wieder einmal so viele ungelöste Fragen und Probleme, dass ihm fast der Kopf davon platzte. Und er hatte keine Ahnung, wie er diesen Wust von Gedanken erklären sollte.
„Dinge“, sagte er, gleichzeitig hilflos und genervt. Dummerweise bewirkte er damit das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte: Er machte Anya neugieriger.
„Sorgst du dich wegen Eravier?“
„Auch“, antwortete er seufzend und wandte sich Anya zu, studierte den Schnitt in ihrem Gesicht. „Hat er das schon mal getan?“
„Nein, das war das erste Mal. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Wir sind uns einig gewesen, dass wir uns in Zukunft aus dem Weg gehen sollten.“ Sie lächelte, aber diesmal lächelten ihre Augen nicht mit. Valion glaubte nicht, dass sie Angst hatte; sie schien viel mehr wütend. Und genau deshalb hatte er selbst Angst, um sie.
„Wäre ich noch da gewesen-“, sagte er, doch Anya schnitt ihm das Wort ab.
„-hättest du überhaupt nichts ausrichten können. Er hätte dich vielleicht noch übler zugerichtet. Glaub mir, es geht mir gut. Tarn hat mich versorgt, und in ein paar Tagen wird alles verheilt sein.“
„Aber-“
„Nichts aber“, sagte sie schroff, „Vergiss es!
Aber wenn wir gerade von Tarn sprechen, du hättest ruhig mit ihm reden können. Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber es kann nicht so schlimm sein, dass du dich vor ihm verstecken musst! Er ist besorgt um dich.“
Hatte sie das Gespräch ausgerechnet auf Tarn bringen müssen? Valion hatte immer noch nicht verkraftet, wie unerwartet nahe sie ihm stand. „Du musst es ja wissen“, murrte er und wandte sich ab. Er trabte zu seinem Lager und ließ sich darauf sinken, streckte sich aus.
Das war allerdings sein zweiter Fehler gewesen: Er hätte nicht eine derartig vage Antwort geben sollen.
Natürlich folgte Anya ihm, stemmte die Hände in die Hüften und fragte: „Moment mal! Was soll das bitte bedeuten?“
Valion seufzte abgrundtief. „Ihr habt euch anscheinend gut verstanden.“
„Ja, natürlich“, erwiderte Anya. „Er ist ein guter Gesprächspartner, und wir haben tatsächlich einige Gemeinsamkeiten. Wir brauchten beide ein wenig Aufmunterung.“
„Wen willst du denn noch alles aufmuntern? Wird dir das nicht langsam zu viel?“, ätzte Valion zurück, und endlich verstand Anya.
„Du denkst doch nicht etwa-!“ Sie sah ihn an, als könnte sie gar nicht glauben, was sie da hörte. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Diesmal lachte sie ihn wirklich aus, und das kratzte gehörig an seinem Stolz.
„Das ist nicht komisch!“, sagte er, aber Anya schüttelte nur den Kopf.
„Oh doch, Herzchen, das ist es! Und wie! Es gibt zwar mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können, aber ich und Tarn? Das gehört ganz gewiss nicht dazu!“
„Wieso?“
Sie schüttelte immer noch den Kopf, und schenkte ihm wieder diesen Blick. Sie wusste etwas, und sie konnte nicht glauben, dass er selbst nicht darauf gekommen war. Das machte ihn rasend.
„Was?!“, knurrte er, und endlich gab sie ihm eine brauchbare Antwort.
„Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ausgerechnet du derartig begriffsstutzig bist. Um Himmels Willen, seit ich dich kenne, habe ich dich nur mit jungen Männern zusammen gesehen! Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Tarn vielleicht gar kein Interesse an Frauen hat?“
Valion wollte reflexhaft etwas erwidern, aber stattdessen setzte jeder Gedanke aus, verdrängt von der fundamentalen Erkenntnis, die er gerade gewonnen hatte. Sie traf ihn mit der Wucht eines Hammers.
Wie naiv war er eigentlich? Wie hatte er das übersehen können? Warum hatte er, von allen Menschen, ausgerechnet bei Tarn als letztes daran gedacht?
Sein Herz schlug plötzlich schneller, so schnell, dass er glaubte, es müsste reißen, und seine Kehle fühlte sich eng an. Er konnte fühlen, wie das Blut in seine Wangen stieg und er tiefrot wurde, ein Vorgang, der Anya halb zu amüsieren und halb zu besorgen schien.
„Brauchst du Wasser?“, fragte sie fürsorglich, aber ihre Mundwinkel zuckten. Sie lachte innerlich.
„Es geht schon“, antwortete er unwirsch. Aber das war eine dreiste Lüge. Er dachte an die vielen Momente, in denen er Tarn völlig unverhohlen gemustert hatte. In denen Tarn ihn berührt hatte, um seine Verletzungen zu versorgen, um ihm Trost zu spenden. Ihre Gespräche, die so persönlich waren. Alles in der Vorstellung, dass er Tarn damit nicht zu nahe gekommen war.
Plötzlich stellte er sich selbst infrage, er schämte sich, und obendrein war er noch verwirrt.
Im nächsten Moment zuckte er zusammen, weil etwas kaltes sein Gesicht berührte. Er blickte auf zu Anya, die ihm ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch, charmant wie üblich, auf die Stirn geklatscht hatte.
„Da. Und jetzt reg dich nicht auf“, sagte sie, immer noch schmunzelnd. „Tarn hat sich um dich gekümmert, weil er es für das Richtige hielt, nicht, weil er sich dir aufdrängen wollte. Das solltest du nicht vergessen.“
Du verstehst das nicht, wollte er sagen, aber die Wahrheit war, dass er es selbst nicht verstand. Warum war es ihm so wichtig? War es überhaupt wichtig? Er wusste es nicht. Er ließ sich wieder zurück sinken, und eine Weile lang starrte er nur an die Decke, grübelnd.
Anya ließ ihn in Frieden, las in Ruhe in einem Buch, bis Valion sie wieder ansprach.
„Anya? Kannst du dir meine Schulter ansehen?“
„Deine Brandmarkung?“, fragte sie und klappte das Buch zu, einen Finger zwischen den Seiten.
„Ja. Tarn möchte- ich meine, er hat danach gefragt, wie sie aussieht. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe ... er wird wohl Bescheid wissen wollen.“
„Natürlich. Ihr könnt euer Gespräch ja darüber beginnen“, sagte sie sanft, aber das Zucken in ihren Mundwinkeln war zurück. Sie wusste sehr gut, dass sie über noch ganz andere Dinge sprechen würden. Vielleicht über das, was sie gemeinsam hatten.
„Lach nicht“, sagte er, aber sie schüttelte nur den Kopf.
„Tut mir leid, aber das ist zu viel verlangt. Du bist und bleibst ein Kindskopf.“
Sie sah ihn an, ein schiefes Lächeln auf den Lippen. In diesem Moment erinnerte sie ihn unheimlich an seine Mutter. Mutig, klug, und ein wenig gefährlich. Aber voller Liebe zu ihm. Sie zog ihn auf, aber sie meinte es nicht böse, und sie verurteilte ihn nicht. Er vertraute ihr, das spürte er. Sie hatte ihm nie das Gefühl gegeben, dass etwas grundsätzlich nicht mit ihm in Ordnung war. Oder dass er die Dinge, die ihn noch zurück hielten, unveränderlich waren. Mit einem Mal war er froh darüber, dass Anya ihn manchmal herausforderte. Sie wusste, dass er damit fertig wurde. Und er musste sie nicht belügen, um vor ihr gut dazustehen. Das war überhaupt nicht nötig. Die Vorstellung war seltsam befreiend. Irgendwann würde er ihr alles erzählen, im richtigen Moment. Er freute sich fast darauf.
„Ja. Vielleicht“, sagte er, und fügte stumm, nur für sich, hinzu: Aber kein Lügner.