Sie warteten so lange wie möglich, um den Schutz der Dämmerung zu nutzen. Der Wind flaute ab, es wurde kühler. Leise und geisterhaft begann Nebel vom nahen Fluss zu ihnen herüber zu ziehen, dämpfte die Geräusche und verbarg die Welt hinter einem weißen Schleier.
Die Wächter durchkämmten das Waldstück, aber sie waren zu wenige um das Gebiet effektiv durchsuchen zu können, und nicht nur der Nebel, sondern auch das unebene Gelände behinderten sie zusätzlich. So gelang es Valion und Jan im Schutz der dichten Vegetation, von einer Senke in die nächste zu hasten. Sie verbargen sich hinter Baumstämmen und im Gewirr der Äste, verschwanden im Nebel und kreuzten die Wege der Wächter manchmal nur in wenigen Metern Entfernung, doch gleichzeitig stifteten sie so eine Menge Verwirrung. Valion behielt die Orientierung, Jan die Geräusche des Waldes im Ohr, und gemeinsam gelang es ihnen, sich in einem großen Bogen immer weiter in Richtung des Flusses zu bewegen. Die Wächter schafften es weder sie einzukesseln, noch behielt einer von ihnen die Fährte der Jungen lange genug, als dass er sie hätte einholen können.
Das Gelände wurde in der Nähe des Flusses abschüssiger und auch steiniger, was ihrer Deckung zu Gute kam. Die riesigen, manchmal völlig unter Moos erstickten Findlinge waren als kurzzeitiges Versteck ideal und zusammen mit dem nahen Geräusch des Flusses ein guter Orientierungspunkt.
Valion vermutete, dass sie schon zwei Drittel des Weges geschafft hatten, als Jan plötzlich inne hielt und lauschte. Valion drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an. „Jemand folgt uns”, flüsterte Jan ihm zu, „Einer. Schlank, vermutlich kein Wächter.”
Valions Herz krampfte sich zusammen, und er erinnerte sich an den Atem in seinem Nacken. Nein, es war überhaupt nicht bewiesen, dass die Person, die sie verfolgte der unbekannte Spion war. Aber es war auch nicht unmöglich. Die Furcht, die ihn schon die ganze Zeit rastlos weiter trieb, wurde noch stärker, und er konnte sich kaum zwingen für diesen Moment still zu stehen.
„Weiter?”, fragte er, und Jan nickte, deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Ansammlung von Totholz am Fuß einer Senke. Diesen Trick hatten sie in der letzten Stunde schon zweimal an unterschiedlichen Stellen angewandt. Es war ein Risiko, da sie durch den Lärm den sie machten ihre Position verrieten, aber gleichzeitig auch eine gute Strategie, um ihre Verfolger zu verlangsamen, denn die waren so davon überzeugt, sie durch das Gewirr aus Stämmen und toten Ästen erwischen zu können, dass sie ihnen bisher immer blindlinks gefolgt waren. Das Krachen des morschen, verottenden Holzes unter ihren Füßen und die ständige Gefahr zu stürzen hatte sie aber so eingeschüchtert, dass sie ihre Schritte von selbst verlangsamten, während Valion und Jan leichtfüßig weiter hasteten.
Sie versuchten das Selbe auch jetzt, doch an Jans zusammengepressten Lippen sah Valion, dass der Abstand zu ihrem Verfolger nicht größer wurde, sondern schrumpfte. Das Knacken und Knirschen der Äste hinter ihnen blieb aus. „Er ist rundherum gegangen”, fluchte Jan leise im Laufen, „er ist nicht dumm, und schnell.” Sie gingen weiter, umrundeten mit klopfendem Herzen eine Wache, die sie in der Entfernung durch den Wald stapfen sahen, änderten noch einmal die Richtung, aber auch das half nichts. Sie spürten, wie sich der Abstand zwischen ihnen und dem Anderen immer weiter verringerte.
Plötzlich bog Jan scharf ab, steuerte direkt auf einen besonders großen Findling zu und zog Valion schließlich mit sich in den Schatten des Felsen. „Wir warten hier”, sagte Jan leise. Valion sah sich um - dieser Stein war genau wie alle anderen, die in der Landschaft verstreut lagen, er bot nur aus einer Richtung Deckung, und das nur für eine begrenzte Zeit. „Er wird uns hier finden”, flüsterte Valion irritiert, aber Jan zuckte nur mit den Schultern. „Nicht, wenn wir ihn zuerst »finden«. Wir hängen ihn niemals ab, es wird Zeit für einen Gegenangriff. Wenn er hier vorbei geht und uns den Rücken zudreht, greifen wir ihn uns.” „Aber wenn er nach Hilfe ruft…?”, wandte Valion ein, doch Jan schüttelte den Kopf. „Er meidet die Wächter, wollte nicht gesehen werden. Wer auch immer er ist, er folgt uns auf eigene Faust, und ich will wissen warum.”
Valion nickte, doch gleichzeitig hatte er Bedenken. Jan war vielleicht stärker, als er zuerst gedacht hatte, aber sie waren schon zu lange unterwegs und nicht mehr voll bei Kräften. Und wenn ihr Verfolger wirklich der war, den Valion vermutete… er erinnerte sich nur zu gut daran, wie einfach und schnell er zu Boden geworfen worden war. Das war nicht das Werk von jemand gewesen, der einfach nur Glück hatte. Und was würden sie tun, wenn sie ihn tatsächlich überwältigten? Wollten sie ihn bewusstlos schlagen, fesseln? Wenn ja, womit überhaupt? Er wollte Jan danach ausfragen, aber der gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. So blieb ihm nichts anderes übrig als seinem Urteil zu vertrauen. Angespannt und stumm harrten sie aus, drückten sich gegen das feuchte Moos des Steins und lauschten.
Endlich, nach einer Ewigkeit des Wartens, hörten sie Schritte. Ihr Verfolger bewegte sich langsam, fast unsicher durch den Nebel und hielt immer wieder inne, als sähe er sich um. Wie Jan und Valion waren seine Schritte fast lautlos, und er schien ebenfalls darauf bedacht nicht gesehen zu werden, denn als er in der Ferne brechende Äste hörte, wechselte er hastig die Richtung und umrundete den Felsen auf der abgewandten Seite. Dennoch zögerte er, weiterzugehen. Ihm schien bewusst zu sein, dass er entweder ihre Fährte verloren hatte oder Jan und Valion sich vor ihm versteckten, und vielleicht erwog er, seine Suche aufzugeben.
Dreh um, flehte Valion stumm. Geh einfach. Er wollte weder mit einer besonders schlauen Wache, noch mit dem Spion konfrontiert werden, und mehr als alles andere wollte er vermeiden, dass es schon wieder zu einem Kampf kam.
Er sah zu Jan, der konzentriert lauschte, und plötzlich fiel ihm auf, dass Jans Hände nicht mehr leer waren. Er hatte sich einen großen, spitz zulaufenden Stein genommen und hielt ihn bereit. Valion machte eine stumme, fragende Geste in Jans Richtung, und er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke direkt, und Valion wurde eiskalt. Das war wieder der andere Jan, emotionslos, berechnend, zu allem bereit, und völlig unvermittelt musste er sich fragen, ob er sich nicht getäuscht hatte. Er hatte gedacht, diese andere Seite an Jan wäre nur Schauspiel gewesen, aber war es wirklich so? Was bewies die Tatsache, dass er die Hand nur gegen Eravier erhoben hatte?
Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Die Schritte bewegten sich wieder in ihre Richtung, Jan wandte sich von Valion ab und drängte ihn rückwärts gehend hinter sich, die provisorische Waffe gehoben. Ihr Verfolger kam endlich in Sicht.
Er war schlank und groß - größer als der Spion, stellte Valion erleichtert fest, aber gleichzeitig warf das natürlich nur noch mehr Rätsel auf. Ihr Verfolger bewegte sich mit bedachten Schritten über den Waldboden und achtete darauf, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen und kein Geräusch zu machen. Das meiste seiner Gestalt wurde von einem Kapuzenumhang verdeckt, der für einen viel breiteren Mann gemacht zu sein schien, so locker und unförmig hing er an ihm. Der Stoff war abgetragen und fleckig, und einzelne Heuhalme klebten daran. Eine vage, kaum greifbare Ahnung beschlich Valion, aber er konnte sie nicht mehr zuordnen, dazu fehlte die Zeit. Ihr Verfolger drehte ihnen nur für den Bruchteil einer Sekunde den Rücken zu, bevor er den Kopf wandte um sich umzusehen. Jan wartete nicht ab, bis sie in sein Blickfeld gerieten, allein die Andeutung der Kopfneigung ließ ihn vorspringen, und er zielte mit dem Stein direkt in die Nierengegend.
Doch die Reflexe ihres Verfolgers waren nicht weniger gut als die von Jan. Statt sich vollends umzudrehen nahm er die Bewegung hinter sich gerade noch rechtzeitig wahr und machte einen Satz nach vorn, sodass Jans Hieb ihn nur streifte. Jan selbst kam ins Straucheln, stolperte auf den Fremden zu, der sich inzwischen geschickt umwandte, und er fing sich von ihm eine Ohrfeige ein, die ihn sofort einen Schritt zurückwarf. Doch bevor Jan wutentbrannt zum Gegenangriff übergehen konnte, warf der Fremde seine Kapuze ab, unter der rabenschwarze Locken und ein besorgtes Gesicht zum Vorschein kamen, und hob beschwichtigend die Hand. „He, langsam, langsam! Es gibt keinen Grund sich zu schlagen, ich bin harmlos!”
Valion erkannte das Gesicht und die Stimme sofort, und endlich verstand er, warum der Mantel seinen Verdacht geweckt hatte: das Stroh darauf, der weite, fast unförmige Schnitt, der einen Klotz von Mann verbergen konnte, dieser Mantel konnte nur Jefrem gehören. „Marceus”, sagte er erstaunt. „Wie kommst du hierher?” Marceus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schüttelte er nur den Kopf. „Das würde jetzt wirklich zu lange dauern. Aber ich denke du weißt, wer mich schickt.” „Tarn?”, fragte Valion, aber er kannte die Antwort schon, und plötzlich überkam ihn Erleichterung.
Es war fast unmerklich gewesen, aber im hintersten Winkel seines Verstandes hatte die ganze Zeit die Angst gelauert, dass er sich mit seiner Flucht von Tarn losgesagt hatte und nicht mehr mit ihm rechnen konnte. Er hatte jeden seiner Ratschläge mit Füßen getreten, alle seine Warnungen ignoriert, und trotzdem sendete er ihm einen dringend benötigten Verbündeten. „Was hat Tarn geplant? Wo ist er jetzt?”, fragte Valion.
Tarn harrte in Stille aus. Er lehnte an einem Baumstamm und hatte die Augen geöffnet, aber seine gesamte Konzentration lag bei den Geräuschen rings um ihn. Wenn er alles andere ausschaltete und nur lauschte, dann konnte er die Wächter wahrnehmen, weit entfernt. Er verfolgte ihre Schritte, ihre unregelmäßigen Wege durch den Wald, während der Wind im Hintergrund rauschte und den Nebel in Fetzen an ihm vorbei trieb.
Er hatte sich nicht zu weit von dem Treffpunkt fort bewegt, den er mit Marceus vereinbart hatte, denn wenn er die Jungen verpasste, stieg die Chance, dass sie gefasst wurden während sie warteten. Doch noch waren sie außerhalb seiner Reichweite, also umrundete er die Lichtung ein weiteres Mal, konzentriert lauschend.
Ein Nachteil der Stille und der Reglosigkeit war, dass die Gedanken zurückkehrten. Er hatte jetzt viel Zeit, über alles nachzudenken, was er in den letzten Stunden getan hatte. Er durchlief seine Erinnerungen immer wieder, von dem Moment an, als Eravier Jan die entscheidende Frage nach seiner Loyalität gestellt hatte. Er suchte nach Fehlern in seinem Verhalten, und davon fand er viele. Aber gleichzeitig schien es, als wäre jede Alternative, jede andere Reaktion zu seinen Ungunsten ausgefallen. Er fragte sich, ob es etwas gegeben hatte, dass er hätte ändern können. Hätte er an irgendeinem Punkt Valions Flucht verhindern können? Hätte er Jan töten sollen? Eravier aufhalten können? Er wusste es nicht, und deshalb ließ es ihm keine Ruhe.
Er begann erneut, durchlief seine Erinnerung vom ersten Moment an. Eraviers Frage, die ihn völlig aus der Fassung gebracht hatte…
~
„Was kannst du mir über Loyalität berichten, Jan? Hast du etwas dazu zu sagen?”
Tarn versteifte sich, als er diese Worte hörte. Das war nicht Teil des normalen Prozedere, Eravier schien es stattdessen wirklich darauf anzulegen, Jan ganz offen auf seinen Spionageauftrag anzusprechen. Aber wozu? Es passte nicht zu ihm, einen Plan, den er erst vor so kurzer Zeit gefasst hatte, offen zu legen. Selbst ihm musste klar sein, dass er Jan damit preisgab, es sei denn… es sei denn er war der festen Überzeugung, dass Jan bereits alles wusste, was er in Erfahrung bringen sollte.
Er forschte in Eraviers Gesicht nach der Antwort, und was er sah gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Lächeln war selbstsicher - er wusste etwas, oder glaubte etwas zu wissen. Tarns Herzschlag beschleunigte sich. Hatte Jan tatsächlich in nicht einmal einem Tag alles aus Valion heraus geholt, was er wissen wollte? Vielleicht ja - er gestand sich ein, dass er Jan maßlos unterschätzt hatte. Bis vor kurzem hatte er schließlich noch angenommen, Valions Beziehung zu Jan basiere nur auf Freundschaft. Eravier hatte Recht gehabt, er war tatsächlich ein idealer Spion.
Und doch hoffte er bis zur letzten Sekunde, dass Eravier sich geirrt hatte, dass Jans Loyalität seinem neuen Freund galt. Bis Jan stumm lächelte und nickte, und alle Albträume und Vorahnungen der letzten Jahre mit einem Schlag Wirklichkeit wurden.
Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, und war sich fast sicher, dass er äußerlich gefasst oder sogar desinteressiert wirkte, obwohl alles in ihm danach schrie, sofort zu handeln. Was würde er tun, wenn Namen fielen? Wenn sein eigener Name fiel? Er wusste, dass Eravier ihm mehr vertraute als den meisten Dienern und Sklaven, aber selbst das würde keine Rolle mehr spielen, wenn man ihm seine Beteiligung an der Rebellion nachwies. Also war seine einzige Chance, Jan zum Schweigen zu bringen, bevor er zu viel sagen konnte. Doch wie?
Er hätte sich eines der Rasiermesser greifen, zu Jan gehen und mit einem einzigen sauberen Schnitt seine Kehle durchtrennen können, und fast bedauerte er, dass er das nicht schon früher getan hatte, als er noch die Gelegenheit hatte. Aber was hätte das in dieser Situation noch genützt? Jetzt hätte er nur eine billige Rache bekommen und gleichzeitig ein Schuldeingeständnis geliefert, und er hätte damit weder sich noch Valion gerettet. Er war sich absolut bewusst, dass der Platz immer noch von Wächtern umstellt war, jeder mit einer Schusswaffe in den Händen. Er war selbst dabei gewesen als Eravier die Wächter instruiert hatte, jeden zu erschießen, der sich verdächtig verhielt oder den Versuch machte zu fliehen. Wenn er jetzt eingriff, unterschrieb er sein eigenes Todesurteil.
Er sah sich um, in der vagen Hoffnung etwas übersehen zu haben, einen Ausweg, den er nicht als solchen erkannt hatte, doch sein Blick blieb nur ungewollt an Valion hängen.
Der Junge sah aus, als wäre er kurz davor in Tränen auszubrechen, und ohne dass er es wollte, befiel Tarn sofort Mitleid. Valion hatte die Fäuste so fest geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten, und er starrte Jan voller Fassungslosigkeit und Schmerz an. Vielleicht machte er sich genau in diesem Moment schwere Vorwürfe, dass er Jan so schnell und so unbedarft an sich heran gelassen hatte. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, dass er zum ersten Mal mit jemand geschlafen hatte, und statt Verbundenheit hatte er nur Enttäuschung und Verrat erfahren.
Es war nicht gerecht, aber genau deshalb hatte er Valion doch gewarnt - um ihn vor diesem entscheidenden Moment zu schützen. Was hatte er falsch gemacht? War er wirklich nicht deutlich genug gewesen? Oder hätte er tatsächlich den einen, entscheidenden Schritt weiter gehen müssen und Valion erklären sollen, dass es unter Sklaven normal war Intimität auszuleben, ohne dass romantische Gefühle oder Vertrauen eine Rolle dafür spielten?
Aber es spielte keine Rolle mehr, diese Verletzung ließ sich nicht rückgängig machen. Es war eine eigene Form der Brandmarkung, eine der vielen, die ihm sein neues Leben noch zufügen würde.
Doch darüber durfte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Tarn zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf Jan zu richten, der von Eravier zu ihm geführt wurde, und plötzlich stand im klar vor Augen, wie er Jan töten konnte, wenn ihm nur genug Zeit blieb. Er wünschte es wäre ein neutraler Gedanke gewesen, der sich nur darum drehte, seine eigene Haut zu retten. Doch die Kehrseite seines Mitleids für Valion war Zorn - der Gedanke, Jan für das zu bestrafen, was er Valion angetan hatte, erfüllte ihn mit bitterer Genugtuung. Jan hatte seine Brandmarkung noch nicht erhalten, und er war sich fast sicher, dass Eravier darauf bestehen würde, und diesmal würde er Tarn die Ausführung überlassen. Wenn er geschickt vorging, würde er Jan direkt in die Bewusstlosigkeit und danach in den Tod schicken. Selbst wenn jemand versuchte ihn aufzuhalten war die Chance hoch, dass Jan innerhalb von Stunden sterben würde.
Tarn versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass es ein verdientes Ende war, dass einem Verräter nichts anderes zustand, und doch, unter dem Zorn und der Angst vor seiner eigenen Enttarnung spürte er Zweifel.
Es war früher so einfach gewesen zu töten, so unkompliziert, und nun, nach all den Jahren, brachte er es kaum noch fertig. Jan war ein bleicher, magerer Junge mit eingefallenen Wangen, noch halb ein Kind. Er hustete wieder, keuchend und unkontrolliert, also war es gut möglich, dass ihm nicht einmal mehr genug Zeit blieb, von seinem Verrat zu profitieren. Vielleicht stellte er jetzt, in diesem Moment, sein eigenes Überleben über alles andere, aber würde das immer so sein?
„Machen wir es kurz, mir scheint, du brauchst noch etwas Ruhe”, sagte Eravier, und Tarn schauderte, als er den vertraulichen Tonfall hörte. War das wirklich einer der seltenen Augenblicke, in denen Eravier echte Zuneigung zeigte? „Ich schaffe das schon”, widersprach Jan unwillig, „immerhin habe ich ja noch gar nichts erzählt. Und ich will das wirklich loswerden, um endlich mit dieser ganzen Scharade abzuschließen.” „Na gut, mein junger Freund”, stimmte Eravier zu, „aber ich denke, wir können zumindest deine Brandmarkung um ein paar Tage verschieben.”
Tarn fluchte innerlich. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet, aber wenn es beschlossene Sache war, würde er Eravier nicht mehr umstimmen. Damit war sein Plan zunichte gemacht, und er hatte keinen weiteren.
Langsam, unauffällig trat er einen Schritt vor, und griff nun doch nach einem der Rasiermesser auf dem Tisch. Dann eben doch auf diese Art, er hatte jetzt keine Wahl mehr. Eravier wandte sich zu ihm um, um ihm den Wink zu geben, sich zu entfernen, und er schloss die Hand um das Messer. Es würde in einem Moment vorbei sein. Vielleicht fing er sich innerhalb von Sekunden nach seiner Tat eine Kugel, und wäre das nicht gerecht gewesen…?
Doch Jan war schneller als er, und rettete damit vermutlich sowohl sein eigenes, als auch Tarns Leben. In dem Moment, als Eravier ihm den Befehl geben wollte, wurde er plötzlich zurück gerissen. Für einen Sekundenbruchteil konnte Tarn die Überraschung in seinen Augen sehen, dann zerrte Jan Eravier zu sich und setzte etwas spitzes, glänzendes an seine Kehle. Tarn konnte nicht erkennen, ob es ein Messer oder eine andere Art von Waffe war, aber es war auch gleichgültig, weil in diesem Moment sein Verstand aussetzte und seine alten Instinkte das Handeln übernahmen.
Es kam kein Laut über seine Lippen, und es gab in diesem Moment keine Gedanken. Es bedurfte keiner bewussten Handlung das Rasiermesser aufzuklappen, über den Tisch zu springen, und in diesem Moment hätte er nicht gezögert, Jan das Messer in den Bauch zu rammen und ihn an Ort und Stelle verbluten zu lassen. Kein Bedauern, kein Zweifel drang zu ihm durch, sein einziger Gedanke galt Eravier und seiner Pflicht, ihn zu verteidigen.
Doch bevor er sich auch nur näher als fünf Schritte auf Jan zu bewegt hatte, sah der sich drohend um und fixierte nicht nur ihn, sondern der Reihe nach auch die anderen Wächter und schrie ihnen zu: „Nur eine falsche Bewegung, und das letzte, was ihr von ihm hören werdet, ist ein ziemlich hässliches Gurgeln!” Im letzten Moment hielt Tarn sich zurück, bezähmte das panische, von Instinkt getriebene Tier in sich, und hasste gleichzeitig, dass es notwendig war. Nach all den Jahren hätte ihn Eraviers möglicher Tod kalt lassen müssen, doch so war es nicht. Er sah das Blut, sah die Angst in Eraviers Augen, selbst jetzt fast völlig maskiert und nur für ihn zugänglich. Tu etwas, sagte der Blick. Irgendetwas.
Er musste sich zwingen zurück zu treten, wobei er den Blick auf Jan gerichtet ließ, doch der hatte Anderes zu tun als sich mit ihm auseinanderzusetzen. Er zerrte Eravier in Richtung des Waldes, und Tarn begriff sofort, dass er vorhatte sein Heil in der Flucht zu suchen. Eravier bemerkte es im selben Moment und kämpfte dagegen an, weiter gezerrt zu werden, aber ein Tritt in den Knöchel hielt ihn sofort davon ab. Und wieder sah er Tarn an, bevor sein Blick unweigerlich zu der Waffe an seinem Hals glitt, zurück zu ihm.
Hilf mir endlich!
Tarn machte zwei weitere Schritte rückwärts und schloss so zu der Linie der Wächter auf, die mit gehobenen Waffen versuchten Jan einzukreisen. Aber sie waren unkoordiniert und zögerten zu sehr. Sie hatten diese Sitation nicht vorhergesehen, und keiner wagte zu schießen, solange Eravier in Jans Gewalt war. Nun, es gab jemand, der diesbezüglich wesentlich weniger Skrupel hatte. Tarn streckte die Hand aus und bekam kommentarlos die Waffe des Wächters der ihm am nächsten stand ausgehändigt. Eiskalte Ruhe befiel ihn, als er anlegte und zielte. Er brauchte nur einen geeigneten Moment. Nur den richtigen Augenblick, um…
Verdammt.
Er beobachtete wie Jan Valion zu sich winkte und ihm bedeutete mitzukommen, und Tarn schüttelte stumm den Kopf. Er flehte, dass Valion nur dieses eine Mal, um seiner Selbst willen, auf seinen Verstand hören würde statt auf sein Herz. Wenn er jetzt ging, dann war ihm Eraviers Rache sicher, egal ob er entkam oder bei dem Versuch gefasst wurde. Jan bot ihm für einen Moment das Gefühl, dass er bei ihm sicher war, dass sie es gemeinsam schaffen konnten. Es war eine süße Lüge, deren Bitternis sie einholen würde, bevor der Tag endete. Doch trotzdem akzeptierte Valion sie bereitwillig. Er ging auf Jan zu, stellte sich an seine Seite und sah den Wächtern entgegen, ignorierte Tarn völlig oder blendete ihn aus.
Aber das würde er nicht zulassen. Wenn Valion das Lager verließ, dann nur unter seinen Bedingungen. Jan konnte gern Selbstmord begehen, aber bei seinem Schützling war das etwas Anderes.
Tarn konzentrierte sich wieder auf sein Ziel. Sein erster und einziger Schuss musste sitzen, besonders auf diese Entfernung. Komm schon, gib mir eine Vorlage, dachte er grimmig, und als hätte Jan seine Aufforderung gehört, stieß er Eravier von sich, sodass dieser strauchelte und auf den Knien landete. Das war mutig, gehässig und dumm zugleich, aber Tarn hatte damit endlich freies Schussfeld.
Er war bereit den Abzug zu ziehen, als Jan plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, seinen Blick fing. Valion sah Tarn nicht einmal an, aber Jan selbst war völlig bewusst, was Tarn vorhatte. Für einen Moment maßen sie sich, über die vielen Meter die sie trennten hinweg, und es war, als würde Jan ihn herausfordern. Schieß schon! Das ist deine letzte Chance, schien sein Blick zu sagen. Andernfalls werde ich ihn mitnehmen, und dann gehört er zu mir. Und darum geht es hier schließlich, oder? Und als Tarn den Abzug durchzog, verriss er den Schuss um einen halben Meter, und im nächsten Moment waren die beiden Jungen im Wald verschwunden.
Es war besser so. Zu welchem Zweck hätte er Jan aus dem Weg geräumt? Um Valion zu schützen, oder um ihn von Jan fernzuhalten, weil sie sich nahe standen? War er wirklich besorgt? Oder einfach nur maßlos eifersüchtig?
Er musste sich um das kümmern, was wichtig war. Achtlos warf er die Muskete beiseite und folgte den Wächtern, die alle gleichzeitig auf Eravier zustürmten. Wie zu erwarten schäumte der vor Wut, wartete nicht einmal ab, bis seine Untergebenen Gelegenheit hatten sich zu sammeln und brüllte ihnen zu: „Bringt sie mir beide!”
Er rappelte sich auf und sah sich wie von Dämonen besessen um. Einige der Wächter folgten seinem Befehl sofort und liefen in den Wald, während andere noch irritiert starrten. Tarn erreichte Eravier und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, aber der riss sie im gleichen Moment herunter. „Sie denken, sie könnten entkommen”, zischte er und starrte in den Wald, über den sich bereits die Dämmerung zu senken begann. Es quoll immer noch Blut aus dem Schnitt an seinem Hals, ohne dass er Notiz davon nahm, sein Haar war wirr und in seinen Augen brannte reiner Hass. In diesem Moment konnte er niemand täuschen, er sah aus wie ein gefährlicher Irrer.
Er machte einige Schritte auf den Waldrand zu, bückte sich hob etwas auf, um es mit einer Mischung aus Wut und Triumph zu betrachten. Erst jetzt erkannte Tarn, womit Eravier bedroht worden war: Eine Spiegelscherbe, so lang und vielleicht doppelt so dick wie ein Finger, die im Licht der tief stehenden Sonne aufleuchtete. Hatte Jan diese Scherbe die ganze Zeit bei sich getragen? Hatte er sie gefunden? Oder von jemand erhalten, der darauf vertraute, dass er das Richtige damit tun würde?
„Du wirst noch bereuen, dass du das hier gelassen hast, Jan”, murmelte Eravier grimmig, während er die Scherbe betrachtete. Dann steckte er sie ein, straffte sich und hatte im nächsten Moment rein äußerlich die Fassung zurück erlangt.
„Ich folge ihnen”, verkündete er den übrig gebliebenen Wächtern und erstickte den Protest mit einer Handbewegung im Keim. „Ich will keine Diskussionen hören. Jeder einzelne Mann aus dem Lager wird zum Wachdienst heran gezogen”, fuhr er sachlich fort, während er seinen Mantel auszog und achtlos zu Boden warf. Danach kramte er in einer Tasche, förderte ein Lederband zutage und band sich die wirren Haare im Nacken zusammen, bevor einem Wächter ein geladenes Gewehr aus der Hand zerrte. „Alle verfügbaren Wächter durchsuchen den Wald. Bringt sie mir lebendig, gebt es auch denen weiter, die schon unterwegs sind. Ihr könnt sie anschießen oder ihnen beide Beine brechen, aber wenn ihr sie mir tot bringt, seid ihr dran.” Trotz dieser Drohung wirkte Eravier In diesem Moment gefasster und zielstrebiger als sonst, und Tarn fragte sich unwillkürlich, woran das lag. War es die mühsam beherrschte Wut, die er unter der oberflächlichen Ruhe noch deutlich wahrnahm, oder die Abwechslung von der Eintönigkeit der letzten Tage?
„Tarn”, wandte Eravier sich an ihn, und jetzt war er es, der ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihm direkt ins Gesicht sah. Sein Blick war intensiv und voller mühsam unterdrückter Aufregung. Es war ein unheimlicher Kontrast zu seiner sonst kalten, distanzierten Art.
„Geh’ zu den Pferden. Sie wollen dorthin, aber sie werden nicht den direkten Weg nehmen. Ich lasse dir keine Wächter da, aber damit solltest du keine Probleme haben. Nimm dir Jefrem und die Knechte dazu, wenn es sein muss. Wenn sie dich erreichen, bevor ich sie einhole, weißt du was du zu tun hast.” „Ich halte sie in Schach”, antwortete Tarn sachlich, und Eravier nickte. Für einen Moment stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen, und er sagte leise: „Das lässt alte Zeiten aufleben, was?” Tarn nickte nur, denn alles was er dazu gesagt hätte, hätte ihn verraten. Ja, alte Zeiten. Damals waren sie zu viert gewesen, und es war viel Blut geflossen. Allein der Gedanke daran ließ ihn jetzt schaudern.
Dann ließ Eravier von ihm ab, gab den verbliebenen Wächtern einen Wink, und gemeinsam verschwanden sie zwischen den Bäumen. Von einem Moment auf den anderen war Tarn völlig allein. Er hätte sich gern eine Atempause gegönnt, aber gerade jetzt musste er schnell handeln.
Deshalb lief er selbst los, umrundete den Pestwagen und wäre beinahe in Karvash hinein gerannt, der mit ein paar kräftigen Knechten im Schlepptau vermutlich gerade überprüfen wollte, was der ganze Lärm zu bedeuten hatte.
„Guter Gott, Tarn! Was ist geschehen? Wir haben einen Schuss gehört!”, fragte er mit einer kultivierten Besorgnis, die in Tarn den Wunsch weckte, ihn einfach stehen zu lassen. „Zwei Sklaven sind auf der Flucht, unbewaffnet. Eravier hat Order gegeben, dass alle Diener zur Bewachung des Lagers abgestellt werden, alle übrigen Wächter sollen sich der Suche in den Wäldern anschließen. Wir brauchen sie lebend. Das ist alles”, berichtete er knapp und wollte weiter hasten, doch Karvash stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn auf.
„Was soll das heißen, »das Lager bewachen«? Nach wem sollen wir überhaupt Ausschau halten?“, fragte er, und hörte sich dabei fast an wie ein quengelndes Kind, „Und wer koordiniert alles? Wer gibt jetzt die Befehle?“ „Ich weiß nicht, vielleicht findest du einen Knecht, der diese äußerst schwere Aufgabe für dich übernimmt“, erwiderte Tarn unwirsch und schob sich an ihm vorbei. Er hatte keine Zeit und keine Geduld, Karvash mit Samthandschuhen anzufassen.
Die Männer, die sich um sie versammelt hatten lachten leise auf, und Karvashs Gesicht lief vor Wut und Scham rot an. Doch die spöttische Antwort schien ihn erst recht aufzustacheln - er eilte hinter Tarn her, wobei die Knechte wie eine Schar Küken hinter ihm aufschlossen, und forderte atemlos: „Du wirst hier bleiben und die Sicherung des Lagers überwachen! Ich werde mit einigen Männern gehen und-” „Du kannst mir nichts befehlen, Karvash”, antwortete Tarn ungerührt und setzte seinen Weg fort, durchquerte zielstrebig das Lager. Er war sich bewusst, dass er und Karvash von den Dienern angestarrt wurden, und er hoffte, dass Karvash vernünftig genug war, ihren Streit nicht direkt vor aller Augen weiter auszutragen.
Doch anscheinend hatte er Karvashs Hunger nach Anerkennung und Autorität unterschätzt, der schon die ganze Reise über in ihm zu schwelen schien und von niemand ernst genommen wurde. Sein gekränkter Stolz verbot ihm scheinbar, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und stattdessen versuchte er, mit einer dramatischen Geste seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Er überholte Tarn, stellte sich ihm in den Weg und spie wütend: „Bleib sofort stehen! Du bist nur ein Sklave, du hast den Befehlen deines Herrn zu folgen! Du bist durch dein Brandmahl der Familie Karvash verpflichtet, und nicht diesem dreckigen Ursurpator, unter dem du-”
Er kam nicht weiter, weil Tarn ihm seine Faust ins Gesicht schmetterte. Karvash schaffte es nicht einmal, den Angriff abzufangen, er fiel einfach rückwärts zu Boden wie ein Käfer. Einige der Knechte und Diener um sie herum waren so überrascht, dass sie auflachten, aber das ließen sie schnell wieder sein, als Tarn ihnen einen wütenden Blick zuwarf und sich die schmerzenden Handknöchel rieb. Er hatte völlig die Beherrschung verloren, vermutlich das Ergebnis von zu wenig Schlaf und zu vielen Sorgen, und obwohl der Schlag eine gewisse Befriedigung mit sich brachte, würde er dafür bezahlen. Er brauchte für diese Erkenntnis nicht einmal seinen Verstand einschalten, weil Karvash ihn vom Boden aus hasserfüllt anstarrte und es ihm dramatisch direkt ins Gesicht sagte: „Das wirst du noch bereuen, Sklavenjunge!” „Vermutlich”, stimmte Tarn nüchtern zu, „Aber nicht jetzt.” Damit umrundete er Karvash und verließ das Lager in Richtung des Flusses. Niemand hielt ihn auf.
Während er durch die Dämmerung hastete fragte er sich, was in dieser Nacht noch aus dem Ruder laufen würde. Eravier verletzt, Karvash voller Rachsucht, Jan und Valion auf der Flucht… es konnte kaum schlimmer werden.
Und er selbst, was sollte er nun tun? Er hatte Jan und Valion laufen lassen, aus einem Impuls heraus. Glücklicherweise war das Chaos zu groß gewesen, als dass jemand sein Versagen bemerkt oder angekreidet hätte, doch die Konsequenz daraus war, dass die Jungen nun außerhalb seiner Reichweite waren, zumindest für den Moment.
Gleichzeitig ging ihm auf, dass er nichts gewonnen hätte, wenn er Jan und Valion tatsächlich aufgehalten hätte. Sie wären in Eraviers Hände gefallen, und der hätte sie nach diesem Vorfall so lange verhört und gefoltert, bis alles was sie wussten ans Licht kam, darüber machte er sich keine Illusionen.
Was blieb also? Er durfte nicht abwarten, bis die Wächter die Jungen einholten, und gleichzeitig durfte er auch nicht zulassen, dass sie bis zu den Pferden vorstießen. Jefrem war gerissen und einer von Eraviers Günstlingen, aber selbst er konnte die beiden nicht einfach gegen die Befehle laufen lassen oder am Ende sogar mit einem Pferd versorgen. Also musste er es selbst in die Hand nehmen, die beiden im Wald aufspüren und ihnen ein Pferd überlassen, um dann vorzutäuschen sie hätten ihn überwältigt. Es war kein perfekter Plan, aber auch der Einzige, der sich in so kurzer Zeit bewerkstelligen ließ.
Der Lagerplatz der Pferdeknechte lag diesmal ein wenig weiter abseits, vielleicht dreihundert Meter vom Hauptlager entfernt. Die Sichtlinie war jedoch frei, nur Wiesen erstreckten sich zwischen den Wagen, die nahe der Straße aufgestellt waren, und dem Flusstal, wo die Pferde grasten und die Knechte bereits die meisten ihrer Zelte aufgeschlagen hatten.
Nach Einbruch der Dunkelheit gab es nur noch wenig Austausch zwischen dem Lagerplatz der Pferdeknechte und dem des restlichen Zuges, selbst den Wachdienst übernahmen die Männer hier größtenteils selbst. Sie blieben unter sich.
Hauptsächlich war das Jefrems Werk, da er es nicht mochte, wenn sich die Knechte zu viel mit den Dienern aus dem Zug herumtrieben. So geordnet die Arbeit im Hauptlager von außen auch schien, im Hintergrund spielte sich das ganz normale Leben ab, mit Liebeleien, Betrug, Streit, Alkohol und ein wenig Glücksspiel unter der Hand, und nichts davon fand Jefrems Billigung. Zudem waren er und seine Helfer gezwungen, im Einklang mit dem Tagesrhythmus der Pferde zu leben, während der Rest des Zuges gezwungenermaßen die Nacht zum Tag machte. Wer die wenigen Stunden Schlaf den die Tiere bekamen nicht selbst nutzte, war den anderen am nächsten Tag zwangsläufig eine Last, und Jefrem wollte etwas Derartiges nicht tolerieren.
Als Resultat hatten die Pferdeknechte nicht nur ihre ganz eigenen Verantwortlichkeiten und Tagesrhythmen, sondern auch ihre eigenen Interessen und ihren eigenen Klatsch. Sie standen sich untereinander näher als die anderen Diener und schotteten sich gleichzeitig nach außen ab, und heute war Tarn froh, dass es so war. Für das, was er vorhatte, brauchte er so wenig Zeugen und so viele loyale Unterstützer wie möglich. Was in Jefrems Sichtweite geschah, fand keinen Weg nach außen, dafür sorgte er.
Der Weg über die wilden, ungemähten Wiesen war holprig und übersät mit Steinen, aber dennoch hatte Tarn ihn schnell überwunden. Er machte vermutlich ziemlichen Eindruck, als er im Laufschritt in die kleine Gemeinschaft platzte, denn mehrere der Knechte sprangen bei seiner Ankunft erschrocken auf. „Was ist los?!”, fragte einer, und Tarn schüttelte nur den Kopf. „Holt mir Jefrem her!” „Aber-” „Sofort!”
Es dauerte keine Minute, da kam Jefrem angepoltert. Anscheinend hatte er sich gerade eine Ruhepause gegönnt und zu Abend gegessen. Er kaute noch und sah ziemlich verärgert aus - niemand der klug war, stellte sich ohne guten Grund zwischen ihn und seine Mahlzeiten.
„Hier bin ich schon, hier bin ich schon! Zum Teufel, musst du meine Jungs so hoch jagen?”, fragte er unwirsch und meinte damit wohl eher sich selbst als seine Knechte. Tarn zog ihn sofort beiseite, um ihm leise zuzuraunen: „Ich brauche ein Pferd, eine Schusswaffe und eine Wache rund um das Lager und die Pferde. Aber nur deine loyalsten Männer an der Seite zum Wald.”
Glücklicherweise hatte Jefrem genug praktischen Verstand, sich jegliche Fragen für später aufzuheben. „Danilo, Mischa, Viljo, ich brauche euch noch einen Moment hier. Lias, du sattelst ein Pferd, nimm ein gutes, und bring es her. Marceus, hol mein Gewehr. Der Rest verteilt sich sofort als Wache rund ums Lager - ich brauche mehr Leute bei den Pferden, Mischa, Ich und die anderen zwei übernehmen dann die Seite zum Wald”, kommandierte er ohne Zeitverzögerung. „Was ist passiert?”, fragte einer der Knechte, und Jefrem nickte Tarn zu.
„Wir haben zwei flüchtige Sklaven”, erklärte Tarn schnell, „Der Wald wird gerade nach ihnen durchsucht. Wir vermuten aber, dass sie versuchen werden ein oder zwei Pferde zu stehlen, um schneller vorwärts zu kommen.” „Sollten wir dann nicht lieber alle zum Waldrand?”, fragte einer der Knechte misstrauisch, aber Jefrem warf ihm einen derartig grimmigen Blick zu, dass er im nächsten Moment nur noch wie ein schüchterner kleiner Junge wirkte. „Damit sich in der Dunkelheit an uns vorbei schleichen und dann ungehindert zu den Pferden kommen, du Schwachkopf?”, blaffte er ihn an, „Oder damit du dir deinen faulen Arsch vergolden kannst, wenn du die zwei schnappst? Was mich angeht, haben die Pferde Priorität, und genau da wirst du dich hinbewegen! Also halt dein Maul und mach deine Arbeit! Abmarsch!”
Die Knechte fügten sich sofort, wohl aus Angst, noch mehr von Jefrems Zorn zu spüren zu bekommen, und trabten los. Einen Moment später waren sie nur noch zu fünft, und Jefrem schlug einen anderen Ton an. Nur noch umgeben von Vertrauten waren seine Befehle spürbar freundlicher. „Und jetzt nochmal von vorn, was ist überhaupt passiert?”, fragte Jefrem, und Tarn begann ohne Umschweife, den vier Männern die Situation zu erklären, angefangen von Jans Freundschaft mit Valion, bis zu Jans vorgetäuschtem Verrat und ihrer Flucht.
„Der kleine Blondschopf also”, sagte Jefrem nachdenklich, als Tarn schließlich geendet hatte. „Machte auf mich nicht den Eindruck, als würde er irgendetwas riskieren, aber wenn sie zu zweit waren… man kennt das ja. Die Frage ist, was brauchst du jetzt von mir, abgesehen von dem Pferd und der Waffe?” „Nicht viel, keine Bange. Alles was ich will ist, dass ihr die Jungen, falls sie euch über den Weg laufen, zum Waldrand schickt und dort warten lasst.” „Gut, aber was sollen sie dort?”, fragte Viljo. „Ich werde sie dort abfangen und an euch vorbei führen, dann überlasse ich ihnen das Pferd, und-” Er unterbrach sich, denn Marceus trat zu ihnen und brachte Tarn die gewünschte Waffe.
„Sprich ruhig weiter, Marceus ist inzwischen eingeweiht”, sagte Jefrem, „und ihm entgeht sowieso nichts, er ist ein verdammt kluger Kopf.” Er wuschelte Marceus im Vorbeigehen durch das ohnehin schon zerzauste Haar, und aus seiner Stimme klangen Stolz und Zuneigung. Marceus grinste Tarn an und verdrehte die Augen, was vermutlich »typisch Jefrem« bedeuten sollte, und Tarn lächelte zurück. Was seine jüngeren Knechte anging war Jefrem wie eine Bärenmutter - wer einmal seine Sympathie hatte, wurde zwar nicht mit Samthandschuhen angefasst, aber doch behütet und beschützt. Das war Jefrems Vorstellung von Familie, und wenn es nach Tarn ging, war sie auch nicht schlechter oder besser als andere Familien. Er musste es wissen, er gehörte immerhin dazu.
„Sie ist geladen”, sagte Marceus, als er die Waffe übergab. Tarn prüfte sie trotzdem noch einmal, nicht weil er glaubte, dass der Junge einen Fehler gemacht hatte, sondern weil er offensichtlich etwas fragen wollte, aber sich nicht traute es auszusprechen. Die zusätzliche Bedenkzeit schien zu wirken, denn schließlich fragte Marceus: „Kann ich mitkommen? Ich weiß, es ist nicht ungefährlich”, schob er schnell nach, als er Jefrems skeptischen Blick sah, „aber ich bin vorsichtig, und ich kann leise sein. Wenn ich sie finde, kann ich sie sicher bis zum Waldrand bringen.” „Du musst uns nichts beweisen, wenn es dir darum geht”, brummte Jefrem, aber Tarn schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf. Er hatte nur zu gut im Gedächtnis, welchen Eindruck Valion von Marceus nach nur ein paar Stunden gehabt hatte, immerhin hatte er sich die ausführliche Schilderung ihrer Begegnung angehört - diese Sympathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. „Ich glaube eher, er will sich als Freund beweisen.” „Viel mehr Gelegenheit dazu werde ich ja sonst nicht bekommen”, stimmte Marceus zu. Jefrem seufzte, aber es war klar, dass er sich nicht weiter sträuben würde.
„Wartet einen Augenblick, ich hole nur etwas. Nehmt inzwischen das Pferd in Empfang”, sagte er und trabte davon, während Lias mit dem versprochenen gesattelten Pferd auf sie zukam. Es erschien Tarn wie ein gutes Omen, dass es Joshanna war, die Stute, die Valion schon einmal geritten hatte. Mit etwas Glück würde sie ihn diesmal bis in die Freiheit tragen. Er nahm ihre Zügel und tätschelte ihren Hals, und sie schnaubte leise.
Lias wartete einen Moment ab, ob er weitere Befehle bekommen würde, bis Jefrem zurückkehrte und ihn fort winkte. Er trug einen Mantel über dem Arm, den er Marceus zu warf. „Hier, für dich. Zieh den über und lass dein Gesicht nicht sehen. Damit wir uns verstehen, du wirst dich aus jedem Ärger heraus halten, das heißt, kein Kontakt zu den Wächtern, keine Schlägereien. Wenn, und nur wenn du die beiden findest, bringst du sie bis zum Waldrand und verschwindest. Ich gebe dir eine Stunde, wenn du sie bis dahin nicht findest, kehrst du zurück.” Marceus nickte und streifte sich den Mantel über - er war ihm viel zu groß, aber vermutlich war das besser so, es maskierte seine Statur besser. „Der ist ziemlich schmutzig”, bemängelte er, sah Jefrems Blick und fügte mit einem schmalen Lächeln hinzu: „Ich werde ihn waschen, wenn ich wieder da bin.” „Gerade noch gerettet”, brummte Jefrem, aber man sah das amüsierte Funkeln in seinen Augen.
„Und was dich betrifft-”, wandte er sich an Tarn, der ihn sogleich unterbrach. „Was denn, bin ich nicht etwas zu alt für eine Belehrung?”, fragte er schmunzelnd, und Jefrem konnte nicht umhin ebenfalls zu lächeln. „Fast wäre mir danach, du bist immerhin noch die gleiche Pest wie früher, aber nein, das spare ich mir. Aber ich dachte mir, dass du da draußen mehr brauchen wirst als eine Schusswaffe.” Er zog ein Messer hervor, ein schlichtes Stilett, und Tarn zuckte zusammen. „Bist du sicher, dass du mir das wiedergeben willst?”, fragte er und räusperte sich, weil seine Stimme mit einem Mal belegt war. Wie lange hatte er das nicht gesehen? Es gab einen guten Grund, warum er es Jefrem anvertraut hatte. „Du konntest mit Messern immer besser umgehen als mit Schusswaffen. Ich sage nicht, dass du es benutzen sollst, aber mir wäre wohler, wenn du es dabei hast. Und inzwischen bist du klug genug um zu wissen, wo der Unterschied zwischen einer tödlichen und einer nicht tödlichen Stichwunde liegt.” Tarn nickte unbehaglich, nahm es entgegen und steckte es in seinen Gürtel, dann er wandte sich an Marceus. „Gut. Bist du soweit? Wir gehen das erste Stück des Weges gemeinsam.” Marceus nickte, Tarn griff die Stute erneut am Zügel, und sie gingen los.
Jefrem sah ihnen mit verschränkten Armen nach. Er sorgte sich, das stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Komm, wir müssen unsere Stellung beziehen”, sagte Mischa freundlich. „Sie schaffen das schon.” „Ich weiß, ich weiß… und trotzdem wäre mir wohler, sie nicht da draußen zu sehen, keinen von beiden. Aber so ergeht es einem nunmal, wenn man Kinder hat, das lasst euch gesagt sein. Egal, ob man sie selbst zeugt oder sich nur annimt”, brummte Jefrem und wandte sich ab. „Also los, ab auf eure Posten.”
Es dauerte nur Minuten, bis Tarn und Marceus den Waldrand erreichten, und sie hatten schnell eine markanten Ort gefunden, den sie als Anlaufpunkt für Valion und Jan auswählten. Es war eine Lichtung am Rand des Waldes, die sich an einer Seite zum Flusstal hin öffnete. Junge Bäume und niedrige Büsche säumten sie, doch der steinige Untergrund lag hier teilweise frei und erlaubte nur niedrigen Gräsern, sich festzusetzen. Im Zentrum der Lichtung gab es für einige Meter nur nackten Fels, und Regenwasser hatte sich zu einem flachen Teich in der großen Felswanne gesammelt.
Tarn band die Stute an, die sich sofort wohl fühlte und schnaufend Wasser aus dem Teich trank. „Ich mache mich auf den Weg”, sagte Marceus. Obwohl Jefrem schon genug Anweisungen gegeben hatte, mahnte Tarn noch einmal: „Bleib außer Sicht, das ist das Wichtigste. Dass du zu uns gehörst, wird dich im Zweifelsfall nicht schützen. Wenn du sie nicht findest oder das Gefühl hast dich zu verirren, kehr’ lieber um.” Marceus mussten die Ermahnungen eigentlich schon lästig werden, aber er nickte nur ergeben. Es war vermutlich kein Wunder, dass Jefrem ihn unter seine Fittiche genommen hatte; er war aufmerksam und freundlich, mit einem praktischen Verstand, aber auch einer Prise hintergründigem Humor.
„Ich mache das schon, keine Bange”, sagte er, aber Tarn sorgte sich trotzdem. Jetzt da er wusste, dass Marceus ein Verbündeter war, war der Drang ihn zu beschützen noch stärker. Er bedauerte, dass er Marceus nicht schon vorher etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als er vor etwas über einem Jahr zu Jefrems Knechten hinzugekommen war. Er hatte im Verlauf der Zeit den Kontakt zu Jefrem und seinen Leuten immer mehr verloren, bedingt durch seine Aufgaben und den ständigen Kontakt mit der Rebellion, der jetzt, während der Reise, deutlich reduziert war. Es wurde wohl Zeit, dass er die alten Verbindungen wieder stärker pflegte und sich mehr mit Jefrem austauschte, und in Marceus hatte er vermutlich auch für die Zukunft einen fähigen Verbündeten.
„Ich weiß, du kannst auf dich selbst aufpassen”, sagte er, und trotzdem griff er nach dem Stilett. Im Grunde wollte er es nicht bei sich tragen, also hielt er es Marceus hin. „Hier. Ich denke Jefrem hat dir bewusst keine Waffe gegeben, aber ich meine, du kannst sie brauchen.” „Es gehört dir, oder?”, fragte Marceus, aber er griff danach und ließ es in seiner Hand rotieren. Geübt. Etwas in der Art hatte sich Tarn schon gedacht. Er wusste, nach welchem Muster Jefrem seine Schützlinge aussuchte. Mühsam gezähmte Tiere, die nur noch auf Schläge reagierten, bis jemand kam, der sich nicht fürchtete, Menschen aus ihnen zu machen.
„Ja, es gehört mir, ich habe es Jefrem nur zur Aufbewahrung gegeben. Ich kann damit einiges anstellen, aber genau deshalb möchte ich es nicht bei mir haben.” „Eine Waffe ist ein Feind, selbst für ihren Besitzer”, sagte Marceus und zitierte damit Jefrem, der das immer wieder sagte. „Darf ich etwas fragen?” „Natürlich.” „Hat Valion eine Chance?”
Tarn zögerte für einen Moment, dann sagte er: „Das hängt jetzt von uns allen ab.” Marceus nickte, steckte das Stilett weg, zog sich die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht und ging los. Einen Moment später war er nur noch ein lautloser Schatten zwischen den Ästen des Waldes.
Für Tarn begann die Zeit des Lauschens und Wartens.