Es gibt immer einen Ausweg. Es gibt immer eine Lücke. Es gibt immer den einen Schachzug, den der Gegenspieler nicht vorhergesehen hat.
Diese Gedanken wiederholte Fourmi in ihrem Kopf, immer und immer wieder. Schweiß lief über ihre Schläfen; der gebrochene Arm quälte sie die ganze Zeit über.
Ein Schachzug, den der Gegenspieler nicht vorhergesehen hat.
Wer spielte hier gegen sie? Fourmi hatte keine Ahnung, aber je länger sie auf der Flucht waren, desto deutlicher wurde ihr, dass sie das heraus finden musste, und zwar zügig. Wenn sie überhaupt entkamen. Die Wahrscheinlichkeit dafür sank mit jeder Minute.
Der Kreis zog sich enger, und das konnte eigentlich nicht sein. Fourmi stiefelte nicht einfach unüberlegt drauf los, sie hatte einen verdammten Plan! Sie änderten die Richtung, ließen die Wächter immer wieder an sich vorbei passieren, und doch schüttelten sie sie niemals ab und kreuzten in diesem Moment schon wieder ihren Weg, wären fast direkt in sie hinein gelaufen.
Fourmi knirschte mit den Zähnen und ließ sich zum gefühlt tausendsten Mal auf den Boden fallen, um im letzten Moment unter einen Wagen zu rollen, Tarn hartnäckig hinter ihr, und gemeinsam lagen sie einen Moment später in Deckung und versuchten, möglichst leise zu atmen.
Mühsam robbte Fourmi ein Stück vorwärts, wobei ihr Arm protestierend aufheulte, und beobachtete, wie die Wächter an ihnen vorbei schlichen. Ja, sie schlichen inzwischen sogar, statt wie Bullen über eine Weide zu stapfen. Wer auch immer diesen Hinterhalt geplant hatte, er hatte offensichtlich verstanden, dass Lautlosigkeit wichtiger war als eine Übermacht. Zum Glück waren die zwei da trotzdem nicht schlau genug, ihre Ziele auch in Bodennähe zu suchen oder länger als nötig an einem Ort zu bleiben und sich umzusehen. Deshalb waren ihre ungeschützten Knöchel im nächsten Moment aus Fourmis Blickfeld verschwunden, bevor sie in die Versuchung kam sie ins Straucheln zu bringen.
Stattdessen harrte sie mit klappernden Zähnen aus, den verletzten Arm hilflos gegen ihren Körper gepresst. Zu viel. Diese ganze Nacht war zu viel für sie, für ihren verletzten Arm und ihre angeschlagene Konstitution, und trotzdem hatte sie keine andere Wahl als noch ein wenig länger auszuharren, abzuwarten, bevor sie weiter gehen konnten. Wenn diese Schwachköpfe den Auftrag hatten leise zu sein, hatte ihnen vielleicht sogar jemand in den Schädel gehämmert, dass sie ihre vorgegebenen Wege auch doppelt ablaufen oder zwischendurch umkehren sollten. Das war nicht mehr das Handwerk eines konservativen Schwachkopfes, und dazu kamen all die Details dieses neuen Vorgehens Fourmi schrecklich bekannt vor. Nicht die Taktik eines Einzelkämpfers, sondern eines Anführers, aber kein strikt militärisches Vorgehen. Wenn sie sich nur erinnern könnte…
„Wir sollten weiter“, murmelte Tarn, und Fourmi verkniff sich im letzten Moment ihm einen Tritt zu versetzen, auch wenn sein Kopf gerade in idealer Reichweite dafür war. Warum? Warum hatte er den Fehler gemacht, sich diesen Kerl aufzuhalsen? „Sei verdammt nochmal still“, fluchte er leise, aber jetzt hatte er den Faden in seiner Gedankenkette verloren und fand ihn nicht wieder. Nicht in diesem Zustand, mit den pulsierenden Schmerzen in seinem Arm. Tarns Schuld. Diese ganze Misere war letzten Endes seine Schuld. Und das würde ihm noch Leid tun.
Wütend rappelte Fourmi sich auf, kroch ins Freie und zog sich die verrutschte Kapuze wieder tief ins Gesicht. Er wollte gerade Tarn befehlen, ihm zu folgen, als eine Stimme laut und deutlich: „Halt!“ rief. „Bleib stehen und zeig uns dein Gesicht!“, fügte eine zweite Stimme drohend hinzu. Fourmi erstarrte in der Bewegung, und blitzartig analysierte er die Situation. Sie waren umrundet worden; die Wachen, die gerade so an ihnen vorbei gegangen waren, waren jetzt hinter ihnen aufgetaucht, und zu nah um ihnen einfach davon zu laufen.
Es war ein Reflex. Er war zu müde, und zu unkoordiniert um noch zu wissen, was er tat; als einer der Wächter nach ihm griff dachte er nicht mehr nach. Tarn war irgendwo, außer Reichweite, und wenn er schlau war, blieb er vermutlich in Deckung und ließ seinen ungeliebten Verbündeten auflaufen. Fourmi hätte das selbe getan, und deshalb wartete er nicht auf Hilfe. Er würde die zwei zur Hölle schicken, einfach weil er es musste.
Er holte mit seinem Arm aus, und ohne hinzusehen oder sein Gesicht zu zeigen rammte er ihn rückwärts in das Gesicht des Mannes hinter ihm.
Der falsche Arm.
Er spürte gerade noch, dass sein Ellenbogen seinen Angreifer im Gesicht traf und ihm die Nase brach. Aber noch bevor er wirklich begriffen hatte, was er getan hatte, fuhr der Schmerz so heftig durch seinen Arm wie ein Blitzschlag. Die Welt verwandelte sich in verschwommenen roten Nebel aus endlose Qualen, und er nahm kaum wahr, dass er auf die Knie fiel und erstickt aufheulte.
Der erste Wächter taumelte rückwärts, seine Schmerzensschreie klangen nasal, aber der zweite Kerl griff nach Fourmi und erwischte seine Kapuze. Fourmi wollte sich wehren, aber er war blind von den Schmerzenstränen, die über sein Gesicht liefen. Er versuchte die Hand weg zu schlagen, und verfehlte komplett. Vorbei. Ab hier geht es also endgültig abwärts.
Dann erklang das dumpfe Geräusch von Holz gegen Haut und Knochen, als Tarn aus dem Hinterhalt dem zweiten Wächter etwas über den Schädel zog, während der erste noch wimmernd seine gebrochene Nase hielt, aus der eine Menge Blut schoss. Das beschäftigte ihn allerdings nicht allzu lange, weil er von Tarn einen Hieb gegen den Kiefer bekam, der ihn neben seinem Kumpan zu Boden schickte. Er gurgelte etwas unverständliches, fuchtelte noch mit den Armen, aber dann lag er still.
Denk nicht, dass wir damit quitt sind, du Arschloch, wollte Fourmi sagen, aber sie brachte nur ersticktes Winseln hervor. Die Welt drehte sich, schien zu schwanken, und sie fühlte deutlich, dass sie einer Ohnmacht nahe war; ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet vor ihm musste sie sich diese Blöße geben, das zweite Mal in Folge. Hätte sie ihn doch umgebracht, als sie die Gelegenheit dazu hatte!
Tarn wiederum schien sich nicht darum zu scheren, dass Fourmi ihn fuchsteufelswütend anstarrte und darum kämpfte bei Bewusstsein zu bleiben. Er ließ sie sitzen wo sie saß, sah sich um und zerrte die zwei Wächter dann kurzentschlossen unter den Wagen, unter dem Fourmi und er eben noch gelegen hatten. „Es läuft nicht gerade nach Plan, was?“, sagte er leise, aber unverkennbar amüsiert, und dann hievte er Fourmi auf die Beine und führte sie mit sich.
Im ersten Moment wollte Fourmi ihn heftig von sich stoßen. Alles in ihr sträubte sich dagegen von ihm berührt zu werden, sie verabscheute es mit jeder Faser ihrer Existenz. Der Gedanke, dass der Körper auf den sie sich gerade stützte unter Eravier gelegen hatte ekelte sie unendlich an. Aber sie wusste nur zu gut, dass sie sich ohne Hilfe nicht auf den Beinen halten konnte, also hatte sie keine Wahl als sich von ihm stützen zu lassen. Und ganz allgemein brauchte sie Tarn für ihren Plan, egal wie schwierig er inzwischen geworden war. „Wohin?“, fragte er knapp, und sie knurrte nur: „Zu Karvash“ und überließ es ihm, die Richtung zu finden. Nur weg von hier. Irgendjemand musste den Krach gehört haben, und wenn sie Pech hatten würden die Wächter die Formation aufbrechen und sich jetzt alle auf diesen Ort konzentrieren. Sie strauchelte vorwärts, und Tarn hielt sie tatsächlich fest genug, dass sie nicht stürzte, aber sie auch nicht im Schneckentempo voran krochen.
Vielleicht solltest du ihm dafür dankbar sein. Ihn noch nicht loswerden. Er kann nützlich sein. Ein bisschen, wisperte ihr Gewissen, aber sie brachte es mit ihrem Groll zum Schweigen. Sie würde nicht anfangen jetzt Sympathien für ihn zu entwickeln, nur weil er zumindest einmal etwas richtig gemacht hatte. Sie hasste ihn, sie wollte ihn loswerden, und ganz davon abgesehen: Eravier verfügte über Tarn und ließ ihn in seinem Auftrag handeln, und selbst wenn Tarn ihn heimlich hinterging, konnte sie ihm nicht verzeihen. Nicht nach allem, was dieses Monstrum ihrer Familie angetan hatte. Nein, sie traute weder Tarn noch Anya, und würde niemals zulassen, dass sie zu nahe an ihn heran kamen, dass Eraviers Einfluss durch sie auf Fourmi übergriff. Verräter. Sie waren Verräter seit dem Moment, an dem sie weniger getan hatten als ihn mit ihrer ganzen Seele zu bekämpfen, das war die simple Wahrheit.
Während sie ihren hasserfüllten Gedanken nach hing, schien Tarn die Stille plötzlich als Aufforderung zu deuten ein Gespräch zu beginnen. Er warf einen Blick auf ihren nutzlos herab hängenden, gebrochenen Arm und flüsterte: „Wenn wir das ausgestanden haben, kann ich deinen Arm richten.“ Wenn Fourmi seinen Tonfall richtig deutete, war das seine Variante eines Friedensangebots. „Aber du solltest aufhören ihn ständig zu belasten. Du wirst ihn noch unbrauchbar machen.“
Es war eigentlich nur ein milder Vorwurf, aber er gab Fourmis ohnehin brüchiger Geduld den Rest. „Du hast ihn unbrauchbar gemacht, du gottverdammtes Arschloch!“, tobte sie flüsternd, im vollen Bewusstsein, dass sie sich wie eine Närrin aufführte, aber ihre Wut hätte in diesem Moment Steine schmelzen können. „Warte nur, bis ich dich-“ „Ausliefere?“, fragte Tarn trocken und bewies damit mehr Weitsicht, als Fourmi ihm zugetraut hätte. Sie schaffte es gerade rechtzeitig ein rechtschaffenes Gesicht aufzusetzen, bevor sie sich verriet, und knurrte gedämpft: „-wieder mit beiden Armen verprügeln kann. Und ich liefere dich nicht aus. Ich habe auch so schon genug Probleme, auch ohne dass Eravier alle Details zur Rebellion aus dir heraus prügelt.“ Sie wusste, dass Tarn ihr das möglicherweise nicht abkaufte, aber er schnaubte trotzdem amüsiert und zog sie im nächsten Moment in den Schatten eines Wagens, während ein weiteres Paar Wächter sich ihnen im Laufschritt näherte und glücklicherweise nicht inne hielt, um die Umgebung zu beobachten. Jemand hatte den Krach also gehört.
Sie stolperten weiter, kaum dass die Wächter verschwunden waren, aber Tarn redete auch weiter auf Fourmi ein, in einem eindringlichen Ton. Er versuchte freundlich zu klingen, aber sie wusste, dass nichts daran echt und alles Kalkül war. „Können wir den Streit nicht beilegen? Offensichtlich sind uns beiden Fehler passiert. Aber so lange die Reise dauert können wir genauso gut zusammen arbeiten, und Valion braucht immer noch unsere Hilfe.“
Ah, darum ging es also, er wollte sich in die Rebellion zurück schleimen, und dabei ging er natürlich über das schwächste Glied. Fourmi lachte erstickt auf, und entwand sich Tarns stützenden Griff. Schluss mit der Hilfe, Schluss mit den Vertraulichkeiten. „Lass uns eins klar stellen, wir sind keine Verbündeten mehr“, sagte sie kalt. Sie schwankte, aber ihr Stolz hielt sie aufrecht, während sie allein weiter ging, Tarn mit einem besorgten Gesichtsausdruck im Schlepptau. Sie dankte dem Himmel, dass sie jetzt nur noch Meter von Karvashs Zelt entfernt waren. Es wurde Zeit, dass sie den Kerl los wurde.
„Du hast deinen Hals gerettet, und ich bin dir für heute einen Gefallen schuldig, aber das ist auch schon alles. Halte dich raus. Und was Valion betrifft, halte dich von ihm fern. Das Letzte was er benötigt ist deine »Hilfe«, die Rebellion wird sich jetzt um ihn kümmern.“ „Und wie? Ich weiß, wie wir hier aufgestellt sind. Du hast niemand an der Hand, der dir helfen kann“, konterte Tarn kühl, „Und woher willst du wissen, dass Valion meine Hilfe nicht braucht? Du hast dich schließlich nicht um ihn geschert, bis er zum Problem wurde.”
Damit hatte er einen Nerv getroffen. Fourmi hielt inne, drehte sich zu ihm um, und für einen Sekundenbruchteil zeigte sich mehr als nur Wut in ihrem Gesicht, sondern echter, unverfälschter Hass. „Nicht um ihn geschert?”, zischte sie, und legte ihre ganze Kränkung in diese vier Worte. „Wer hat von Anfang an fast jede Nacht bei ihm gewacht, selbst wenn er es nicht wusste? Hat jeden seiner Schritte verfolgt? Hat zugesehen, wie du versucht hast ihn auf deine Seite zu ziehen, und nichts getan, um ihn nicht noch weiter zu verunsichern? Ich war vielleicht unsichtbar für ihn, aber ich war immer in seiner Nähe! Ich habe gesehen, wer ihn beobachtet hat und um ihn herum geschlichen ist, während du dich in deinem Selbstmitleid gesuhlt hast!”
Tarn zuckte sichtbar zusammen, und jetzt sah er besorgt aus. „Eravier?”, fragte er, und allein die Tatsache dass er nachfragte, bestätigte Fourmi nur in ihrem Urteil. „Ich sagte doch, dass du für uns nutzlos geworden bist”, zischte sie wütend. „Du sollst ihn überwachen, und übersiehst trotzdem, was sich direkt vor deiner Nase abspielt? Weißt du überhaupt ansatzweise, was Eravier mit ihm vorhat? Bestimmt nicht. Ich glaube du tappst genauso im Dunkeln wie ich.”
Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Moment kreuzten erneut Wachen ihre Weg, diesmal ein Gespann aus fünf Männern, die eilig an ihnen vorüber hasteten. Fourmi wich ihnen aus, indem sie sich hinter einem Stapel Kisten duckte, Tarn immer noch hinter sich, aber obwohl sie nicht entdeckt worden waren, wusste sie trotzdem, dass ihre Zeit ablief. „Sie sammeln sich“, murmelte Tarn, und damit hatte er Recht. Die fünf waren in ihren Rücken geschickt worden, weil die Front auf der anderen Seite dicht war. Der Kreis war fast geschlossen, Fourmi wusste es. Aber sie sah Karvashs Zelt zwanzig Meter entfernt. „Wenn ich dir ein Zeichen gebe, laufen wir“, sagte sie. Und dann werde ich dich endlich los.
„Ich finde heraus, was Eravier wirklich vor hat“, sagte Tarn unvermittelt, und irritiert hielt Fourmi inne. „Das eben war keine Aufforderung, es besser zu machen“, zischte er gereizt, „Ich habe dir keinen Befehl erteilt!“ „Ich würde auch keinen annehmen“, antwortete Tarn, „aber wenn ich dir die Details liefere-“ „Schon gut, in diesem Fall verhandeln wir neu. Jetzt halt die Klappe und komm.“ Innerhalb von Stunden bist du sowieso in Ketten oder tot, dachte er gallig. Aber bitte, mach dir Illusionen. Das ist nicht meine Sache.9
Dann gab er ihm das Zeichen, und gemeinsam hasteten sie die letzten Meter zu Karvash Zelt und schoben sich zwischen den schweren, muffig riechenden Planen hindurch ins dunkle Innere. Alles war ruhig, alles am Platz, so wie Fourmi den Ort vor einer Weile verlassen hatte. Also hatte es hier keine Durchsuchungen gegeben. Noch nicht. Alle schliefen, sowohl Karvash als auch seine Frauen. Gut.
Zielstrebig durchquerte er das Zelt, während Tarn ihm immer noch folgte, und steuerte auf Karvashs Lager zu, das durch eine weitere Plane vom Rest des Zeltes abgegrenzt war. Der Idiot schlief vermutlich tief und fest; nichts weckte ihn so schnell auf, das hatte Fourmi schon festgestellt. Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen.
Doch Tarn hielt ihn auf. Ihm war bewusst, dass er hier nichts zu suchen hatte und dass Karvash ihm mit Freuden etwas angehängt hätte. „Was tun wir hier? Was hast du vor?“, murmelte er, und Fourmi verbiss sich ein Grinsen und bemühte sich ruhig zu antworten. „Zuerst prüfen wir, ob der alte Schleimer auch wirklich schläft. Ich will keine Überraschungen. Und dann-“ „Und was, wenn jemand bei ihm ist?“, unterbrach Tarn ihn, und Fourmi schüttelte überzeugt den Kopf. „Nein, seine Frauen haben ihn heute Nacht in Ruhe gelassen, und Anya ist nicht…“ „Bei ihm? Ich schätze, du hast mich knapp verpasst.“
Anya. Sie war völlig lautlos aus Karvashs Quartier aufgetaucht. Wie lange hatte sie gelauscht, bevor sie sich gezeigt hatte? Fourmi hatte keine Ahnung. Doch obwohl sie ausgelaugt und irgendwie niedergeschlagen wirkte, spielte ein schmales Lächeln um ihre Lippen, und Fourmi war sofort klar, dass sie wusste, wen sie vor sich hatte.
„Hallo Fourmi.“
~
Nachdem Jadzia sie allein gelassen hatte, brauchte Anya einige Minuten um sich zu sortieren, aber schließlich raffte sie ihren Verstand zusammen. Ihr Kopf schwirrte vor Fragen, aber die hatten alle keine Bedeutung, wenn sie nicht endlich das tat, wofür sie hergekommen war.
Eine Stimme im hinteren Teil ihres Verstandes erklärte ihr außerdem flüsternd, dass sie in dem Moment, in dem sie mit Gael abgeschlossen hatte, zu Jadzia zurück kehren konnte. Diese Stimme war nur leise, aber sie hatte überzeugende Argumente. Und dann würde Anya einige wichtige Fragen haben. Im Großen und Ganzen beschränkten sie sich immer noch auf „Was?“, aber eine Prise „Warum?“ und „Seit wann in Gottes Namen?“ würde wohl auch dabei sein. Aber eins nach dem anderen.
Anya nahm sich die Zeit, noch einmal zu Sophie zurück zu kehren und sich für Jadzias Benehmen zu entschuldigen, aber die tat die Ereignisse mit einem amüsierten Schnauben ab. „Lade sie einfach nicht mehr hierher ein. Und jetzt geh und gib Gael einen Kuss von mir.“
Das versprach Anya wohlweißlich nicht, weil sie viel größere Lust hatte, ihn in den Boden zu stampfen. Immerhin wusste sie jetzt, dass er schon lange nicht mehr vor hatte sie zu kaufen, und das hatte er ihr ganz bestimmt nicht nur aus Höflichkeit verschwiegen. Aber trotz allem stürmte sie natürlich nicht einfach zu ihm herein, sondern schob den Vorhang zu seinem Teil des Zelts behutsam beiseite und trat leise ein.
Keine Lampe brannte, und kaum dass sie eingetreten war versank alles in Dunkelheit, aber Anya fand sich trotzdem auf Anhieb zurecht. Sie war oft in Gaels Quartier gewesen und hatte auch schon das eine oder andere Mal hier übernachtet.
Das größte Teil des Raumes wurde von Gaels ausladender Lagerstatt eingenommen, ein Gewühl von Kissen, Decken und Fellen, das drei Personen bequem Platz bot. Es hätte durchaus mit Eraviers Lager konkurriert, wenn es nicht so ein Durcheinander gewesen wäre. Und das betraf nicht nur Gaels Bett, das Chaos breitete sich von dort aus und erreichte in Ausläufern sogar die Zeltplanen. Alles lag durcheinander, auf jeder freien Fläche türmten sich Gegenstände, benutztes Geschirr, Schreibutensilien, Bücher, Karten, Gebrauchsgegenstände, gerade nicht verwendete Decken, selbst ein paar Kleidungsstücke. Keiner der Diener hätte diese Unordnung bestehen lassen, wenn Gael nicht darauf bestanden hätte, dass nichts angerührt wurde. Er hatte zwar nichts dagegen, dass jemand hinter ihm her räumte, aber er behauptete steif und fest, dass er nichts wiederfand, wenn er nicht »seine eigene Ordnung« aufrecht erhielt. Er lebte so, bis es Zeit wurde alles zu packen und weiter zu ziehen, dann löste sich dieses ausufernde Chaos auf und wurde eingepackt, nur um an anderem Ort von Neuem aufgebaut zu werden.
Aber gerade deshalb war Anya gern in Gaels Nähe. Er war alles andere als perfekt, aber im Gegenzug stellte er diesen Anspruch der Makellosigkeit auch an niemand sonst. Deshalb näherte sie sich seinem Lager auch ohne Vorsicht. Sie hätte sich nur gewünscht, dass sie im Dunkeln nicht auf so viele fragwürdige Dinge treten musste.
„Gael? Bist du wach?“, flüsterte sie, während sie sich ihren Weg zu ihm bahnte. Keine Antwort. Sie tastete sich weiter vor, unwillig, jetzt so einfach aufzugeben. Im Dunkel erkannte sie schemenhaft den Umriss seines Körpers, vergraben unter Decken. „Gael?“
Endlich, nach einer Weile, war die Antwort ein langes, trauriges Seufzen. „Ja? Was willst du?“, murmelte er, und seine Stimme klang diesmal gar nicht so bewusst gewählt oder kultiviert wie sonst, sondern eher abweisend. Kein Wunder, dass Sophie und die anderen ihn lieber in Ruhe gelassen hatten, er war unverkennbar in schlechter Laune. Allerdings nicht Eraviers Art von Verstimmung, die damit endete, dass jemand unter der Erde landete. Schmollen traf es wohl eher.
„Ich wollte nach dir sehen. Deine Frauen sagen, dass du schlecht gelaunt bist.“
Es folgte bockige Stille, gefolgt von ärgerlichem Gebrummel.
„Und deshalb haben sie mich in Frieden gelassen. Warum tust du nicht das selbe, meine Liebe?“
„Weil ich dich ein bisschen besser kenne, als du denkst“, antwortete Anya ungerührt. „Ich weiß, dass du eigentlich mit jemand reden willst.“
Und außerdem nützt du mir damit mehr, dachte sie, aber das sagte sie ihm natürlich nicht.
Es folgte noch mehr Stille, vermutlich eine subtile Aufforderung zu verschwinden, aber wenn Anya auf eins nicht reagierte, dann subtile Aufforderungen. Selbst deutliche Hinweise zu verschwinden bewirkten normalerweise das genaue Gegenteil. Also wartete sie, lauschte Gaels Atem, und schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit des Wartens, rang er sich tatsächlich dazu durch, sich ihr anzuvertrauen.
Seine Stimme klang rau, als er begann zu sprechen, langsam und als müsse er selbst erst verstehen, was er sagte.
„Was da draußen geschieht… das ist einfach furchtbar. Die Durchsuchungen, die Verfolgungsjagd… die… Morde…“, er pausierte, schien an diesem Wort fast zu ersticken, bevor er sich räusperte und fortfuhr: „So war es nie. So war er nie.
Versteh mich nicht falsch, er hat schon immer die Geduld verloren… Einschüchterung, Drohungen, ja, alles ja… aber das… das ist Wahnsinn… Alles scheint auseinander zu fallen.“
Anya schauderte. Die Wände waren plötzlich zurück gewichen, der Raum kälter und die Dunkelheit feindseliger geworden. Ihr wurde plötzlich klar, dass Gael nicht nur besorgt war; er war verängstigt. Sie hätte gedacht, wenn jemand die Ruhe bewahrte, dann er. Verdammt, er kannte Ansin, er kannte ihn seit Jahren. Sie waren unfreiwillige Geschäftspartner, seit Gaels Onkel gestorben war und ihnen beiden einen Teil des Erbes vermacht hatte. Wenn selbst Gael Angst hatte, dann war das hier etwas anderes als Ansins sonstige Anfälle. Und wie zur Bestätigung flüsterte Gael: „Vielleicht sollte ich dem ein Ende setzen. Vielleicht muss ich das.“
Und im ersten Moment wollte Anya ihm einfach zustimmen. Ja. Ja, bitte, schaff ihn uns vom Hals. Aber dann gewann die Vernunft die Überhand. Anya seufzte und ließ sich neben Gael nieder, strich sanft über seine Schulter und seinen Arm.
„Du kannst nichts tun. Ihn aufzuhalten liegt nicht in deiner Macht. Und was ist mit deinem Geschäftsanteil?”
Gael schnaubte frustriert.
„Was bringt uns mein Geschäftsanteil, wenn er uns in seinem Wahn alle zum Teufel schickt? Und wer soll es denn sonst tun? Nein, wenn, dann muss ich diese schwere Bürde auf mich nehmen. Das ist doch gewissermaßen meine heilige Verantwortung, oder?”
Das klang heroisch, hochtrabend, aber gleichzeitig bitter, selbstkritisch und ängstlich. Er war sich nicht sicher.
Vermutlich ist es deine Verantwortung, dachte Anya, aber das bringst du nicht fertig. Du würdest dich niemals offen gegen ihn auflehnen. Dazu bist du zu feige, und du würdest zu viel riskieren. Und ich bin auch nicht besser. Hat überhaupt jemand den Mut dazu?
Sie grübelte darüber nach, aber ihr fiel niemand ein, der sich Eravier ohne Weiteres entgegen gestellt hätte. Vielleicht gab es so jemand überhaupt nicht. Vielleicht zitterte sogar Fourmi bei der Vorstellung.
Es wäre so einfach gewesen, einen schnellen, sauberen Strich unter alles zu ziehen. Wie viele Männer und Frauen hatte schon daran gedacht, Eravier das Licht auszublasen? Und wie viele hatten davor zurück geschreckt, weil nicht klar war, was dann geschehen würde? Was, wenn es misslang? Und was, wenn nicht?
Tatsache war, dass Eravier wehrhaft genug war, einen Mordversuch von eigener Hand zu vereiteln. Er sah harmlos aus, aber das Lager war immerhin erst vor kurzem Zeuge geworden, welche Kräfte er wirklich mobilisieren konnte. Außerdem war er zu paranoid, um nicht vor zu sorgen. Er war verrückt und klug genug, sein Vermögen selbst nach seinem Tod dafür einzusetzen, das Leben desjenigen, der ihn hingerichtet hatte für immer zu zerstören. Und das Leben derer die von ihm abhingen ebenfalls. Und für Gael wurde die Sache noch komplizierter, wegen der Bedingungen, die er an sein Erbe geknüpft hatte.
Und deshalb schüttelte Anya den Kopf und sagte: „Nein, das ist keine gute Idee. Warte ab. Beobachte. Es ist noch zu früh für drastische Maßnahmen.“ Und ich brauche dich noch. Ich brauche dich für Jadzia. Und vielleicht sogar als Fluchtmöglichkeit, wenn die Rebellion untergeht.
„Was bin ich denn für ein Mann, wenn ich es nicht einmal versuche?“, fragte Gael verzweifelt, fast protestierend. „Ein kluger Mann, der weiß, wann der richtige Moment gekommen ist einzugreifen“, sagte Anya sanft, und wusste, dass sie ihm damit den Wind aus den Segeln nehmen würde. „Irgendwann kommt deine Gelegenheit, und dann wird Eravier nichts mehr zu lachen haben.“
Diese Worte schienen Gael tatsächlich zu gefallen, denn er drehte sich endlich zu ihr um und sah sie mit einem kläglichen Lächeln an. „So, für klug hältst du mich, schöne Herrin?“, fragte er und bedeutete ihr, dass sie zu ihm kommen sollte. Anya zögerte nicht und rückte näher an ihn heran, kroch unter die zahlreichen Decken und ließ sich von ihm in den Arm nehmen.
„Nun, du bist klug genug, eine arme Frau nicht zu lange in der Kälte zu lassen“, neckte sie und küsste ihn. „Dazu muss man nicht klug sein, nur kein völliger Narr“, antwortete er, umfing ihren großen, weichen Körper mit seinen Armen, schmiegte sich an sie und strich über ihr Haar. Er war warm, und obwohl sich Anya zuerst gar nicht kalt gefühlt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie genau das jetzt brauchte. Vergiss nicht, weswegen du hier bist, flüsterte eine mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf, und sie stimmte ihr durchaus zu. Aber Gael würde vermutlich eher auf ihre Worte hören, wenn er sich beruhigt hatte und entspannter war.
Zumindest schienen seine Sorgen nicht so groß zu sein, dass er deswegen keine Lust mehr empfand. So nah bei ihm spürte sie sein Glied, das gegen ihre weichen Bauch drückte und ihr entgegen zuckte. Aber er ließ sich wie immer Zeit und drängte sie nicht. Er küsste den Ansatz ihrer Brüste, hinauf zu ihrem Hals, und sie musste kichern, weil die sanfte Berührung sie kitzelte. Sorgsam streifte er die Kleidung von ihren Schultern, streichelte die darunter liegende Haut. „Deine Haut ist so zart wie ein Blütenblatt“, flüsterte er, und sie hörte das Verlangen, das in seiner Stimme lag. Er begehrte sie, daran gab es keinen Zweifel, und sie genoss es.
Sie genoss es, dass er so liebevoll mit ihr umging, dass er sich so viel Zeit für sie nahm. Sie kam nicht umhin ihn mit Eravier zu vergleichen. Gael wusste manchmal nicht so recht, was er mit sich selbst anfangen sollte, aber er ging immer behutsam und mit Bedacht vor. Es war verblüffend, wie sehr sich dieses Liebesspiel von dem seelenlosen Akt mit Eravier unterschied, wenn doch beide Männer sie eigentlich nicht liebten.
Da, sie hatte es sich eingestanden. Sie wusste, dass Gael sie nicht liebte, dass er sie niemals so lieben würde wie Sophie, Josce oder Adaliz. Er flüsterte ihr vielleicht die selben Schwüre zu, begehrte sie vielleicht genauso, aber er liebte sie nicht.
Stimmte es sie traurig? Sie wusste es nicht einmal, auch wenn sich ihr Hals für einen Moment zuschnürte.
Sie war es nicht gewohnt geliebt zu werden. Nicht mehr. Sie wurde von manchen respektiert, ja, und von manchen verachtet. Von den meisten benutzt. Geliebt? Nein. Das war lange, viel zu lange her.
Lass mich diesmal nicht zu lange warten, sagte Jadzia ernst in ihren Gedanken, und das war einfach nicht gerecht.
Du weißt ja nicht wie lange ich gewartet habe, dachte Anya wütend, und ihre Augen brannten. Anscheinend zu lange. Anscheinend verstehe ich gar nichts mehr davon. Vermutlich habe ich vergessen, worauf es ankommt. Sonst hätte ich doch etwas bemerkt. Sonst hätte ich doch wissen müssen, dass du etwas empfindest.
Gael war ein Trottel, aber bestimmte Dinge entgingen ihm trotzdem nicht. Eravier wäre es egal gewesen, aber Gael sah bestürzt aus, wenn Anya seine Miene im Dunkeln richtig deutete. „Anya… weinst du?“, fragte er überrascht und besorgt. „Nein“, sagte sie, und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und von den Wangen. „Nein, ich… nein. Komm einfach zu mir”, sagte sie mit wässriger Stimme, und zog ihn zu sich, und obwohl er zuerst zögerte, kam er ihrer Bitte nach. Er schob sich zwischen ihre Schenkel, behutsam und ohne Hast, und drang in sie ein. „Ist es so gut?”, flüsterte er ihr zu, und sie nickte und schlang ihre Arme um ihn, schloss die Augen und ließ sich von seinem Rhythmus tragen. Es war schön, das war es wirklich. Und so bedeutungslos wie alles, was sie heute getan hatte. Austauschbar. Sie öffnete in der Dunkelheit die Augen, und sah in die Schwärze.
Lass mich diesmal nicht zu lange warten.
Die Zeit blieb nicht stehen; die Welt veränderte sich nicht. Wie lange hatte sie ihre Unschuld bewahrt und doch auf diesen einen Moment hin gefiebert, an dem sie endlich das große Geheimnis verstehen würde, das der Vereinigung inne wohnte?
Aber es gab kein Geheimnis. Es gab keinen Zauber, und keine Wunder. Die Welt veränderte sich nicht. Zwei Körper warfen die Sonne nicht aus ihrer Bahn und verstreuten die Sterne nicht quer über den Himmel. Das war traurig, aber es war die Wahrheit. Eine Wahrheit, der sie sich jedes Mal aufs Neue stellte.
Zumindest konnte sie ihren Gedanken in Ruhe nachhängen. Gael hatte sie noch nie aufgescheucht oder einfach weggeschickt, nachdem er mit ihr geschlafen hatte. Stattdessen schmiegte er sich an sie, und sie lag bequem mit dem Kopf auf seiner Brust und träumte eine Weile vor sich hin. „Ich bin froh, dass du heute Abend zu mir gekommen bist“, murmelte er irgendwann und küsste ihren Scheitel, „Am Ende hätte ich mich noch zu einer Dummheit hinreißen lassen, wenn du nicht da gewesen wärst.“
Anya seufzte innerlich. Das wäre der ideale Moment gewesen, um ihm alles an den Kopf zu werfen was sie wusste. Dass er sie nicht kaufen wollte, dass sein Interesse nur geheuchelt war. Aber das hätte ihr alle Aussichten ruiniert, und deshalb sah sie zu ihm auf und lächelte charmant. „Eigentlich war ich ja nicht ganz uneigennützig hier“, gab sie zu. Gael lächelte zurück und hob gleichzeitig eine Augenbraue, zum Zeichen, dass er der Dinge harrte, die da kommen mochten.
„Ich habe eine Bitte“, begann sie zögerlich.
„Nur immer heraus damit! Ich tue doch was ich kann, um dich glücklich zu machen!“, versprach Gael vorschnell, aber sie sah die Unsicherheit in seinen Augen, die ihre eigene widerspiegelte, und sie versuchte, sich zusammen zu reißen. „Nach Kelians Tod sind einige Dinge… in Unordnung geraten“, versuchte sie zu erklären. „Dinge, die ich sorgfältig arrangiert hatte.“ Gael runzelte die Stirn, und sie sah die Frage schon, bevor er sie überhaupt gestellt hatte.
„Ich dachte du hättest nicht mit ihm-“
„Habe ich auch nicht“, sagte Anya geduldig.
Es war ihr in den Sinn gekommen, aber nie notwendig geworden, mit Faure zu schlafen. Und er hätte es vermutlich einfach nur getan, um über sie an Eravier heran zu kommen, ihr wichtige Informationen abzunehmen, so wie sie im Gegenzug ihn ausgehorcht hätte. Wie sagte man so schön: Zwei Dumme, ein Gedanke.
„Ich habe ihm etwas anvertraut, das ich niemand sonst in die Hände geben wollte. Vor allem dir nicht, weil ich damals dachte es wäre zu gefährlich. Es geht um Jadzias Vertrag.“
Gael horchte auf, was gut war, aber er sah auch vorsichtig und nicht gerade begeistert aus. Er streichelte über ihr Haar, langsam und nachdenklich.
„Ich habe mich schon immer gefragt, wie Faure es geschafft hat, ihm damals zuvor zu kommen. Vor mir hat er sich jedenfalls nicht wenig darüber ins Fäustchen gelacht, dass sie seinen Vertrag zuerst unterschrieben hat. Du hast das also eingefädelt“, stellte er fest, und Anya nickte.
„Ich hatte schon gewisse… Erfahrungen damit gemacht, wie charmant Eravier sein kann. Also habe ich mich an den gewandt, der ihn am meisten zu hassen schien und die beiden zusammen gebracht, bevor sie etwas tat, das sie später bereuen würde.“ „Und jetzt ist dein Plan nicht aufgegangen und du möchtest, dass ich das für dich regle, nicht wahr?“, fragte Gael, und er klang nicht glücklich darüber. Er war immer noch freundlich und aufmerksam, aber sie spürte auch seinen Unwillen, und versuchte ihn zu zerstreuen: „Ich weiß, das ist nicht die beste Lage um dich um so etwas zu bitten und-„
„Nein, wirklich nicht“, unterbrach Gael sie, und richtete sich auf, wobei er sie sanft beiseite schob. Anya knirschte mit den Zähnen, aber sagte nichts. Abstand war nicht gut. Er wollte diese Unterhaltung nicht führen, und weil er keine Konfrontationen mochte, lenkte er ab. Er griff nach einer Karaffe, die neben dem Lager auf einem niedrigen Schemel stand, und schenkte sich einen Becher ein. Zumindest war er Kavalier genug, sie nicht auf dem Trockenen sitzen zu lassen. „Möchtest du auch etwas trinken?“, fragte er, und sie nickte und griff nach dem Becher, den er ihr hin hielt. Sie war eigentlich nicht durstig, aber ihre Zunge fühlte sich schon eine Weile seltsam trocken an, und sie wurde von leichten Kopfschmerzen geplagt. Vermutlich die Anspannung, dachte sie und nahm einen Schluck. Doch der bittere Nachgeschmack, den sie schon früher am Rande bemerkt hatte, stach jetzt noch mehr als zuvor hervor, und unwillig kippte sie den Inhalt auf den Boden, wo er rasch versickerte.
„Liegt das an mir, oder ist etwas mit unseren Vorräten nicht in Ordnung?“, fragte sie, und Gael zuckte mit den Schultern. „Ich schmecke nichts Ungewöhnliches. Aber wenn du möchtest, schicke ich morgen jemand, der das überprüft. Sicher lässt sich-“, begann er zu schwafeln, und Anya erkannte seine Worte als das, was sie waren: Ein verzweifelter Themenwechsel, damit sie ihre Frage von zuvor vergaß. „Lenk nicht ab, Gael“, befahl sie, unwirscher als sie eigentlich wollte, und sie musste sich zwingen sanfter weiter zu sprechen. „Was ist mit Jadzias Vertrag? Du bist der Einzige, der ihr noch helfen kann. Wie entscheidest du dich?“, fragte sie noch einmal.
Die Antwort war ein langes, langes Schweigen, und Anya glaubte fast, dass sie ihn tatsächlich zu einer Antwort würde zwingen müssen. Aber schließlich rang er sich doch dazu durch, zu antworten. „Tut mir Leid, mein Herz, aber ich kann Jadzia beim besten Willen nicht aufnehmen. Diesen Verlust kann ich mir einfach nicht leisten. Ich weiß, was Faure für sie bezahlt hat, und ich kann nicht verlangen, dass seine Witwe weniger für ihren Vertrag bekommt. Und ich wüsste nicht, wie ich diesen Preis zurück erhalten sollte.“
Er bemerkte ihren angespannten Blick und deutete ihn sofort als Wut, deshalb beeilte er sich, beruhigend über ihr Haar zu streichen und redete auf sie ein: „Schlag mich jetzt nicht, aber ich halte sie für denkbar ungeeignet. Ich wüsste nicht, an wen ich sie verkaufen sollte!” „Ich bitte dich, ihr Aussehen ist tadellos, sie ist-”, wandte Anya ein, doch Gael ließ sie gar nicht ausreden. „Das ist es nicht, mein Häschen”, erklärte er milde. „Sie ist sehr unnahbar. Vielleicht nicht zu dir, ich habe gesehen, wie gut ihr befreundet sein. Sie kümmert sich sehr um dich.“
Mehr als du denkst, dachte Anya, und völlig unvermittelt dachte sie an den Kuss zurück. Wie gut, dass es so dunkel war, sonst hätte Gael sie vermutlich als nächstes gefragt, warum ihr Gesicht glühte. Stattdessen fuhr er fort: „Aber sonst scheint ihr Herz nichts zu bewegen, und das ist keine gute Eigenschaft für eine Sklavin. Sich zu öffnen, Beziehungen zu knüpfen, einnehmend und freundlich zu sein, das ist wichtig. Ich glaube dir, dass Jadzia eine gute Frau ist. Aber sie wird keine gute Sklavin sein.”
Er irrte sich, das wusste Anya. Jadzia war mitfühlend, liebevoll und wunderschön. Hätte Gael sie gekannt, wie Anya sie kannte, dann hätte er gewusst, dass ihr unnahbares Äußeres nur Fassade war. Es dauerte nur seine Zeit, sie kennen zu lernen und zu verstehen. Aber das würde er wohl nie erfahren; er war sonst nachgiebiger, wenn sie einen Wunsch an ihn hatte, aber diesmal spürte sie, dass er nicht auf sie hören würde. Sie hatte das vage Gefühl, dass er sich um mehr sorgte als nur ihren Verkauf. Als wüsste er etwas über Jadzia, das ihr nicht bewusst war.
Trotzdem wollte sie protestieren, Argumente finden, nicht einsehen, dass sie eine Niederlage erlitten hatte. Aber sie war plötzlich unendlich müde. Vielleicht lag es an der Enttäuschung, dem Wissen, dass sie nichts mehr ausrichten konnte, aber sie fühlte sich bleischwer und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Blick verschwamm, war mit einem Mal unfokusiert.
Auch Gael schien müde zu sein. Er zog sie in seine Arme und murmelte: „Bleibst du heute Nacht trotzdem hier?“ Anya nickte, und es bereitete ihr viel Mühe. Eigentlich wollte sie nicht bleiben, aber die Aufgabe, aus dem Bett aufzustehen, sich anzuziehen und zurück zu gehen, kam ihr plötzlich unlösbar vor. Schlaf. Sie brauchte einfach nur Schlaf. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst.
Als Anya erwachte wusste sie einen Moment lang nicht, wo sie war. Der Gedanke war nicht mit Panik verbunden; sie schlief einfach in zu vielen Betten, um sich immer auf Anhieb zu erinnern, welches gerade aktuell war. Mit geschlossenen Augen lauschte sie in die Dunkelheit. Seltsam, sie hatte sich so müde gefühlt, aber jetzt war sie wieder hell wach, von dumpfen Kopfschmerzen und einen pelzigen Nachgeschmack im Mund abgesehen. Irgendetwas an diesem Wissen beunruhigte sie, ohne dass sie zuordnen konnte, was es war. Eine vage Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Aber sie fand den Grund ihrer Beunruhigung nicht, also schob sie das Gefühl beiseite.
Zumindest verriet die Geräuschkulisse ihr auf Anhieb, wo sie war. Seufzend drehte sie sich auf die Seite und lauschte Karvashs Schnarchen. Eine andere Tonlage als gewohnt, eher ein ersticktes Schnaufen als das tiefe Brummen, das sie sonst von Gael kannte. Ob es mit den Ereignissen des Tages zusammenhing? Schwer zu sagen, sie war schließlich kein Scharchorakel.
Und dann fiel ihr ein, dass Jadzia immer noch auf sie wartete, und blitzartig setzte sie sich auf, auch wenn ihr für einen Moment schwindelig wurde. Verdammt, sie hatte völlig die Zeit vergessen, sich dazu hinreißen lassen, einfach einzuschlafen! Es war unklar, wie viel Zeit sie vertrödelt hatte, aber so oder so ließ sie Jadzia warten! Sie hatte sich diesmal sogar beschwert, dass sie immer so abgestellt wurde.
Lass mich diesmal nicht zu lange warten.
Die Röte war sofort wieder da, die hilflose Verlegenheit, und Anya schüttelte energisch den Kopf. Sie musste das aus ihrem Kopf bekommen. Sie konnte nicht immer und immer wieder in dieser Erinnerung verloren gehen. Nicht wenn es so viel zu zum gab! Es musste ein neuer Plan her, selbst wenn Anya nicht klar war, wie der aussehen sollte. Nur nicht aufgeben. Nur nicht akzeptieren, dass es so enden würde.
Ohne auf Gael zu achten suchte sie ihre Kleidung zusammen, zog sich an und ordnete zum tausendsten Mal an diesem Tag ihr Haar, das sich schon wieder in einen wilden Wust verwandelt hatte. Aber da war nun mal nichts zu machen. Sorgfältig strich sie ein letztes Mal ihr Kleid glatt und wollte gerade gehen, als sie leise Stimmen hörte, die miteinander sprachen.
Beinahe instinktiv hielt sie inne und lauschte. Undeutliche Fetzen eines Gesprächs erreichten sie, drangen durch die feuchten Stoffplanen zu ihr herüber.
„-prüfen wir, ob der … wirklich schläft … keine Überraschungen-“
Sie stutzte, weil sie die Stimme kannte, auch wenn sie ihr zuerst überhaupt kein Gesicht zuordnen konnte. Eine weitere Stimme antwortete, und die erkannte sie ebenfalls - Tarn. Was machte er hier, um diese Uhrzeit? Und wer war der andere?
Leise tappte sie auf den Durchgang zu und konzentrierte sich auf die Stimmen.
„Nein, seine Frauen haben ihn heute Nacht in Ruhe gelassen“, sagte die erste Stimme, und endlich, anhand der Modulation und der ungeduldigen Erklärung, wurde ihr klar, wer sprach. Fourmi. Es gab keinen Zweifel daran.
Und im selben Moment wusste sie auch, dass das ihre erste und vielleicht einzige Chance war, sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihn jetzt überraschte. Sie machte einen Satz nach vorn und schob den Stoff beiseite, und sah sich Fleurie und Tarn gegenüber. „-und Anya ist nicht-“, sagte Fleurie mit Fourmis Stimme, und es war wohl nur Anyas Mundwerk geschuldet, dass sie ihr - oder ihm? - das Wort abschnitt. „Bei ihm? Ich schätze, du hast mich knapp verpasst.“
Fleurie erstarrte und drehte sich langsam zu ihr um, und ja, jetzt gab es endgültig keinen Zweifel mehr, dass sie Fourmi vor sich hatte. Er, oder sie, sah Anya mit erschrockenen, und gleichzeitig resignierten Augen an. Sie war blass und übermüdet, aber ihre Augen funkelten, wissend, intelligent, im Bewusstsein, dass sie enttarnt war. „Hallo Fourmi“, sagte Anya leise.
Einen endlos dauernden Moment starrte Fourmi sie an, und Anyas Triumphgefühl über die Entdeckung seiner Identität verwandelte sich innerhalb von Sekunden in Entsetzen. Er hatte seine Tarnung nicht aus Spaß so lange aufrecht erhalten, und ihr wurde auch klar, was ihm - oder ihr, das wusste sie nicht - die Rolle als einfache Dienerin ermöglichte. Er musste rasend sein, dass sie ihn derartig offenbart hatte, und fast von selbst begann sie beruhigend zu flüstern: „Dein Geheimnis ist bei mir sicher, ich-“
Ironischerweise schien sie ihre Situation damit nur verschlechtert zu haben. Fourmis Augen verengten sich, und dann kam so heftig Bewegung in ihn, dass sie hastig einen Schritt zurück trat. Zu spät.
Er packte sie, was selbst Tarn zu überraschen schien, und schob sie durch den Vorhang in Karvashs Quartier hinein. Sie quiekte erschrocken auf, aber davon ließ sich Fourmi nicht beeindrucken, im Gegenteil, er warf sie herum, drehte ihr mühelos den Arm auf den Rücken und hielt ihr mit dem anderen Arm, der seltsam steif und ungelenkig wirkte, den Mund zu, zerrte sie weiter in die Dunkelheit hinein. Sie wehrte sich, aber er hielt sie eisern fest, drehte ihren Arm so weit nach hinten, dass sie schmerzerfüllt wimmerte. Tarn folgte ihm, völlig perplex, und fragte flüsternd: „Was hast du vor?“, aber Fourmi ignorierte ihn und redete hasserfüllt auf sie ein: „Mit wem arbeitest du zusammen?! Wer hat diesen Hinterhalt geplant?! Woher wusstest du, dass wir hierher kommen?! Du antwortest besser, denn wenn du schreist, bring ich dich um!“
Er nahm die Hand von ihrem Mund, und sie holte tief und erschrocken Luft und war tatsächlich kurz davor zu schreien. Im nächsten Moment hatte er ein Messer hervor gezogen und hielt es ihr vors Gesicht, und Anyas Verstand versank in blinder Panik. Ohne nachzudenken rammte sie ihre Ferse auf Fourmis Fuß. Er grunzte schmerzerfüllt auf und kam aus dem Gleichgewicht, aber ließ weder sie noch das Messer los. Das Messer, sie musste ihn dazu bringen das Messer fallen zu lassen, das war das einzige Ziel, das einen Platz in ihrem Verstand fand. Sie nutzte den Moment in dem Fourmi um sein Gleichgewicht kämpfte, um so heftig wie sie konnte nach seinem Arm zu schlagen.
Der Erfolg war durchschlagender, als sie jemals vermutet hätte. Fourmi keuchte schmerzerfüllt auf und ließ sie tatsächlich los; er klappte regelrecht vor ihr zusammen. Sie drehte sich um, um ihn im Auge zu behalten, stolperte zwei Schritte rückwärts, lief direkt in Tarn hinein, der versuchte nach ihr zur greifen, stieß ihn reflexartig zur Seite und lief los. Tarn folgte ihr auf dem Fuß, und er war schneller als sie, aber daran verschwendete sie in diesem Moment keinen Gedanken. Sie musste nur den Ausgang erreichen, um in Sicherheit zu sein! Wächter! Sie brauchte die Wächter!
Sie war fast am Ausgang angelangt, aber nur einen Meter von ihrem Ziel entfernt bekam Tarn sie am Handgelenk zu fassen. Sie sog zischend Luft ein, obwohl sie eigentlich schreien wollte, aber sie fand nicht den Atem dazu. Stattdessen schlug sie nach ihm, und er bekam ihr zweites Handgelenk zu fassen. Zur ihrer Überraschung rang er nicht mit ihr, er hielt sie einfach nur fest. „Still jetzt“, flüsterte er, „Hörst du das?“
Und obwohl sie alles wollte, nur nicht still sein, hielt sie trotzdem inne und lauschte, und hörte tatsächlich Schritte, die sich nur Meter entfernt an ihnen vorbei bewegten und kurz inne hielten.
„Hier?“, flüsterte eine raue Männerstimme, und ein anderer antwortete: „Noch nicht. Erst die anderen.“
„Aber-“
„Das ist unser Befehl, du Pfeife. Los jetzt.“
Die Schritte entfernten sich, während Anya und Tarn sich anstarrten und schwiegen. Erst als überhaupt nichts mehr zu hören war, fragte Anya völlig verwirrt: „Was soll das? Was geht hier vor?“ „Nichts Gutes. Und wenn du jetzt schreist und weg rennst, bringst du uns damit alle um.“
Und obwohl ihr Herz wie verrückt in ihrer Brust hämmerte, obwohl sie um jeden Preis weglaufen wollte, zwang sie sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Das hier war ein Missverständnis, musste eines sein. Warum sollte Fourmi sie angreifen? Das ergab keinen Sinn!
„Ich verlange eine Erklärung. Und ich schlage dich, wenn du mir etwas antun willst“, sagte sie leise. Das klang wie eine wirklich dumme und unhaltbare Drohung, aber er nickte nur, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Am Handgelenk führte er sie leise zurück in Karvashs Quartier, wo Fourmi sich gerade auf die Füße kämpfte. Anya sah selbst im Dunkeln, dass Fourmi weiß wie ein Laken war, und siedendheiß fiel ihr ein, dass er einen gebrochenen Arm hatte; sie hatte im Eifer des Gefechts gar nicht daran gedacht! Sie wusste nicht, ob sie Mitleid oder Triumph empfinden sollte, denn beides schien ihr nicht angemessen. Vor allem nicht, da Fourmi in der Sekunde, in der er sie sah, Tarn zur Seite stieß und wieder auf sie losgehen wollte. Tarn packte ihn diesmal gerade noch rechtzeitig an der Schulter und hielt ihn zurück.
„Lass das! Sie weiß überhaupt nicht, was hier vor sich geht!“
„Du glaubst ihr natürlich, das war mir klar!“, fauchte Fourmi, aber Anya ließ diese Anschuldigungen nicht auf sich sitzen.
„Ich arbeite mit überhaupt niemand zusammen, und ich habe nichts geplant! Warum auch? Was hätte ich denn davon? Ich dachte wir sind Verbündete?! Und ich wusste ebenso wenig, dass ihr hierher kommt, wie ihr wusstet, dass ich hier bin! Und selbst wenn, wäre ich so dumm gewesen euch eine Gelegenheit zu geben, mich allein und wehrlos zu erwischen, damit ihr mich ermorden könnt?“
„Ich glaube aber nicht an Zufälle, Herzchen“, antwortete Fourmi grimmig. „Wenn ich dich nicht hier haben wollte, dann wollte es jemand anders!“ Er wirkte angestrengt, und Anya begriff, dass er verzweifelt um seine Fassung rang. Er hatte die Situation nicht unter Kontrolle, und deshalb klammerte er sich an die Idee, dass sie der Schlüssel zu allem war. „Wenn es so ist, dann weiß ich nicht, wer! Ich habe jedenfalls nichts damit zu tun! Ich bin auch erst vor ein paar Stunden-“
Ihre Stimme war immer lauter geworden, aber es wurde ihr erst bewusst, als Tarn beschwichtigend die Hand hob. „Nicht so laut“, murmelte er und nickte Karvash zu, der wie ein Stein schlief und von dem Tumult in seiner Umgebung überhaupt nichts mitbekam. Noch nicht. „Tut mir Leid“, murmelte Anya, und Tarn zuckte mit den Schultern. „Wir müssen ihn nicht unnötig wecken. Mich wundert nur, dass wir das noch nicht geschafft haben. Schläft er eigentlich immer so tief?“, fragte er nach, und Anya öffnete den Mund um zuzustimmen, als ihr schlagartig etwas klar wurde. Was hatte sie schon die ganze Zeit beunruhigt? Ihre plötzliche Müdigkeit, die leichten Kopfschmerzen, die sie jetzt noch plagten und nur langsam verschwanden.
Ohne ein Wort zu sagen lief sie los, völlig in ihre Entdeckung versunken. Fourmi wollte sie abhalten, aber auch diesmal hielt Tarn ihn zurück. Anya nahm die Weinkaraffe, die immer noch scheinbar unberührt neben der Lagerstatt stand, füllte einen Becher auf und hielt ihn den beiden triumphierend unter die Nase.
Tarn schien zu begreifen was sie von ihm wollte, denn er nahm den Becher entgegen und riskierte einen vorsichtigen Schluck, nur um ihn sofort wieder auszuspucken.
„Leicht bitter. Kaum merklich, aber vermutlich Schlafmittel“, stellte er fest, „Wer auch immer heute Nacht unterwegs ist, er wollte Karvash aus allem heraushalten, und Anya vermutlich auch.“
„Und das würde ich euch bestimmt nicht erzählen, wenn ich an allem beteiligt wäre, oder?“, fragte Anya herausfordernd, und Fourmi knirschte sichtlich mit den Zähnen und wandte den Blick ab. Himmel, der Mann - oder die Frau, das wusste Anya immer noch nicht - steckte es wirklich nicht gut weg, wenn er einmal im Unrecht war.
„Aber wer war es dann?“, fragte Tarn, „Und zu welchem Zweck hat er ausgerechnet die beiden schützen wollen? Woher wusste er, dass Anya hier sein würde?“ „Denkst du nicht, dass ich schon seit Beginn dieser ganzen Sache versuche herauszufinden, wer zum Teufel es auf uns abgesehen hat?!“, antwortete Fourmi beleidigt mit einer Gegenfrage, „Ich habe noch nicht genug Hinweise darauf, um wen es sich handelt!“ „Gehen wir das ganze logisch an; wer hat überhaupt die Möglichkeit dazu? Wer-“
Anya wollte sie gerade mahnen, leiser zu streiten, als jemand anders das für sie erledigte. Das ewige Schnarchen, das in einem stetigen Rhythmus von Karvashs Lager zu ihnen gedrungen war, wurde unregelmäßig und hörte plötzlich auf, und Karvash drehte sich um und öffnete seine Augen einen Spalt weit.
Er erkannte sie. Sowohl Anya, als auch Fourmi und Tarn erstarrten, als wären sie in Statuen verwandelt worden. Niemand wagte einen Muskel zu bewegen in Erwartung seiner Reaktion.
„Oh nein”, stöhnte er mit einem Blick auf Tarn und schüttelte den Kopf, aber er klang völlig verschlafen und konfus, „nein, nein...”
Anya reagierte als erste, und das war vielleicht auch gut, weil sie ahnte, dass Fourmis Patentlösung für dieses Problem wieder Messer und Mord beinhaltet hätte. Sie trat völlig gelassen zu Karvash heran und strich beruhigend über sein Haar. „Shhh, was ist denn?”, flüsterte sie, und Karvash schloss die Augen, als wollte er auf keinen Fall sehen, was vor ihm war, als könnte und wollte er es nicht glauben.
„Anya?”, murmelte er schlaftrunken, und sie antwortete ihm, so überzeugt und beruhigend wie nur denkbar: „Du träumst, Gael. Schlaf weiter.” Ihre Worte schienen zu wirken, denn so undramatisch, wie er erwacht war, fiel er zurück in den Schlaf, öffnete nicht einmal mehr die Augen. Das letzte Zusammenhängende, das sie von ihm hörten, war ein genuscheltes: „Ich hasse den Kerl...er hat meine Socken...”, dann war er weg. Das Schnarchen setzte wieder ein, genau so gleichmäßig und langsam wie zuvor.
Im ersten Moment wagte niemand etwas zu sagen, sie starrten sich nur gegenseitig an, ungläubig, dass sie dieser Situation so einfach entkommen waren. Dann ergriff Anya das Wort. „Schluss mit den Ratespielen! Wir müssen von hier verschwinden, bevor er wieder aufwacht!“, flüsterte sie drängend, und Fourmi schüttelte den Kopf. „Da draußen wartet die gesamte Wachmannschaft darauf, dass wir uns zeigen!“ „Warum seid ihr dann ausgerechnet hierher gekommen?! Wenn ihr schon was auch immer anrichten musstet, warum habt ihr ausgerechnet mich da mit reinziehen müssen?“, fauchte Anya, und Tarn erklärte: „Es war Fourmis Plan. Und sie hat Recht, jetzt oder nie. Das war unser Warnschuss, einen zweiten bekommen wir vielleicht nicht.“ Er sah jetzt zu ebenso wie Anya erwartungsvoll Fourmi an, und der seufzte resigniert. „Lasst mich das hier einfach schnell erledigen“, sagte er, und zog das Messer.
Bevor sie fragen konnten was er vor hatte ging er zielstrebig auf Karvashs Lager zu. Er kam nur drei Schritte, dann hatte Tarn seine Überraschung überwunden und zerrte ihn zurück.
„Was zum Teufel soll das werden?“, fragte er, und Fourmi schnaubte abfällig. „Was wohl, ich steche ihn ab!“ „Bist du völlig übergeschnappt? Wie soll uns das denn weiterhelfen?!“, fragte Anya, und Fourmi verlor sichtlich die Geduld. „Begreifst du denn nicht, du dumme Gans? Das Einzige, was uns jetzt noch hilft, ist ein grandioses Ablenkungsmanöver. Ich hatte noch andere Ideen, aber die scheitern alle daran, dass du hier bist. Jetzt wird es eben Plan B. Wenn Karvash von einem Rebellen verletzt wird und seine Magd rennt und den einzigen Arzt holt, haben beide eine Berechtigung hier zu sein! Du setzt dich dazu und heulst überzeugend. Vielleicht sollte ich dir auch eine verpassen, damit es echt aussieht. So oder so, es muss danach aussehen als hätte jemand versucht ihn zu ermorden.“ „Das ist hirnrissig!“, zischte Anya, „und wenn du mich anfasst, schreie ich! Von wegen, du verpasst mir eine!“ „Hast du eine bessere Idee? Nein? Dann halt die Klappe und spiel mit!“ „Ganz zufällig habe ich eine, du Idiot!“, sagte Anya, und brachte Fourmi damit aus dem Konzept. „Du brauchst ein grandioses Ablenkungsmanöver? Hast du jemals daran gedacht, einfach Feuer zu legen?“
Ihre beiden unfreiwilligen Verbündeten starten sie perplex an, und sie wusste nicht, ob sie selbst nicht an diese Möglichkeit gedacht hatten, oder ihr einfach nicht zugetraut hatten, von selbst auf die Idee zu kommen etwas abzufackeln. Aber da kannten sie sie leider schlecht. Angriffslustig fuhr sie fort: „Glotzt nicht wie ein Huhn, wenn es donnert! Habt ihr einen besseren Plan?“
Es war Fourmi, der Einwände erhob, ironischerweise nicht gegen die Sache an sich, sondern die Durchführung: „Denkst du, so eine simple Idee hätte ich nicht selbst gehabt?“, fragte er gereizt, „Das wird nicht funktionieren, und wenn, dann dauert es zu lange! Glaubst du ernsthaft, in diesem feuchten Haufen Moder“, er deutete mit einer ausschweifenden Handgeste auf die Gesamtheit des Zeltes, „bringst du überhaupt irgendetwas zum Brennen? Und was willst du bitte anzünden? Eine Decke? Eine Hand voll Stroh? Dein Kleid?“
Anya schnaubte, wandte sich kommentarlos um, ging ein paar Schritte. Und dann fischte sie wie ein Zauberer irgendwo aus dem unkoordinierten Durcheinander eine Flasche und hielt sie ihren Verbündeten vor die Nase. Innerlich lächelte sie. Hatten sie denn wirklich gedacht, dass Gaels Unordnung nicht geplant war? Er war vielleicht ein Schwachkopf, aber er hatte zehn Jahre lang in Ansins Schatten existiert, und wenn er eines gelernt hatte, dann das zu verbergen, was andere nicht sehen sollten. „Was ist mit hochprozentigem Alkohol?“
Sie überließen die Ausführung Fourmi, vor allem, weil er sich kommentarlos die Flasche griff und an die Arbeit ging. Er ging das Zelt ab und murmelte vor sich hin, schien abzuwägen, wo er das Feuer legen wollte. Anya hätte eigentlich erwartet, dass er den Alkohol als Grundlage für ein Feuer verwenden würde. Aber er angelte sich nur ein Kleidungsstück aus dem Chaos, zerriss es, öffnete die sorgfältig verkorkte Flasche, tränkte den Lappen und stopfte ihn dann hinein.
Sie wagte es nicht ihn darauf anzusprechen, weil er in einer endlosen Litanei im Flüsterton vor sich hin fluchte, irgendetwas von verfluchter Unordnung und einige Beleidigungen in Karvashs Richtung. Stattdessen flüsterte sie Tarn zu: „Was macht er da?“
Tarn zuckte mit den Achseln, und einen Moment musterten sie sich stumm. Seltsam. Sie hatten bisher wenig miteinander zu tun gehabt, und Anya hätte niemals angenommen, dass er etwas mit der Rebellion zu schaffen hatte. Sie schmunzelte, und was auch immer Tarn gerade gedacht hatte, auch er lächelte jetzt ein wenig. „Was ist so komisch?“, fragte er, und sie zuckte mit den Schultern. „Ich dachte nur gerade, dass ich dich nicht im Verdacht hatte, ein Rebell zu sein.“ „Ebenso“, antwortete er knapp, aber nicht unfreundlich, und sie korrigierte ihn nicht. So wie es aussah war ihre Loyalität ab jetzt sowieso einerlei. Sie hatte sich endgültig mit der Rebellion eingelassen.
Trotzdem ließ es sie nicht los, dass ausgerechnet Tarn ein Verräter sein sollte. „Ich meine, warst du es nicht, der ihm den Arm gebrochen hat?“, legte sie nach und nickte in Fourmis Richtung. „Es war Notwehr, aber das sieht Fourmi etwas anders. Was denkst du, warum er so wütend auf mich ist?“, antwortete Tarn resigniert. Das war nur eine rhetorische Frage, aber Anya wagte einen Schuss ins Blaue. „Weil du mit Eravier schläfst?“ Er runzelte die Stirn, und sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich suche nur nach Gemeinsamkeiten“, gab sie zu, und er verstand, was sie damit sagen wollte. „Aber vermutlich muss ich dich gar nicht darauf hinweisen. Du weißt vermutlich, mit wem er es sonst noch treibt.“ Die Antwort war kurzes Schweigen, gefolgt von einem zurückhaltenden: „Ich vermeide es, zu viel darüber zu wissen.“
Im gleichen Moment kam Fourmi auf sie zugestürmt, und da Tarn sich zu ihm umwandte, sah er die Überraschung auf Anyas Gesicht nicht, und sie selbst brachte sich schnell unter Kontrolle. „Das ist der Plan“, erklärte Fourmi angespannt, und ein Blick in sein Gesicht sagte Anya, dass er am Rand seiner Kräfte angelangt war. Sie stellte keine Fragen, sondern hörte nur zu und nickte, als er fortfuhr: „Ich lege den Brand und sorge dafür, dass das Feuer nicht sofort aus geht. Anya, du bleibst hier, ich brauche dich, um Karvash hier herauszuholen. Tarn, du kümmerst dich um seine Frauen. Sorg dafür, dass sie nach draußen kommen, möglichst ohne dass sie mitbekommen, wer sie gerettet hat. Danach hast du es in der Hand, zu verschwinden. Niemand wird auf dich warten. Das gilt auch für dich, Anya.“ „Gehen wir es an“, stimmte Tarn zu und verließ Karvashs Quartier ohne ein weiteres Wort. Gewohnt, Befehle zu befolgen, dachte Anya abwesend. Die Rebellion war wohl doch militärischer, als sie zuerst angenommen hatte. Vielleicht sollte sie sich angewöhnen, ebenfalls Befehle zu befolgen.
Fourmi ließ sie nicht mit ihren Gedanken allein, sondern befahl ihr: „Geh da rüber. Komm nicht zu nahe, ich habe das Feuer unter Kontrolle. Wenn ich dir das Zeichen gebe, schreist du. Nicht vorher und erst recht nicht später.“ Sie nickte und trat einen Schritt zurück, und Fourmi umfasste die Flasche, aus der der hinein gestopfte Lappen hing. Sie wollte ihn gerade fragen, was er nun mit diesem Ding vorhatte, als er den Lappen in Brand setzte. Der mit Alkohol getränkte Stoff fing Feuer wie ein Docht, und Anya trat zurück, zu dem Ort, den Fourmi ihr gezeigt hatte, und wartete.
Für einen Moment stand Fourmi völlig ruhig und still da, die brennende Flasche in der Hand. Bereitete er sich vor? Dachte er nach?
Oder fürchtete er sich?
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie war plötzlich überzeugt davon, dass es Letzteres war. Und ohne dass sie es wollte wurde sie von Mitleid ergriffen. Mitleid für sie alle. Was war das für eine verrückte Nacht geworden?
Sie hatte immer geglaubt, dass die Welt in ihrem tiefsten Inneren normal war. Ein ruhiger, sicherer Ort, ohne die Ungeheuer und Drachen, die Geschichten und Sagen heimsuchten. Aber hier stand sie, Teil ihrer eigenen Geschichte, und fürchtete sich vor einem menschlichen Ungeheuer. Was tat sie hier? Sie hatte nicht darüber nachgedacht, warum sie den beiden half, aber letztendlich lief es darauf hinaus, dass sie Eraviers wachsamen Augen auswich. Sie würden viele Menschen in Gefahr zu bringen, in der vagen Hoffnung, dass es sie diesmal nicht erwischte.
Aber das Schlimmste war, dass ihr Platz trotz aller Bedenken und trotz ihres vorigen Widerstandes eindeutig hier war; vielleicht war ihr das schon lange klar gewesen, schon seit dem Moment, an dem Fourmi zum ersten Mal mit ihr gesprochen und ihr angeboten hatte, Informationen einzutauschen. Warum hatte sie sonst auf Tarn gehört, sich gezwungen Fourmi trotz seines Angriffs erneut zu vertrauen?
Weil sie ihre wahren Verbündeten waren. Weil sie sich zwischen ihnen weitaus besser aufgehoben fühlte als in Gaels Bett oder beschützt durch die Wachen. Die waren machtlos, und sie würden nichts tun, außer ihre Befehle zu befolgen, egal, wohin die sie führten.
Anya gehörte nicht zu ihnen. Sie gehörte zu den Anderen. Sie, die Heimatlose, die sich ihren Platz immer nur erkauft hatte. Sie hatte so viel mehr mit Tarn gemeinsam, dem einzigen Mensch den sie kannte, der so etwas wie echte Gefühle für Eravier aufbrachte. Oder Fourmi, der so verzweifelt versuchte die Oberhand zu behalten, weil er sich davor fürchtete was passieren würde, wenn ihm eine Situation entglitt. Was war ihm zugestoßen? Sie konnte es nicht einmal erahnen.
„Fourmi?“, fragte sie leise, und er wandte sich zu ihr um.
„Was?“ Er wartete darauf, endlich seinen Plan auszuführen, und wollte nicht von ihr abgelenkt werden. Aber wenn sie diese Frage jetzt nicht stellte, würde sie es vor sich her schieben. Sie wollte ihre Verbündeten zumindest kennen, bevor sie ihnen ihr Leben anvertraute.
„Wie soll ich dich ansprechen?“, fragte sie, „Bist du Fourmi… oder Fleurie?“
Für einen endlos dauernden Moment schwieg Fourmi. Der Lappen, der aus der Flasche ragte, brannte mit träger Flamme, während er zu überlegen schien. Sie war sich sicher, dass er nicht über die Antwort nachdachte. Nur darüber, ob sie wert war, diese Antwort zu kennen.
„Beides“, murmelte er schließlich unwirsch, und wandte sich wieder von ihr ab, als sie sah, dass Anya nickte.
Dann warf Fourmi die Flasche gegen einen der Stützpfosten, die das Zelt aufrecht hielten. Anya war sich nicht sicher gewesen, was sie sehen würde, aber der Effekt überwältigte sie. Die Flasche zerschellte mit einem lauten Splittern an dem Stützpfosten, und flüssiges Feuer regnete herab. Der Alkohol spritzte auseinander, entzündete sich und verwandelte sich in einen gewaltigen, leuchtend orangefarbenen Feuerball. Anya zuckte zusammen, weil sie instinktiv einen Knall erwartete, vielleicht wie das Geräusch einer Waffe, aber das einzige was sie hörte war das Splittern der Flasche und das Lodern der Flammen.
Die Zeltplanen fingen sofort Feuer, und Anya entfernte sich hastig einige Schritte, aber Fourmi harrte völlig unbeeindruckt an der selben Stelle aus. Brennender Alkohol spritzte vor ihren Füßen zu Boden, aber sie zeigte keine Regung. Das Feuer beleuchtete ihr ernstes, konzentriertes Gesicht und ließ ihre Augen leuchten. Sie öffnete eine Öllampe, die sie sich bereit gestellt hatte, und sorgfältig und gelassen, als würde sie an einem schönen Tag Blumen gießen, nährte sie die Flammen mit dem Öl. Die gelösten Strähnen ihres Haares tanzten im Sog des Feuers, während es immer weiter auf das Zelt übergriff und alles taghell erleuchtete. Funken stoben, als sie entschlossen eine von Karvashs Decken nahm und ebenfalls ins Feuer schleuderte. Karvash schnarchte weiter und verschlief den Untergang seines geliebten Zeltes; und Anya bereitete sich bereits darauf vor, ihn ins Bewusstsein ohrfeigen zu müssen. Aber noch wartete sie, wie ein braver Soldat, auf ihren Befehl.
Sie wartete. Und wartete.
„Ist es nicht bald so weit? Fourmi?“, fragte sie schließlich. Sie wusste, dass nur Sekunden vergangen waren, aber jeder Moment in der Nähe des sich immer weiter ausbreitenden Feuers fühlte sich wie ein Jahrhundert an. Sie spürte die Gefahr, und instinktiv wollte sie laufen. Doch Fourmi schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Feuer zu, beobachtete es genau. Sie wartete mit verschränkten Armen, während die Flammen immer höher schlugen und sich erstickender Qualm ausbreitete und ihnen den Atem nahm. Ihre Miene war wie versteinert, die Augen leer, während sie ihren verletzten Arm fest hielt und immer wieder verhalten hustete.
Es wurde heiß, so unerträglich, dass sich Anya etwas wünschte um ihre Haut zu schützen, und Fourmi stand umringt von den Flammen und wartete.
Wartete.
Plötzlich wurde Anya klar, dass sie weg war, zumindest für diesen kurzen, wesentlichen Moment. Und auf eine unheimliche Weise erinnerte sie Anya in diesem Moment an Jadzia.
Tränen. Panik. Die Unfähigkeit, zu Atmen. Ich habe von Feuer geträumt.
Sie wusste nicht, ob sie Fourmi vertraute. Sie wusste sicher, dass sie sie bisher nicht mochte. Dass sie zu rücksichtslos und starrsinnig für ihren Geschmack war. Und wäre Anya diejenige gewesen, die völlig weggetreten ins Feuer starrte, hätte Fourmi sich vermutlich umgedreht und das Weite gesucht. Aber trotzdem. Ich lasse dich nicht hier, dachte sie wütend, stapfte auf sie zu und packte ihre Schulter.
„Fourmi!“, schrie sie sie an, schüttelte sie. „Fourmi!“ Und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, drehte sie sich zu ihr um. Ihre Augen schwammen; sie war völlig am Ende, und vielleicht hatte sie auch jedes Recht dazu. Sie hielt ihren steifen Arm vor dem Körper, das Gesicht blass, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Ihre Schmerzen mussten ungeheuer sein, und trotzdem hatte sie sich bis zu diesem Punkt durchgekämpft. „Die Welt verbiegt sich nicht so, wie es mir passt, oder?“, fragte sie, und in der Frage lag so viel Schmerz und Resignation, dass es Anya selbst weh tat.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte sie wütend, „Und wenn nicht, dann biegen wir sie eben selbst so zurecht, wie sie uns passt.“ „Denkst du, dass versuche ich nicht schon die ganze Zeit?“, antwortete Fourmi. „Ja, aber ganz offensichtlich versuchst du es ja immer nur allein“, wandte Anya ein, und sog erschrocken die Luft ein, als ein brennender Fetzen der Zeltplanen herab fiel und ihr Kleid ansengte. „Können wir jetzt bitte weg von hier?“, fragte sie, und Fourmi riss sich zusammen und nickte. „Schrei“, sagte er.
Und Anya gehorchte. Sie holte tief Luft, und dann schrie sie, was ihre Lungen hergaben: „FEUER! FEUER! HILFE!“
Es war eine schwierige Nacht, damit hatte Guy wahrscheinlich Recht, und Angst, das wusste Anya inzwischen, war ein starkes Narkotikum. Schreie oder Rufe ließen Menschen normalerweise zusammen laufen, aber in einer Nacht wie dieser würde das Gegenteil der Fall sein. Die Furcht vor den Konsequenzen war zu groß. Selbst Schüsse hätten vermutlich niemand herbei geholt, nicht, wenn die Wächter auf Rebellenjagd waren.
Aber es gab eine Gefahr, die niemand ignorieren konnte, egal unter welchen Umständen: Feuer.
Brände waren keine Seltenheit, nicht im Sommer auf offenen Feldern, wenn Lampen, Kochstellen und Wärmequellen benötigt wurden. Anya hatte bereits einen kleineren Brand miterlebt, und das ganze Lager war innerhalb von Sekunden auf den Beinen gewesen. Und genau das geschah auch jetzt. Es dauerte keine Sekunde, bis der Ruf aufgenommen wurde, und sich durch das ganze Lager verbreitete. Innerhalb von Minuten wurde das Prasseln des Feuers von Rufen übertönt, hastigen Schritten, Streitereien, weil die Diener mit den Wachen zusammen stießen, die ihre Blockade so lange aufrecht erhalten hatten und es nun nicht mehr konnten. Und manche der Wächter versperrten nicht einmal mehr den Weg, sondern lösten ihre Reihen auf und liefen selbst, um Wasser zu holen, wo auch immer sie es her bekommen konnten. Niemand durchsuchte irgendjemand. Niemand hielt irgendjemand auf. Die Wächter waren klug genug, um zu erkennen, dass sie die Situation nicht meistern konnten, und irgendwann halfen sie nur noch dabei, zu löschen und die Ordnung wiederherzustellen. Und als alles vorbei war, waren keine Rebellen mehr ausfindig zu machen. Sie waren in der Menge der Diener einfach verschwunden.
„Jadzia?“, fragte Anya leise in die Dunkelheit ihres Quartiers.
Keine Antwort. Das Quartier war Immer noch ein absolutes Chaos, und der Junge hatte sich einfach nur eine Decke genommen und schlief so tief, dass ihn vermutlich nicht einmal eine Fanfare geweckt hätte. Jadzia war nicht da.
Anya seufzte frustriert, aber vermutlich hatte sie einfach Pech. Ihr war zu spät eingefallen, dass Jadzia doch auf sie hatte warten wollen. Und wer wusste schon, ob sie beim Löschen des Feuers geholfen oder sich stattdessen davon fern gehalten hatte? Sie war nicht hier. Mürrisch richtete Anya erst ihr eigenes, dann Jadzias Lager, bevor sie sich hin legte. Sie nahm sich vor, einfach im Dunkeln zu warten, bis Jadzia auftauchen würde. Überhaupt fühlte sie sich so wach wie nie zuvor.
Innerhalb einer Minute war sie eingeschlafen.
„Eine herrliche Nacht“, sinnierte Eravier und klappte das Buch, das er gelesen hatte, mit Schwung zu. „Wärmer als erwartet. Aber dafür mangelt es ihr an Gefangenen, meint ihr nicht auch?“
Seine spöttische Frage hing eine Weile in der Luft, ein offensichtlicher Vorwurf. Doch Jadzia ließ ihn nicht lange unbeantwortet.
„Es ist nicht alles nach Plan verlaufen, aber wir konnten durchaus etwas über ihre Strategie und die Schwächen in unserer Verteidigung herausfinden“, antwortete sie ernst. „Beispielsweise, dass sie klüger als wir sind?“, fragte Eravier, und Jadzia nickte. „Unter anderem.“
Wenn sie Angst hatte, war es in ihrem Gesicht nicht zu lesen. Ihre Augen waren starr gerade aus gerichtet, genau wie Guys. Sie waren in Eraviers Wagen angetreten und standen nun bereit, um Bericht zu erstatten und neue Befehle entgegen zu nehmen, Seite an Seite. Soldaten. Und obwohl sie in dieser Nacht versagt hatten, betrachtete Eravier sie doch wohlwollend. Sie hatten ihn bisher selten enttäuscht, ihre Anweisungen immer ohne zu zögern ausgeführt, und außerdem waren sie unerkannt geblieben. Ganz im Gegensatz zu Durand.
„Leider stehen wir jetzt wieder am Anfang“, sinnierte Eravier und erhob sich von seinem Schemel, um näher an Guy und Jadzia heran zu treten. „Und wir haben unseren wichtigsten Köder verspielt. Soll ich mich wirklich damit abfinden, dass wir Durand umsonst erschossen haben?“ „Herr, darf ich sprechen?“, fragte Guy, und Eravier gestattete es ihm mit einer Handgeste. „Herr, ich bin nicht sicher ob es überhaupt klug war, Durand hinzurichten. Gerade jetzt wäre es wichtig gewesen, einen Verbündeten unter den Dienern zu haben. Außerdem haben wir für Unruhe gesorgt. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir schnell einen Aufstand am Hals.“ Eravier nickte, zum Zeichen dass er ihn durchaus verstanden hatte, winkte jedoch gleichzeitig ab. „Die Diener haben wir unter Kontrolle. Und dein Mitleid ist rührend, aber Durands Zeit war abgelaufen. Er hat mir einmal zu oft versagt, und außerdem war die Gelegenheit zu günstig. Die Rebellen wissen, dass es mir ernst ist. Sie werden bald aus ihren Löchern gekrochen kommen, ich kann es fühlen.“
„Ein Gefühl bringt uns nicht weiter. Wir sollten langfristiger planen, weniger Zeit und Material auf Schnellschüsse verschwenden“, warf Jadzia ein und ignorierte Guys warnenden Blick. Sie hatte ihn auch nicht nötig, weil Eravier überhaupt nicht auf ihre herausfordernden Worte einging. „Das mag sein“, erklärte er mit einem Schmunzeln und trat noch näher an sie heran. Ihre einzige Reaktion bestand darin, dass sie die Lippen etwas fester zusammen presste. Aber dennoch war es eine Reaktion, und Eravier nahm sie zufrieden in sich auf. „Aber bevor wir uns auf diese Aufgabe stürzen, hast du nicht etwas vergessen?“
„Ich vergesse nichts“, antwortete Jadzia kalt, und zog ein mehrfach gefaltetes Dokument hervor. Ein Vertrag. Sie reichte ihm das Schriftstück, ohne auch nur eine Sekunde inne zu halten, und er nahm es entgegen, ohne weitere Fragen zu stellen. Stattdessen entfaltete er es und ging müßig einige Schritte auf und ab, während er den Inhalt überflog. Er nickte, aber aus den Augenwinkeln beobachtete er auch Jadzia.
„Das ist alles korrekt, und eine angemessene Abtretungssumme. Du gehörst also endlich mir.“
„Ich gehöre niemandem. Ich stelle mich für eine Weile zur Verfügung, gegen die entsprechende Summe“, widersprach Jadzia ihm harsch, aber Eravier lächelte nur.
„Wie auch immer du es nennen willst, der Vertrag steht. Und wie ich annehme soll Anya es nach wie vor nicht erfahren.“
Jadzia zögerte einen Moment, doch dann nickte sie.
„Es würde sie nur verwirren. Meine Tarnung gefährden.“
„Und vielleicht würde sie dann dir gegenüber ihr wahres Gesicht zeigen, nicht wahr? Das willst du sicher nicht, wenn dir doch so viel an ihr liegt.“
„Sie ist meine Freundin.“
„Sie sollte dein Feind sein“, erwiderte Eravier scharf, aber das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht, „Immerhin paktiert sie mit den Rebellen.“
„Weil es ihr Vorteile bringt, nur deswegen. Sie ködern sie mit einem reichen Käufer, und nur deshalb spielt sie deren Spiele. Du hast es versäumt, ihr die richtigen Anreize zu geben. Du hast sie eingeschüchtert. Ich denke nicht, dass du klug handelst, was sie betrifft. Sie könnte dir gefährlich werden, wenn du nicht darauf achtest, was sie tut.“
Guy wollte es nicht, aber obwohl er diese Art der Wortwechsel gewohnt war, hielt er dennoch den Atem an. Dass es überhaupt jemand wagte derartig mit Eravier zu sprechen war ihm anfangs unbegreiflich gewesen. Als er das erste Mal Zeuge geworden war, wie die beiden miteinander stritten, hatte er damit gerechnet, dass Jadzia nur Minuten später tot sein würde. Niemand legte sich derartig mit Eravier an und kam ungestraft davon. Aber wie jede Regel hatte diese wohl Ausnahmen. Inzwischen hatte Jadzia keinerlei Skrupel mehr, Eravier offen zu kritisieren, und trotzdem rechnete Guy jedes Mal aufs Neue damit, dass sie diesmal zu weit gegangen war.
Eravier starrte Jadzia einen Moment lang an ohne eine Miene zu verziehen an, dann lachte er aus vollem Halse. „Da könntest du Recht haben, vielleicht habe ich sie nicht so behandelt, wie es ihr zustehen würde. Aber die Dinge, die wir nicht haben können, erscheinen uns immer kostbarer als sie eigentlich sind, nicht wahr?“ Sein Blick blieb lauernd auf sie gerichtet, abwartend, während er fort fuhr: „Vielleicht ist mir aber auch ihre Art zuwider. Ich hatte noch nie viel für dreckige Huren übrig, wie du weißt. Vor allem, wenn sie ihre Herren hintergehen. Ihr Anblick verursacht mir Übelkeit.“
Jadzia starrte weiter geradeaus, und für jeden Unbeteiligten hätte sie gewirkt, als würden seine Worte an ihr abprallen. Aber Guy kannte sie inzwischen etwas besser, und ihre unterdrückte Wut strahlte von ihr ab wie die Hitze eines offenen Kamins. „Dann muss der Blick in den Spiegel eine unangenehme Erfahrung für dich sein, Herr“, antwortete sie, und der Hass in ihrer Stimme hätte jeden, der auch nur ansatzweise bei Verstand war, frösteln lassen. Aber Guy wusste, dass das der Kern des Problems war; Verstand war hier Mangelware. Eravier lachte. Insgeheim glaubte Guy, dass ihre Abscheu genau das war, was Eravier so an ihr gefiel und ihn davon abhielt, ihr den Mund zu verbieten. Sie verachtete ihn, und arbeitete doch für ihn, und er genoss ihre Feindseligkeit wie eine besondere Form der Huldigung. Er schien erst zufrieden zu sein, wenn sie innerlich raste.
Doch anscheinend hatte Eravier sie fürs Erste genug schikaniert, denn er entließ sie. „Ich habe einige Ideen, wie wir weiter vorgehen können“, erklärte er gelassen, „Aber dafür ist morgen noch Zeit. Geht zu Bett, ruht euch aus. Ich werde euch rufen, wenn ich euch brauche.“ Damit winkte er sie davon, und sie nickten beide zum Zeichen, dass sie verstanden hatten, und verließen sein Quartier.
Guy stapfte voran, und Jadzia folgte ihm. Ihr Weg führte sie beide am Lager der Wächter vorbei, und während sie stumm nebeneinander her gingen, wechselten sie zunächst kein Wort. Vielleicht war das ein Grund, warum sie sich gut verstanden. Sie verschwendeten keine Worte, wenn Gesten genügten. Und Guy hielt sich selbst nicht für den Hellsten, aber gemeinsam entwickelten sie doch, mit kurzen präzisen Erklärungen, die besten Taktiken. Guy hatte Jadzia zu schätzen gelernt, und er glaubte, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Nur deshalb begann er schließlich doch eine Unterhaltung. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Feindseligkeiten zwischen Jadzia und Eravier zunahmen, und diese Entwicklung gefiel ihm nicht.
„Du solltest ihn nicht ständig provozieren“, sagte er unvermittelt. Es war ein gut gemeinter Rat, aber Jadzia lächelte nur kalt.
„Er ist ein Großmaul, weiter nichts. Er sieht in anderen das, was er selbst an sich nicht ertragen kann. Das ist erbärmlich.“
Guy stutzte, widersprach aber nicht. Er war sich nicht sicher, was sie damit meinte, und er hielt es außerdem für gesünder, derartige Aussagen für sich zu behalten. „Keine Ahnung“, brummte er deshalb, „Übertreib es einfach nicht. Solange er nicht das hat was er will…“ „Er wird es bald haben. Sie werden uns die Arbeit abnehmen.“
Es gab Momente, in denen Guy sie nicht verstand. Seit sie Eravier ihre Dienste angeboten hatte, war diese Frau ein Rätsel für ihn. Sie war nicht bestechlich, sie hatte keine Laster, und sie war so zugänglich wie ein von Frost eingeschlossenes Gebirge. Er respektierte sie dafür, aber er konnte nicht behaupten, dass er sie durchschaute. Wieso war sie so sicher?
„Sie haben uns heute an der Nase herum geführt“, sagte er, „Warum sollte das beim nächsten Mal anders sein?“ „Das wirst du schon sehen“, antwortete Jadzia gelassen, und sie schien der Meinung zu sein, dass diese Aussage ausreichte, weil sie danach einfach schwieg. Das war ihre Art; sie verschwendete keine Worte, an niemanden.
Sie waren vor dem Lager der Wächter angelangt, und ohne ein weiteres Wort ging Jadzia daran vorbei und ließ Guy stehen. Er sah ihr eine Weile nach, bevor er sich kopfschüttelnd abwandte und sich schlafen legte.
Jadzia wiederum ging völlig selbstsicher durch Lager, während sie über ihre Strategie grübelte. Sie fragte sich insgeheim, wie lange Guy ihr noch nützen würde. Er war kein übler Kerl, aber bestimmte Zusammenhänge überstiegen seinen Verstand. Er begriff ihre Taktik rudimentär, aber das war auch schon alles. Was er nicht verstand war die Tatsache, dass sie weit im Voraus plante. Ihre nächste Aktion würde nicht anders verlaufen als die heutige. Vermutlich würde auch ihre nächste Finte ins Leere laufen. Es ging nicht darum zu gewinnen. Es ging darum, ihr Ziel in die Ecke zu drängen, nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie dafür Eraviers Stiefel lecken musste, nahm sie das in Kauf.
Ihr Endziel lag in weiter Ferne, aber doch war es in ihrem wachen Verstand bereits greifbar.
Am Ende, wenn sie Fourmi in der Hand hatte, würde Jadzia ihre Bedingungen diktieren.