Wasser umspülte seine Beine, eiskalt und schneidend. Er hatte das Gefühl über Scherben zu laufen, aber er so sehr er sich auch bemühte, durch den aufgewirbelten Schlamm konnte er den Boden unter seinen Füßen nicht erkennen. Die Strömung war stark und wollte ihm das Gleichgewicht nehmen, aber er kämpfte dagegen an, weil er wusste, dass er sein Ziel unbedingt erreichen musste. Nisha wartete auf ihn.
Sie hatte die Hände hinter dem Rücken verborgen, sah ihm stumm entgegen. Fische zogen an seinen Füßen vorbei, leuchtend orange wie Feuer. Etwas stimmte nicht mit dem Himmel. Die Sonne schien, aber der Horizont war tiefschwarz, ohne Mond oder Sterne. Er erreichte Nisha und streckte ihr seine Hand hin. Aber sie schüttelte nur den Kopf. Er griff nach ihrem Arm, hob ihre Hand, um sie zu ergreifen. Doch als er sie ansah war sie blutig gespickt mit Spiegelsplittern. Er versuchte dennoch sie zu ergreifen ohne sich zu verletzten, doch die nadelspitzen Scherben durchdrangen seine Handflächen völlig ohne Widerstand. Es schmerzte und kribbelte. „Ich wollte dir nicht wehtun”, sagte Nisha bedauernd, und senkte den Blick. Valion tat es ihr gleich und sah nach unten, in die wirbelnden Abgründe des Wassers…
Jemand rief seinen Namen und ließ ihn aus seinem Traum erwachen. Für einen Moment dachte Valion, Nisha spräche zu ihm, und automatisch fasste er nach seinen Händen, als erwarte er Blut und Glassplitter zu berühren. Aber er hatte nur auf seinem Arm gelegen und die Blutzufuhr zu seiner Hand behindert, die jetzt schmerzte und kribbelte. Noch im Halbschlaf drehte er sich um, ballte und streckte die betäubte Hand, um das lästige Gefühl darin zu verscheuchen. Er wäre dabei beinahe zurück in den Schlaf gedriftet, aber wer auch immer ihn geweckt hatte, blieb hartnäckig. „Val?”
Natürlich war es Jan, der leise nach ihm rief. „Val? Bist du wach?” Jetzt schon, hätte Valion fast patzig geantwortet, aber es gab vermutlich einen guten Grund, dass Jan ihn weckte. „Hmm?”, brummte er, während er sich verschlafen aufsetzte und gähnte. Um ihn herum herrschte absolute Finsternis, so dicht, dass er nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Gleichzeitig lauschte er nach draußen, aber vor dem Wagen herrschte Grabesruhe. Keine Schritte bewegten sich durch das Lager, keine Vögel sangen, das Knistern der Feuer war fast erstorben. Es musste früher Morgen sein, noch Stunden entfernt vom Sonnenaufgang.
„Du hast im Schlaf gesprochen”, sagte Jan etwas entschuldigend, irgendwo aus der Dunkelheit. „Ich bin davon aufgewacht.” „Oh.” Viel mehr fiel Valion im ersten Moment nicht dazu ein. „Keine Sorge, du warst nicht so laut, dass du alle anderen aufgeweckt hast”, beschwichtigte Jan ihn, „Ich glaube außer mir wird dich überhaupt niemand gehört haben.” Valion war sich da nicht so sicher, aber er beließ es dabei und fragte stattdessen etwas verlegen: „Was hab ich gesagt?” „Ich habe nicht alles verstanden, aber es ging wohl um Nisha, den Himmel, Fische… war vermutlich einer von diesen erotischen Träumen”, erklärte Jan, und der Schalk sprach trotz der frühen Morgenstunden deutlich aus seiner Stimme. Valion zog eine Grimasse. „Würde es dich umbringen auch mal ernst zu sein? Ich will doch nur wissen, ob ich irgendetwas Merkwürdiges gesagt habe.” Zum Beispiel etwas über eine Rebellion, dachte Valion unbehaglich. „Merkwürdiger als dein Gefasel über Fische? Nicht, dass ich wüsste. Kann ja sein, dass mein frühzeitiges Erwachen meine Wahrnehmung getrübt hat und du noch andere interessante Dinge gesagt hast, aber davon habe ich nun einmal nichts mitbekommen. Weck’ mich bitte das nächste Mal, bevor du anfängst zu träumen, damit ich alles mithören kann, ja?” Klang da ein leiser Vorwurf mit? Valion war es im Moment herzlich egal. Er wollte einfach nur weiterschlafen. „Es tut mir Leid”, seufzte er pro forma und legte sich wieder hin, um sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Er war alles, aber kein Nacht- oder Morgenmensch, und vor der Zeit geweckt zu werden hasste er mehr als alles andere. „Lass uns einfach weiterschlafen, ja? Ich werde versuchen von irgendetwas weniger Lautem zu träumen.” „Was? Jetzt bin ich einmal wach”, maulte Jan, obwohl sein Gähnen seine Worte Lügen strafte. „Vorhin konnte ich so schön einschlafen, nach meiner Gutenachtgeschichte.” Valion verdrehte im Dunkeln die Augen. „Und jetzt soll ich wieder drei Stunden lang reden, nur damit du wieder einschlafen kannst? Kannst du nicht von irgendeinem deiner austauschbaren Mädchen träumen?”, fragte er gehässig.
Er wartete eine Antwort ab, aber es herrschte plötzlich eisige, feindseelige Stille, und sofort befiel ihn ein schlechtes Gewissen. Er hatte es nicht so bissig gemeint, wie es am Ende geklungen hatte. Nachts geweckt zu werden machte ihn oft reizbar und manchmal regelrecht gemein. Genau diese spezielle Gemeinheit ließ ihn für einen Moment erwägen, die Stille zu wahren und einfach weiter zu schlafen. Sollte Jan doch schmollen, er teilte immer selbst reichlich aus, dann konnte er auch einmal einstecken. Aber dann gestand Valion sich ein, dass er mit der Vorstellung, Jan ernsthaft gekränkt zu haben, nicht einschlafen konnte.
Seufzend rappelte er sich auf, packte seine Decke und sein improvisiertes Kissen und tappte im Stockdunkeln so nahe wie möglich zu Jan hinüber, um sich dort im Schneidersitz niederzulassen. „He… ich… ich wollte nicht so grob sein. Ich bin nur müde,” Ein undeutliches Murmeln war die Antwort. „Bist du sauer?”, fragte Valion zaghaft. „Was denkst du denn?”, murmelte Jan von der anderen Seite und klang tatsächlich getroffen. „Denkst du es macht mir Spaß, ständig abserviert zu werden? Oder nie zurück geliebt zu werden? Ständig etwas Neues anzufangen, nur um dann zu sehen, dass es hoffnungslos ist? Du weißt gar nicht wie das ist, mit deiner kleinen, sauberen Romanze.”
Valion hatte sich vorgenommen, nicht wütend zu werden, weil er den Streit provoziert hatte. Er musste mit seinen Worten wirklich einen wunden Punkt bei Jan getroffen haben, denn so deutliche Worte fand er selten. Aber musste er gleich so verletzend werden? Valion fühlte sich plötzlich kein bisschen verständnisvoll mehr. Hilflos ballte er die Fäuste und antwortete mühsam beherrscht: „Du weißt nichts über mich und Nisha.” Er hoffte, dass Jan es dabei belassen würde, doch der fing gerade erst an: „Ach komm schon, was gibt es da groß zu wissen?”, spottete Jan bitter, „Du bist seit Jahren zu feige, ihr einen Antrag zu machen, und sie ist vor Langeweile vermutlich schon vertrocknet, und für dich ist das alles ein großes Drama. Ich sage es ja nicht gern, aber dein lächerliches Problem ließe sich in fünf Minuten lösen, wenn du nur mal den Mund aufmachtest.”
Das saß. Valion wollte etwas sagen, aber ihm fielen nicht annähernd die richtigen Worte ein. Er wollte sich gleichzeitig verteidigen und Jan einfach nur zum Teufel wünschen, aber stattdessen fühlte er sich nur verletzt. Schweigend legte er sich hin und zog sich die Decke über dem Kopf. Stille herrschte, und er weigerte sich die Tränen wahrzunehmen, die in seinen Augenwinkeln brannten. Es dauerte ein wenig, aber schließlich rief Jan wieder seinen Namen. „Val? Schläfst du?” „Nein…”, antwortete Valion leise. „Hör mal, ich hab gerade einen riesigen Haufen Mist erzählt”, sagte Jan zerknirscht. „Bist du sauer?” Valion dachte darüber nach, aber er wusste nicht genau, wie er sich fühlte. Vor allem war er enttäuscht. „Hältst du mich wirklich für so lächerlich?”, fragte er nach. „Das ist nicht… So meinte ich das doch nicht”, sagte Jan bedrückt, „Ich meine, zum Teufel, die meiste Zeit steh’ ich mir ja auch nur selbst im Weg und bekomme nichts auf die Reihe! Wenn es wirklich drauf ankommt kriege ich keinen Ton heraus, und im dümmsten Moment reiße ich die Klappe so weit auf…” Er hielt inne, schien sich selbst unsicher, was er sagen sollte, fuhr dann aber fort: „Es kam mir nur unfair vor, verstehst du? Du kannst mit Nisha zusammen sein, ganz einfach so.” Er schnippte mit den Fingern, um seinen Punkt zu verdeutlichen. „Und was habe ich? Einen Haufen Enttäuschungen, mit dem man mich auch noch bequem aufziehen kann.” Valion schüttelte im Dunkeln nur den Kopf. „So einfach ist es nicht mit Nisha”, sagte er leise. „Wieso?”
Unter anderen Umständen hätte Valion die Frage abgewiegelt, vielleicht das Thema gewechselt. Lag es an der Einsamkeit dieser frühen Morgenstunden? Oder daran, dass es so dunkel war, dass er das Gefühl Jan direkt gegenüber zu sitzen, statt nur durch eine Wand mit ihm zu sprechen?
Er richtete sich auf, starrte in die Schwärze und sagte leise, aber deutlich: „Weil Nisha nur mit Frauen zusammensein will.” „Was?”, fragte Jan völlig perplex, aber etwas Anderes schwang in seiner Stimme mit, das Valion nicht deuten konnte. Erkennen? Sympathie? Er konnte es nicht einordnen, aber die Worte flossen völlig von selbst aus ihm heraus.
„Sie ist mit Vara zusammen… ich glaube inzwischen sind es schon drei Jahre. Natürlich nur heimlich, ich war der Einzige, der Bescheid wusste. Na gut, vielleicht nicht ganz der Einzige, ich glaube, ihre Mutter hat etwas geahnt. Aber ihr Vater… er durfte es nie erfahren. Deshalb waren wir immer zusammen. Ich war ihre Notlüge.” Valion war darauf gefasst, dass Jan Fragen stellen würde, aber seine erste Frage war nicht die, die er erwartete. „Ihr habt das wirklich so lange verstecken können, drei Jahre? Wie habt ihr das gemacht?” Aus seiner Stimme sprach Faszination und… war das Neid? Valion zuckte hilflos mit den Achseln. „Ich habe Schmiere gestanden, dafür gesorgt, dass sie zusammen sein konnten. Zwei Mädchen allein, außerhalb des Dorfes, das ging nicht, aber zwei Mädchen und ein Junge, das war in Ordnung. Ich war ihr Beschützer, und man ging einfach davon aus, dass Nisha und Vara sich gegenseitig davon abhalten würden etwas Dummes mit einem Jungen anzustellen. Im Grunde haben sie das ja auch getan.” Jan lachte, wie Nisha und Vara es getan hatten, als Valion ihnen genau das selbe gesagt hatte. Er erinnerte sich gut daran, wie Nisha dabei auf Varas Schoß gesessen hatte, wie sie gelacht hatten. Das war gewesen, bevor alles schief gegangen war.
„Eigentlich hatten wir meistens nur Glück… aber das hat uns irgendwann unvorsichtig gemacht. Wir dachten irgendwann, wir würden einfach damit durchkommen. Und dann hat Nishas Vater es entdeckt. Damals habe ich Nisha fast verloren, und an dem Tag habe ich ihr gesagt, dass ich verliebt in sie bin.” „Moment mal, war das-”, begann Jan, doch Valion schnitt ihm das Wort ab. „Ja. Das war der Tag, als ich sie aus dem Wasser gezogen habe. Zwei Tage vorher hatte ihr Vater sie gesehen, und… es war schlimm.” Er schluckte trocken. „Sie hat es mit Absicht getan, verstehst du? Sie ist absichtlich in die Strömung gelaufen.”
Vielleicht war es nur Glück, oder Zufall, aber der Fluss ließ sie ziehen. Sie entkamen dem tückischen Sog des Wassers, fanden endlich wieder Grund und wateten husten und Wasser spuckend zum Ufer. Sie kletterten und krochen das sandige Ufer hinauf, bis sie endlich Gras unter ihren Füßen spürten und sich schwer atmend fallen ließen.
Nisha rieb sich geistesabwesend die Hüfte, wandte sich dann Valion zu, wollte etwas sagen, aber schien dann nicht zu wissen was. Wie benebelt starrten sie sich an, dem Tod knapp entkommen. Stattdessen war es Valion, der als erster sprach, als er plötzlich, heftiger als er wollte Nisha anschrie: „Was zum Teufel war nur los mit dir?! Du hättest uns fast umgebracht!“ Nisha schreckte zurück, fasste sich aber erstaunlich schnell. „Du hättest mich nicht retten dürfen“, sagte sie mit abgewandtem Blick und strich sich Sand und Wasserpflanzen von ihrem Kleid. „Wieso, du willst mir doch nicht sagen, dass du mit Absicht in die Strömung geraten bist?!“, fragte Valion wütend, aber auch ungläubig. „Doch“, antwortete Nisha kalt. „Er hat es herausgefunden, verstehst du? Alles.“
Das traf Valion unvorbereitet. Sein Kopf war plötzlich völlig leer. Die Angst, dass Nishas Geheimnis eines Tages entdeckt werden würde war mit einem Schlag Wirklichkeit geworden. „Wie?“, war das einzige, das er im ersten Moment heraus brachte. „Er hat uns gesehen. Vorgestern.” Valion erinnerte sich gut daran. Sie waren zu dritt unterwegs gewesen, hatten Feuerholz und Reisig besorgt. Das Schneiden und Binden der Baumäste war eine ermüdende und langwierige Aufgabe, doch zusammen ging die Arbeit schneller, weil sie sich gegenseitig zur Hand gehen konnten, und so hatten sie die Erlaubnis von ihren Eltern bekommen, gemeinsam loszuziehen.
Es war ein kühler, aber sonniger Tag gewesen, und obwohl sie hart anpackten, hatten sie trotzdem Zeit für Späße und Unterhaltungen gehabt. Vor allem Vara war übermütig gewesen und hatte so völlig ungeniert mit Nisha geschäkert, dass Valion allein das Zusehen rote Ohren bescherte. Aber anscheinend waren sie dabei nicht unbeobachtet geblieben. „Warum war er überhaupt dort?”, fragte Valion, und Nisha lachte bitter auf. „Er dachte, dass Vara uns irgendwann allein lassen würde und wollte sichergehen, dass meine Ehre nicht in Gefahr ist. Ist das nicht zum Schreien?!” In ihren Augen sammelten sich Tränen, und Valion wusste nicht, ob er Nisha in den Arm nehmen sollte oder nicht. „Das einzig Gute ist, dass ihm völlig egal ist was aus Vara wird, weil er ihren Vater sowieso nicht leiden kann. Oh Gott, er hat mich so angeschrien…”, sagte sie völlig aufgelöst. „Ganz langsam”, versuchte Valion sie zu beruhigen, „Was hat dein Vater gesagt?” Doch wenn er gedacht hatte, dass er Nisha mit seinen sinnlosen Worten beschwichtigen konnte, hatte er sich getäuscht. „Kannst du dir das nicht denken?!”, brach es zornig aus Nisha heraus. „Er hat gesagt, ich wäre eine Schande, eine Ausgeburt der Hölle und dass der Himmel Mutter jetzt dafür bestrafen würde. Dass sie wegen mir krank ist und als Strafe für meine Sünden sterben wird!“
Für einen Moment blieb Valion der Mund offen stehen, und er wusste nicht was er sagen sollte. Konnte Nishas Vater wirklich so verletzend sein, die Krankheit von Nishas Muter gegen ihre eigene Tochter verwenden? Er wollte es nicht glauben, und wusste doch, dass Nisha ihn niemals darüber belügen würde. „Das stimmt nicht, Nisha“, protestierte er, aber er sah gleichzeitig, dass Nisha ihm nicht glaubte. Nicht jetzt. Der Schmerz und die Drohung ihres Vaters saßen zu tief. „Und was, wenn er Recht hat?”, fragte sie heftig. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir, hat nie mit mir gestimmt! Vielleicht ist es ja so! Vielleicht bin ich an Mutters Unglück Schuld!” Ihr ganzer Körper bebte jetzt, und Valion wünschte er hätte irgendetwas sagen können um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er wusste, dass Nisha ihre Mutter liebte, und dass die Vorstellung ihr Unglück zu bringen für sie unerträglich war. Aber er wusste auch, dass Nishas Mutter ihre Tochter abgöttisch liebte. Nisha war das einzige, so tapfer erkämpfte Kind aus einer Reihe von totgeborenen Kindern, die ihrer Mutter so viel Kummer und Krankheit bescherten.
Dann sah er den Blutfleck, der sich langsam, wie eine aufblühende Blume, auf Nishas Kleid zeigte. „Nisha…” Jetzt sah sie es auch, ihre Augen wurden groß und sie schwankte leicht. „Verdammt, verdammt”, fluchte sie leise. „Valion, hilf mir!” Er sprang auf und half ihr auf die Füße, obwohl er fürchtete, dass ihr schwindelig werden würde. Nisha hob ihren Arm zum Mund und biss einmal kurz und heftig hinein. „Es geht schon, es geht, hilf mir einfach das loszuwerden…!”, sagte sie, und Panik lag in ihrer Stimme, während sie unbeholfen ihre Jacke abstreifte. Vorsichtig kniete Valion sich hin, ergriff den nassen Saum von Nishas Kleid und zog es vorsichtig über ihren Kopf. Darunter klebte ihr Unterhemd dicht an ihrem Körper, nass und von der Hüfte an vollgesogen mit Blut. „Wie weh tut es?”, fragte er mit schwankender Stimme. Sein Puls hämmerte laut in seinen Ohren, und er musste sich zwingen langsam und gleichmäßig zu atmen. „Ich weiß nicht, es fühlt sich taub an, das Wasser war so kalt”, sagte Nisha. „Kannst du… kannst du versuchen mein Hemd auszuziehen? Langsam? Ich glaube mir wird gerade schlecht.” Sie klang abwesend und wie benebelt. „Was ist wenn jemand kommt?”, fragte Valion beunruhigt, aber Nisha schüttelte nur den Kopf. „Schlimmer kann es jetzt auch nicht mehr werden.” Vorsichtig, mit viel Fingerspitzengefühl, hob er ihr Unterhemd an und löste den Stoff, der auf der Haut klebte. Nisha sog gequält die Luft ein. Wenigstens trug sie heute keine Schnürbrust, aus der er sie heraus schälen musste. Er zwang sich durchzuatmen, zog ihr Hemd schnell über ihren Kopf und zerknüllte es zu einem Ballen, bereit den Blutfluss sofort zu stoppen. Dann sah er auf die Wunde.
Er sah eine Menge aufgeriebene Haut, aus denen in dünnen Fäden Blut sickerte, und ihre ganze Körperseite war vom unteren Rippenbogen bis zu den Hüftknochen blau und violett angelaufen. Aber alles schien oberflächlich, und das Wasser, das aus ihrer Kleidung ran musste das Blut verdünnt haben, sonst hätte es sich nicht einmal so schnell ausgebreitet. „Wie schlimm ist es?”, fragte Nisha gepresst. „Du wirst lachen-” „Wollen wir wetten?!” „-aber es sieht gar nicht so schlimm aus. Hast du Schmerzen beim Atmen?” „Nein. Ich glaube wenn Rippen gebrochen wären, würde ich es merken.” „Ein Verband reicht vermutlich. Warte.” Er faltete das Unterhemd auseinander und legte es zu einem ordentlichen Streifen zusammen, dann schlang er es um ihre Hüfte und verknotete es, so gut es ging. Nisha sah ihm zu und betastete schließlich vorsichtig sein Werk. „Ich hoffe es hält ein bisschen”, sagte sie zweifelnd, und rieb sich dann fröstelnd die Arme. „Mir ist kalt.” „Du hast auch am ganzen Körper Gänsehaut”, stellte Valion fest.
Erst jetzt, mit reichlicher Verspätung, ging ihm plötzlich auf, dass Nisha bis auf einen Verband splitterfasernackt vor ihm stand. Ihr musste der selbe Gedanke gekommen sein, weil sie plötzlich einen roten Kopf bekam. Trotzdem drehte sie sich nicht schamhaft um, sondern verschränkte nur unsicher die Arme vor dem Körper. „Äh… wir sollten… ich meine, kannst du mir helfen, mich wieder anzuziehen?”, fragte sie unbehaglich, und Valion nickte. Schnell hob er ihr Oberkleid vom Boden auf und klopfte es ab, wobei er sich bemühte Nisha nicht anzustarren und den Blick gesenkt hielt. Sie war verletzt und verzweifelt, und das Letzte, was sie jetzt brauchte war die falsche Art von Aufmerksamkeit, deshalb reicht er ihr nur ihr Kleid, das sie sich schnell überzog.
So nass und schmutzig hing es wie ein Sack an ihr, und der Verband beulte die Taille aus. Es sah ziemlich abenteuerlich aus, und Nisha lächelte Valion zu. „Warte nur, bis Vara das sieht. Darüber lacht sie sich kaputt”, sagte sie. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, kehrten der Schmerz und die Verzweiflung in ihr Gesicht zurück, und frische Tränen liefen ihr über die Wangen. „Vielleicht sehe ich sie nachher zum letzten Mal. Vater hat gesagt, dass er mich am liebsten auf den Hof meines Onkels schicken würde, damit mir dort der Kopf zurecht gerückt wird”, schluchzte sie. „Wie soll ich das denn ohne sie aushalten, Val?! Ich liebe sie doch!”
Unvermittelt fiel sie in seine Arme und klammerte sich an ihn, und zaghaft legte er eine Hand auf ihr nasses Haar und streichelte es. Sie weinte so heftig, dass es ihr schmaler Körper bebte, und er musste sich zusammenreißen, seine eigenen Tränen zurückzuhalten. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er sie wirklich liebte, und wie weh es tat, sie so verzweifelt zu sehen. Er musste etwas tun, sie irgendwie beschützen.
„Hast du irgendetwas zu deinem Vater gesagt?”, fragte er. „Nein”, schluchzte Nisha, „er hat mich ja überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, als er mich zur Rede gestellt hat. Ich hatte viel zu viel Angst, ich hätte ja alles nur schlimmer gemacht!” „Vielleicht kann ich mit ihm reden”, sagte Valion, aber Nisha schüttelte nur den Kopf. „Er hat gesagt, dass er dich verprügelt, wenn er herausfindet, dass du etwas damit zu tun hast. Er hat mich direkt danach gefragt, ob du mich »angestiftet« hast, aber ich hab nicht geantwortet.”
„Genau, ich bin Schuld!”, sagte Valion, und er hätte beinahe aufgelacht. Die Lösung stand ihm plötzlich klar vor Augen, und es war beinahe lächerlich, wie simpel es war. Nisha sah irritiert zu ihm auf. „Woran bist du Schuld?”, fragte sie perplex und rieb sich Augen. „Ich habe dich dazu angestiftet, Vara zu küssen. Und du hast es getan, weil du mich beeindrucken wolltest. Weil du verliebt in mich bist. Verstehst du, wir können die Geschichte einfach so drehen, wie wir wollen.”
Nisha starrte ihn für einen Moment nur an, während die Gedanken in ihr arbeiteten, aber dann lächelte sie unsicher. „Vielleicht… vielleicht würde er das sogar glauben. Ich meine, er hat ja selbst gesagt…” Sie unterbrach sich, und fügte dann nicht ohne Sarkasmus in der Stimme hinzu: „Er hat ja sowieso gedacht, dass du mich entehren willst. Dann bekommt er eben genau das, was er erwartet.” Doch ihr Lächeln erlosch sofort wieder, und sie sah besorgt zu Valion. „Aber das geht nicht, du wirst riesigen Ärger kriegen! Mein Vater wird dich grün und blau schlagen dafür! Das können wir nicht machen.” Valion lächelte und zuckte mit den Schultern. „Das macht mir nichts aus. Ist ja nicht so, als könnte ich das nicht aushalten.” Er sah, dass Nisha damit überhaupt nicht glücklich war, aber sie schien es zu akzeptieren, weil sie keinen anderen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage wusste. „Dazu muss er dir aber erst einmal glauben”, wandte sie jetzt ein, “Wir müssten so tun, als wären wir ineinander verliebt. Schaffen wir das? Ich meine, wir sehen uns zwar andauernd, aber es gehört ja noch mehr dazu als sich nur zu kennen. Ich denke, ich könnte so tun als ob, aber schaffst du das auch?”
Sie hatte wirklich keine Ahnung. Und konnte er es ihr verübeln? Sie war verliebt. Ihre ganze Welt drehte sich nur um einen einzigen Menschen, und das war nunmal nicht er. Machte Liebe wirklich so blind? Vielleicht ja. Und wer wusste schon, ob es jemand gab, der Valion betrachtete und sich wünschte, von ihm bemerkt zu werden, während er Tag und Nacht an niemand andere als Nisha denken konnte?
„Nisha, ich bin in dich verliebt. Schon sehr lange”, sagte er sanft. Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck, wie er sich veränderte - Unglauben, Zweifel, Erkenntnis und Bedauern, jede Emotion zog völlig klar über ihr Gesicht, und es war fast schmerzhaft, wie sehr er sich darin wiedererkannte und wie sehr er alles an ihr liebte. Sie waren sich innerlich so unglaublich ähnlich.
„Das wusste ich nicht”, flüsterte sie erschrocken. Woran dachte sie jetzt? Daran, dass sie jahrelang vor seinen Augen Vara umarmt und geküsst hatte? Dass sie ihn gebeten hatte, für sie beide Schmiere zu stehen, und dass er immer da gewesen war, um sie zu unterstützen? Aber das wollte er nicht. Sie sollte nicht denken, dass er das alles nicht gern getan hatte. „Du kannst nichts dafür, ich habe ja nie etwas gesagt”, beschwichtigte er sie. „Ich hätte es merken müssen, ich dumme Kuh!”, sagte Nisha tonlos. Sie sah jetzt wütend aus, vermutlich wütend auf sich selbst, und wandte sich von ihm ab. Er wollte ihre eine Hand auf die Schulter legen, aber sie schüttelte sie unwirsch ab.
Wind kam auf, und trug Stimmen an ihre Ohren. Jemand rief ihre Namen, weiter flußaufwärts. Man suchte nach ihnen. Valion wandte sich in die Richtung und versuchte ihre Retter zu erspähen, aber noch war niemand in ihrer Nähe. „Sie werden bald hier sein”, sagte er beruhigend, aber Nisha achtete nicht darauf. Sein Geständnis hatte sie völlig aufgebracht, ohne dass er wusste warum.
„Nisha, es ist nicht deine Schuld”, begann er erneut. „Ich wollte, dass du glücklich bist, verstehst du? Mir ist nichts wichtiger als das.” Sie wandte sich zu ihm um, die Arme vor dem Körper verschränkt, und schüttelte den Kopf, eine mitleidige Geste, die ihn irgendwie traf. „Tu das bitte nie wieder. Hilf mir nie mehr.” „Aber-”, wollte er protestieren, doch sie unterbrach ihn unerwartet heftig: „Das wird das letzte Mal sein, dass du mir einen Gefallen tust, verstanden? Danach nie wieder. Wir ziehen es mit dieser Geschichte durch, und danach sind wir keine Freunde mehr. So lange, bis du mich vergessen hast”, sagte sie fest.
„Sie sind da drüben!”, schallte eine Stimme aus der Ferne zu ihnen herüber, aber sie beide beachteten sie nicht. „Warum?” Valion begriff es nicht. „Was habe ich falsch gemacht? Warum sollen wir keine Freunde mehr sein?”, fragte er ungläubig. Sie zögerte, ließ die Arme hilflos sinken, und er sah, dass sie etwas Wichtiges sagen wollte, aber nicht wusste wie.
„Du bist zu weich, Val”, sagte sie schließlich, hob die Hand und streichelte über seine Wange. „Du lässt sich ausnutzen, und verletzt dich damit selbst. Ich hätte es merken müssen, aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Das muss aufhören. Wir dürfen das beide nicht mehr zulassen.” „Aber ich liebe dich, Nisha”, sagte Valion verletzt. „Ich dich doch auch, Val”, erwiderte Nisha traurig. „Denkst du, sonst würde es mir etwas ausmachen, dass ich dich so furchtbar ausgenutzt habe?”, fragte sie. Und dann küsste sie ihn, als Nishas Vater und ihre Freunde sie fanden, und Valion wusste nicht einmal, ob sie es getan hatte um ihren Vater zu täuschen, oder als letztes Zugeständnis an seine Gefühle.
Eine Weile, nachdem Valion seine Erzählung beendet hatte, schwiegen sie nur, aber es war Valion recht. Die Erinnerung an diesen einen Tag wühlte ihn immer noch auf, und er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. Doch jetzt fühlte er sich wieder ruhiger, und zudem war nicht nur seine eigene, sondern anscheinend auch Jans Wut verraucht.
„Was für eine Geschichte”, murmelte Jan schließlich. „Seid ihr damit durchgekommen?” „Ja, obwohl ich eine ziemliche Tracht Prügel dafür bezogen habe”, antwortete Valion. „Erst von Nishas Vater, und dann von meinem. Obwohl mein Vater mir eigentlich nur eine Ohrfeige gegeben und mich angebrüllt hat, was mir einfiele, so mit Mädchen umzuspringen.” Jan lachte leise. „Furchtbar, ein Mädchen dazu anzuhalten, ein anderes zu küssen! Du Wüstling!” Valion grinste ebenfalls, froh, dass sie wieder miteinander scherzten. „Es war ihnen vermutlich lieber, die Geschichte von dem Streich zu glauben als irgendetwas anderes.” „Das kenne ich irgendwoher”, murmelte Jan, doch bevor Valion darauf eingehen konnte, fragte er weiter: „Und danach? Hat Nisha dir wirklich die Freundschaft gekündigt?” „Für eine Weile, ja. Aber sie hatte Recht, ich lag ihr viel zu sehr zu Füßen. Ich meine, die erste Zeit war ziemlich hart und sie wird immer etwas Besonderes für mich sein, aber ich bin darüber hinweg.” Jan seufzte, und meinte dann zerknirscht: „Tut mir Leid, dass ich vorhin diesen ganzen Blödsinn geredet habe. Scheint so, als hättest du auch deinen Anteil an Enttäuschungen einstecken müssen. Ich war nur… ich meine, so kenne ich dich gar nicht.” „Ich glaube, ich komme ohne Schlaf nicht gut aus”, meinte Valion kleinlaut, „Vor allem nachts. Apropos Nacht… es wird schon Morgen.” „Was? Im Ernst?”, fragte Jan, aber dann stimmte er zu. „Ja, es ist gar nicht mehr so düster. Haben wir wirklich schon wieder so lange geredet?” „Scheint so”, meinte Valion und musste lächeln. „Du hörst mir eben wirklich gerne zu.” „Wenn es nur das wäre”, murmelte Jan kaum hörbar. „Was sagst du?”, fragte Valion irritiert nach, aber Jan raschelte nur mit seiner Decke und verkündete scheinbar aus dem Nichts: „Lass uns schlafen. Zumindest noch ein paar Stunden. Sonst werfen sie uns morgen beide raus, weil wir aussehen als wären wir in der Nacht gestorben.”
Merkwürdig, dachte Valion, aber erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie müde er eigentlich war, und wie wenig er Lust hatte, Jan auszufragen. Für den heutigen Tag und die heutige Nacht war wahrlich genug passiert. Also legte er sich sein Stoffbündel zurecht, breitete seine Decke erneut über sich aus und schloss die Augen.
Aber der Schlaf ließ auf sich warten. Obwohl er müde war, ließ ihn seine eigene Geschichte nicht los. In Gedanken kehrte er immer wieder zu dem Moment zurück, an dem er Nisha im Arm gehalten hatte. Wie sie ihn unschuldig gefragt hatte, ob er jemand vorspielen könnte, dass er sie liebte. Ihr Blick ging ihm nicht aus dem Sinn - so fragend, so ahnungslos. Woran hatte er gedacht? Dass es vielleicht jemand gab, den ihn betrachtete und sich wünschte, von ihm zurückgeliebt zu werden. Oder dass er ihn zumindest bemerkte. Warum war Jan so schrecklich verletzt gewesen, als er ihm gesagt hatte, er solle an eines seiner Mädchen denken?
Du weißt gar nicht wie das ist, mit deiner kleinen, sauberen Romanze, sagte Jan in seinem Kopf. Denkst du es macht mir Spaß, nie zurück geliebt zu werden?
Er hatte Jan ungewollt verletzt.
Du kannst mit Nisha zusammen sein, ganz einfach so.
Er hatte Jan verletzt, weil…
Plötzlich setzte Valion sich gerade auf und starrte in die Dunkelheit.
Warum war er nur so ein Volltrottel? Er musste doch Wachs in den Ohren haben, und Stroh im Kopf. Warum hatte er eigentlich nie richtig zugehört? Hatte er sich wirklich nur von Jans Geschichten in die Irre führen lassen, obwohl sie überhaupt nichts bewiesen? Er musste sich eingestehen, dass das vermutlich stimmte. Und dann war da noch der Fakt, dass Jan immer den Eindruck erweckte, gerade heraus zu sprechen und keine Geheimnisse zu haben. Aber das war nur Fassade. Wenn es wirklich drauf ankommt kriege ich keinen Ton heraus, das hatte er doch selbst gesagt.
Langsam, leise, ließ Valion sich zurücksinken. Er hätte Jan gern gefragt, und gleichzeitig hatte er Angst davor. Was, wenn er sich irrte? Würde Jan ihn auslachen? Alles abstreiten? Und selbst wenn nicht, Valion selbst wusste überhaupt nicht, was er selbst darüber denken sollte. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass ein geheimer Teil seines Lebens hier, völlig losgelöst von allem was er kannte, plötzlich so wichtig werden könnte.
„Jan, schläfst du?”, flüsterte er leise. Es kam keine Antwort. Wenn Jan wach war, dann gab er es nicht zu erkennen. Wie auch immer die Antwort lautete, er würde sie erst morgen bekommen.
Aber was sollte er überhaupt fragen? Ob Jan jemand kannte, der so ähnlich war wie Nisha, in der Hoffnung, dass Jan die Chance nutzte um sich zu offenbaren? Oder sollte er gerade heraus fragen, ob Jan nicht nur Beziehungen mit Mädchen geführt hatte? Sollte er ihn nach einer der vielen, vielen Andeutungen fragen, die er gemacht hatte?
Oder konnte er wirklich den Mut aufbringen, die Frage direkt zu stellen?
Jan, bist du wie ich?
Er schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken, aber seine Fragen verfolgten ihn bis in seine Träume.
Er verschlief den Morgen und den Mittag. Als er aufwachte, waren es nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenuntergang, und er hatte einen Bärenhunger. Sein erster Gedanke, als er sich gähnend herum drehte und ins Licht blinzelte, war ein riesiges Mittagessen. Sein zweiter Gedanke war die Feststellung, dass der Wagen nicht mehr in Bewegung war. Wo auch immer sie ihr Lager aufschlagen wollten, dieser Ort schien erreicht zu sein, was auch bedeutete, dass sein Dasein als Sklave heute, mit seiner Zuteilung, erst richtig beginnen würde.
Sein dritter Gedanke galt zwangsläufig Jan, denn der hatte anscheinend schon darauf gelauert, dass Valion aufwachte. „Na, endlich ausgeschlafen?”, begrüßte er ihn gut gelaunt. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für dich - sie haben dein Frühstück zwar nicht wieder mitgenommen, aber es dürfte jetzt verdammt trocken sein. Und sie haben angedroht, dass es erst wieder was gibt, wenn wir neu zugeteilt wurden.” Valion stöhnte und rappelte sich auf. „Das geht ja gut los”, murmelte er mißmutig und griff sich sein Frühstück, eine Scheibe grobes Brot und einen schmalen Streifen getrocknetes Fleisch, beides tatsächlich schon ziemlich trocken. „Immer noch so mürrisch, nach so viel Schlaf?”, fragte Jan nach. „Zwischen dich und deinen Schlaf darf sich wohl wirklich niemand stellen. Vermutlich sollte ich mir das merken, vielleicht schlafen wir ja bald zusammen.”
Valion verschluckte sich bei diesem Kommentar an seinem Brot und brach in unkontrollierten Husten aus. Sein Verstand hatte, noch nicht ganz wach, eine abrupte und ziemlich direkte Verbindung gezogen und ihm prompt die passende Vorstellung von ihm und Jan zusammen in einem Bett geliefert. Am liebsten hätte Valion sich selbst geohrfeigt. Kaum hatte er einen wilden Verdacht, drehte seine Vorstellungskraft völlig frei. Dabei kamen ihm seine Überlegungen von gestern jetzt, am helllichten Tag, überhaupt nicht mehr so plausibel vor. Was hatte er schon, außer ein paar vagen Andeutungen von Jan?
„Lebst du noch da drüben?”, fragte Jan lachend, während Valion versuchte, nicht an einem Brotkrümel zu ersticken. Schließlich brachte er ein krächzendes „So halbwegs” hervor. Er entschloss sich, erst sein Frühstück zu essen und sich danach zu unterhalten, und verschlang alles möglichst schnell. Erst dann sprach er weiter: „Wie lange denkst du dauert es, bis sie uns raus lassen?” „Wir stehen schon eine Weile. Kann eigentlich nicht mehr so lange dauern”, meinte Jan und schien aufgeregt zu sein. Valion wiederum passte das gar nicht. Er wollte mindestens eine seiner Glasscherben dabei haben, bevor er nach draußen ging, nur zur Sicherheit, und außerdem hatte er gehofft Zeit zu haben, sich an das Gespräch mit Jan heran zu tasten. Er wollte dieses Gespräch lieber jetzt führen, mit der Sicherheit, dass er sich im Zweifelsfall zu einem Ball zusammenrollen und vor Scham sterben konnte, ohne dass Jan ihn direkt dabei beobachtete. Schon jetzt hatte er das untrügliche Gefühl, dass er von Angesicht zu Angesicht keinen Mut haben würde, Jan danach zu fragen.
Deshalb sagte er nur neutral: „Verstehe”, und machte sich daran, das Versteck seiner Splitter zu suchen.
Jan ließ sich von seinem mangelnden Enthusiasmus indes nicht beeindrucken. „Ich kann es gar nicht erwarten, hier raus zu kommen, ganz zu schweigen davon, dich tatsächlich mal zu sehen.” „Warum?”, fragte Valion und zog schnell seine kleine Sammlung von Glassplittern aus ihrem Versteck. Die scharfkantigen Bruchstücke zu sehen gab ihm etwas Sicherheit. Was auch auf ihn zu kam, im Ernstfall war er nicht wehrlos. „Na, du musst mir doch deinen Buckel und deine schwarzen Zähne präsentieren”, ulkte Jan. „Nur, wenn du mir deine riesigen Warzen zeigst”, schoss Valion zurück, und Jan lachte auf. „Oh Mann, hoffentlich trennen sie uns nicht. Das würde ich nicht überleben”, sagte er, „Die anderen sind bestimmt alle Langweiler im Vergleich zu dir.”
Valion schluckte trocken. Zum Teufel, warum eigentlich nicht? Die Zeit lief ihm weg, und dieser Moment war so gut wie jeder andere. „Jan? Kann ich dich was fragen?”, begann er. Jan stutzte hörbar, aber antwortete völlig sorglos: „Ja, na klar, was denn?” Valion holte tief Luft und wollte gerade seine Frage stellen, als sich auf einmal Schritte näherten. Wächter, wenn er es richtig deutete, zwei oder drei. „Ich glaube es geht los, Val”, sagte Jan hastig. „Verdammt”, fluchte Valion. Er stand mitten im Raum, mit einer Sammlung von Gegenständen, die man getrost als Waffen bezeichnen konnte, und hatte sich überhaupt noch nicht überlegt, wo er sie verstecken wollte. Er wollte die Splitter keinesfalls einfach so in die Hosentaschen oder am Ende in seine Schuhe schieben. Kurzentschlossen zog er die zwei kleinsten Scherben aus dem Stoffbündel, wickelte den Stoff komplett ab und schob die restlichen Scherben in sein Versteck zurück. „Wir sollen zuerst den hier holen”, hörte er eine Stimme sagen, und war sich sicher, dass er damit gemeint war. Er wickelte den Stoff um die Scherben, und schob sie sich in den Mund.
Es war eine völlig verrückte Idee, aber es war das Einzige, was ihm einfiel. Nur einen Moment später kam einer der Wächter herein. Er sah Valion nicht einmal an, und statt seine Fußfessel aufzuschließen, löste er die Kette aus ihrer Verankerung am Wagen. „Mitkommen”, knurrte er, und Valion trabte stumm hinter ihm her und schliff die lange Fußkette mit sich.
Diesmal achtete er darauf wohin er trat, als er den Wagen verließ, und er schirmte die Augen ab, um sich möglichst schnell an das helle Licht zu gewöhnen. Wenn er fiel und nicht Acht gab… Alles in ihm sträubte sich bei dieser Vorstellung.
Er erhielt einen groben Stoß von einem anderen Wächter, und für einen panischen Moment glaubte er, vor Schreck würde er die Glassplitter verschlucken. Doch er riss sich zusammen und ließ sich weiter treiben, zur Seite des Wagens, wo man ihn zu Boden stieß und erneut fest kettete. Valion atmete flach und wünschte sich, dass sie endlich verschwanden, aber einer der Hünen trat mit Handschellen auf ihn zu, packte grob seine Arme, ohne auf das immer noch verbundene Handgelenk zu achten, und verschloss sie. „Was ist mit dem anderen?”, fragte der zweite Wächter seine Kameraden und deutete auf die kleine Zellentür, hinter der Jan steckte. „Später”, meinte ein anderer. „Befehl, damit sie sich nicht gegenseitig helfen können und am Ende fliehen.” „Gut, dann machen wir jetzt Meldung” Die Wächter trabten ab, und Valion wartete mit klopfendem Herzen, bis sie sich entfernt hatten, dann spuckte er schnell die Splitter aus und steckte sie in die lockere Erde zu seinen Füßen. Nur zwei silbrige Spitzen erinnerten daran, dass sie dort waren, und er verbarg sie mit etwas loser Erde.
Erst jetzt wagte er es, sich umzusehen.
Die Umgebung hatte sich im Vergleich zu den Tagen zuvor nur ein wenig verändert. Die Landschaft war genauso grün und saftig, aber weniger hügelig. Neu war, dass in unmittelbarer Nähe lockere Buchenwälder begannen, die sich in einiger Entfernung zu einem dichten Mischwald verdichteten. Einige Gruppen aus Bäumen und Büschen rahmten den Lagerplatz ein und versperrten Valion nach Westen hin die Sicht. Ganz in der Nähe, in seinem Rücken, hörte er das stetige Rauschen eines Flusses. Ob es der selbe war den er zuvor gesehen hatte, vermochte er indes nicht zu sagen. Die Männer hatten ihn an der Seite des Wagens angekettet, die abgewandt vom Großteil des Lagers war. In seinem Rücken hörte er genau den selben geschäftigen Lärm wie immer, aber in seinem Sichtfeld fehlte jegliche Betriebsamkeit. Dabei war der Platz vorbereitet - zwei Feuer brannten, und eines davon erwärmte einen Kessel, der nur Wasser zu enthalten schien, denn er verströmte keinerlei Geruch. Es lagen Werkzeuge bereit, die er aus der Entfernung nicht identifizieren konnte, und auch einige Flaschen und Krüge mit undefinierbarem Inhalt.
„Val? He, hörst du mich?” Jan rief nach ihm, und Valion stand schnell auf und versuchte, so nahe wie möglich zu der Tür seiner Zelle zu gelangen. Er kam erstaunlich weit, was er vermutlich seiner Fußkette zu verdanken hatte - sie bot ihm wesentlich mehr Spielraum als die Handschellen zuvor. Er schaffte es sogar, mit einem Fuß auf das Trittbrett des Wagens zu steigen, das zu der Tür gehörte. „Hier bin ich”, sagte er. „Was für eine Schweinerei, was? Da lassen sie dich raus, und mich trotzdem hier drin versauern”, nörgelte Jan, aber aus seiner Stimme klang Unsicherheit. Ob er sich heimlich Sorgen machte, doch noch zurückgelassen zu werden? „Keine Sorge, die holen dich noch. Sie haben gesagt, du kommst erst nach draußen, wenn es los geht”, sagte Val aufmunternd. „Na hoffentlich”, seufzte Jan. „Du klingst übrigens ziemlich nah.” „Ich stehe auch direkt vor deiner Tür”, meinte Valion und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als Jan verdutzt fragte: „Was, im Ernst? Meine Güte, so nahe waren wir uns ja noch nie, ich bekomme fast Angst! Nicht näher, Bandit!” „Na gut, dann geh’ ich eben wieder”, sagte Valion zum Scherz. „Untersteh dich. He, siehst du das?”, fragte Jan aufgekratzt. Einen Moment später schob sich eine schmale, blasse Hand durch das Gitter, das ganz oben in der Tür eingelassen war. Valion zögerte einen Moment, denn die Kette zwischen seinen Handschellen war im Vergleich zu vorher tatsächlich sehr kurz. Aber Jan hängen lassen wollte er ebenfalls nicht. Notgedrungen hob er beide Arme so weit es ging über den Kopf. Er musste sich etwas strecken, aber er bekam Jan zu fassen, und ihre Hände verschränkten sich ineinander.
Es war das seltsamste Gefühl, das er jemals erlebt hatte. Er kannte immer noch nicht Jans Gesicht, er hielt gerade zum ersten Mal in seinem Leben seine Hand, und hatte doch das Gefühl, dass sie sich schon seit Jahren kannten. In diesem Moment kamen ihm diese wenigen Tage, die sie zusammen verbracht hatten vor wie eine Ewigkeit. Seine Schulter schmerzte, und er musste seine Arme unbequem an der Holztür stützen, aber er konnte nicht loslassen. Wollte nicht loslassen. Er lehnte seine Stirn an die grobe Holztür und stellte sich vor, er könnte hindurch blicken, direkt in Jans Gesicht sehen. Sein Herz schlug dabei so schmerzhaft in seiner Brust, dass es ihm fast die Luft abdrückte.
Für einen Moment schwiegen sie beide, dann fragte Jan unsicher: „Du bist gefesselt, oder? Das muss ziemlich unbequem sein. Ich weiß nicht, wenn du loslassen willst…” „Willst du denn loslassen?”, fragte Valion. „Nicht unbed-” „Ich auch nicht.”
Es erstand noch eine Pause, und Valion spürte regelrecht, wie Jan all seinen Mut zusammen kratzte, und in diesem Moment tat er ihm regelrecht Leid. Er wusste ja nicht, dass Valion schon wusste, was er fragen würde. Er kannte auch nicht Valions Antwort, obwohl sie ihm selbst klar gewesen war, als er das erste Mal Jans Hand ergriffen hatte.
Valion dachte an Nisha, und wie ähnlich sie sich waren, und wie er eines Tages den Mut aufgebracht hatte sie zu fragen, ob sie denn wirklich ausschließlich Mäfchen anzogen. „Ich meine, es gibt ein paar Jungen, die ich hübsch finde, keine Frage”, hatte sie erklärt und schief gelächelt. „Aber hauptsächlich Mädchen, verstehst du?” Und er hatte genickt und gewusst, dass er ebenso empfand. Nisha war eine Ausnahme, aber hauptsächlich…
„Hör mal, ich…”, begann Jan unsicher, und seine Hand begann leicht zu zittern. „…in den letzten Tagen, da… also, ich denke du weißt noch nicht alles über mich, und…” Er stockte und schien den Faden zu verlieren, und Valion konnte nicht umhin, zu lächeln, nicht aus Schadenfreude, sondern weil jedes einzelne von Jans Worten wahr gewesen war. Wenn es darauf ankam, war er überhaupt nicht mehr so wortgewandt und frech. Er stotterte und kämpfte um jedes Wort, so, wie er es selbst zugegeben hatte. „Ich wollte dich vorhin etwas fragen”, unterbrach Valion ihn, und er konnte hören wie Jan aufatmete. „Die Dame zuerst”, sagte er mit einem leichten Zittern in der Stimme. Vielleicht hoffte er, dass es einfacher wurde, wenn er etwas mehr Zeit hatte. Valion wusste aus Erfahrung, dass es umgekehrt war. Die Zeit vergrößerte nur die Unsicherheit. Warum sonst hatte er so lange gewartet, Nisha seine Liebe zu gestehen, bis es zu spät war und sie sich ein Leben ohne Vara nicht mehr vorstellen konnte? Er durfte nicht den selben Fehler zweimal machen.
„Ich wollte dich fragen, ob du immer nur mit Mädchen zusammen warst.” „Was? Wieso?”, fragte Jan perplex, als wüsste er nicht, ob er seinen Ohren trauen durfte. „Weil ich gern dein Freund wäre.” „F-Freund? Du meinst-” „Mit dir zusammen. Ein Paar.” Er hörte Jan lang ausatmen, dann fragte er: „Meinst du das wirklich ernst?” „Ja.” „Denn, wenn… wenn du versuchst mich auf den Arm zu nehmen, trete ich nämlich diese Tür ein und schlage dich mit dem erstbesten Gegenstand bewusstlos, und dann lasse ich dich von Wölfen auffressen.” Valion lachte leise in sich hinein. „Dann bin ich ja froh, dass ich es ernst gemeint habe. Die armen Wölfe hätten an mir nichts zu beißen gehabt.” „Du meinst das wirklich ernst, oder?”, fragte Jan noch einmal ungläubig nach. „Ja, wirklich.” Er wartete ab, was Jan sagen würde, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. Wenn man sich über eines sicher sein konnte, dann darüber, dass Jan nie lange die Klappe halten konnte. „Verdammt, du weißt gar nicht, wie dringend ich jetzt hier raus will”, sagte er schließlich, „Ich meine, jetzt habe ich einen Freund mit schwarzen Zähnen und einem Buckel - ein Traum wird wahr.” Valion konnte sich das Grinsen vorstellen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnen musste. Er wusste nicht wie Jan aussah, aber er wusste jetzt schon, dass er dieses Lächeln lieben würde. „Das musst du gerade sagen, mit deinen Warzen”, konterte er, und sie brachen in Gelächter aus.
„Gut, wartet auf weitere Befehle”, wies Tarn die Wachen an, dann machte er kehrt und betrat Eraviers Wagen. „Alles steht wie befohlen bereit”, erstattete er Bericht.
Eravier, der über einigen Listen gebrütet hatte, blickte interessiert auf. „Ach, tatsächlich, schon so spät?” Er streckte sich, stützte dann nachdenklich den Kopf auf die Hand. „Eine Einteilung, das ist immer ein rührender Augenblick - aus kleinen, schmutzigen Dörflern werden echte Sklaven, und das nur durch Wasser, Seife und ein paar scharfe Messer. Meinst du, Jan ist mit seiner kleinen Aufgabe schon weiter gekommen?”, fragte er. Tarn zuckte mit den Schultern und versuchte gleichgültig zu wirken. „Wenn, dann ist mir nichts davon bekannt.” Natürlich wusste er aus zuverlässigen Quellen, dass Jan nicht einmal andeutungsweise einen Vorstoß in diese Richtung gemacht hatte. Die beiden Jungen hatten sich wie immer unterhalten, diesmal sogar bis spät in die Nacht, aber im Grunde hatte Valion nur die Erlebnisse seines Tages wiedergegeben. Tarn hätte mehr Details erfahren können, aber das ersparte er sich, weil er im tiefsten Inneren wusste, dass es ihn nichts anging. Er war zunächst nur froh, dass Jan entweder zu ungeschickt dazu war Valion entsprechend auszuhorchen, oder noch auf den richtigen Moment wartete. Vielleicht hatte er selbst bis dahin noch eine Chance, Valion zu warnen. Er wünschte, er hätte sie schon eher erhalten, aber die bevorstehende Errichtung des Lagers und die damit zusammenhängenden Aufgaben hatten ihm keine ruhige Minute gelassen.
Und es gab noch mehr Grund zur Besorgnis. Eraviers Neugier und Interesse an Jan waren mit jeder Stunde gestiegen, die die Einteilung der Jungen näher rückte. Gerade jetzt löschte er seine Dokumente mit Sand, schloss sein Tintenfass und erhob sich, um ungeduldig auf und ab zu gehen. „Sind sie jetzt allein da draußen?”, fragte er interessiert, „Ich würde mir gern aus der Nähe ansehen, wie Jan sich macht. Auch das ist vorbereitet, oder?” Tarn ballte die Fäuste und verkniff sich jeglichen Kommentar, er antwortete nur steif: „Ja, die Diener haben darauf geachtet, dass man die Jungen beobachten kann ohne dass sie es bemerken. Aber sie sind nach wie vor getrennt”, erklärte Tarn. „Dann sollten wir das ändern”, sagte Eravier, und die Vorfreude stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Veranlasse alles.”
„Ich glaube, es kommt jemand”, sagte Valion. „Das denkst du ständig, und nie passiert etwas. Gib doch zu, dass dir die Arme einschlafen”, meinte Jan, aber Valion schüttelte den Kopf. „Nicht diesmal. Ich verschwinde besser”, sagte er und löste widerwillig seine Hand aus der von Jan. Er zog sich an den Platz zurück, an dem er zuvor gesessen hatte und behielt die Umgebung im Auge, während er mit seinen Händen über die Erde tastete. Tatsächlich fand er die Spitzen der Spiegelscherben im Boden wieder, immer noch sicher verborgen. Wenn er die Möglichkeit bekam würde er Jan eine davon geben, damit auch er für den Notfall gewappnet war. Er hatte keine Ahnung, wie dieser Notfall aussehen könnte, aber er wusste schließlich auch nicht, was folgen würde. Soweit er es verstanden hatte, würden sie gewaschen und untersucht werden, aber ob das alles war?
Bevor er sich in seinen Gedanken verlieren konnte, kamen die Wächter heran gestapft, die auch ihn schon aus dem Wagen geholt hatten. Sie warfen Valion einen prüfenden Blick zu, doch zum Glück machten sie sich nicht die Mühe, sich weiter mit ihm zu befassen. Stattdessen schloss einer die Holztür auf, die zu Jans Gefängnis führte, und zwei von ihnen traten ein. Valion hörte Jans Stimme, als er mit bitterem Humor das Auftauchen der Wachen kommentierte. „Oh, die bösen Ritter kommen um die Prinzessin zu entführen”, spottete er. Es folgte ein Schlag, und Jan keuchte auf, und lachte dann. „Das musst du nochmal üben, Fleischklops!” „Lass dich nicht von ihm provozieren”, mahnte einer der Wächter. „Du kannst ihm später ein paar Schläge verpassen, wenn er zugeteilt worden ist. Dann schaut ihn bis Lutejia sowieso keiner mehr an.” „Kann es gar nicht erwarten”, brummte der andere Wächter abfällig. „Ich auch nicht”, ätzte Jan, aber anscheinend hörten die Wachen ihm tatsächlich nicht mehr zu, denn es erklang nur noch das Rasseln von Ketten, und Schritte näherten sich. Sie hatten Jan zwischen sich, und es dauerte einen Moment, bis er endlich in Valions Gesichtfeld geriet. Er wagte nicht einmal zu blinzeln, so angespannt war er. Er konnte Jan endlich sehen.
Er war blass, noch blasser als Valion angenommen hatte, und erbarmenswert dünn. Die lange Krankheit hatte seinen Körper sichtbar ausgezehrt. Doch der Blick auf Jans Gesicht blieb ihm zunächst verwehrt, denn die Wachen hatten ihn an den langen, blonden Locken gepackt und zerrten ihn daran weiter. Bei Valion angekommen warfen sie ihn zu Boden und schlossen sofort eine eiserne Schelle um sein Bein, dann Handschellen um seine Handgelenke, und Valion sah besorgt, dass Jans Arme noch schlimmer in Mitleidenschaft gezogen waren als seine eigenen. „Ihr bleibt hier. Man wird sich gleich um euch kümmern”, sagte einer der Wachen. „Oh ja, und wie”, fügte ein anderer Wächter mit einem süffisanten Tonfall hinzu. Er war schmächtiger als seine Kumpane, mit einem Gesicht, mit dem man Kinder erschrecken konnte. Das musste der sein, der Jan geschlagen hatte. Für einen Moment fragte Valion sich, ob es diesem Kerl gefiel, andere Menschen herum zu schubsen, und was er damit wohl auszugleichen versuchte. Jan jedenfalls ließ sich nicht von ihm beeindrucken, im Gegenteil. „Oh, wir furchtbar, das macht mir aber Angst, Rübennase”, spottete er. Der Wächter grunzte wütend und wollte auf ihn losgehen, aber seine Begleiter hielt ihn zurück. „Lass das”, brummte der größte der drei. „Kommt, wir haben heute Abend noch etwas anderes zu tun.” Damit stapften sie davon. Jan schnaubte und strich sich endlich mühselig seine blonde Lockenmähne aus dem Gesicht, obwohl die kurze Kette zwischen seinen Handschellen ihn sichtlich dabei behinderte. Valion erstarrte. „Was für Idioten”, spottete Jan und zwinkerte Valion zu, aber der registrierte es kaum.
Das konnte einfach nicht sein. Er war darauf vorbereitet gewesen, dass das mentale Bild, das er von Jan gehabt hatte, falsch sein musste. Immerhin hatte er ihn nur ein einziges Mal gesehen. Nein, das war nicht richtig - er hatte jemand gesehen, den er damals für Jan gehalten hatte. Er hatte einen untersetzten Jungen gesehen, und einen anderen, der Nisha ähnelte. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass er sie verwechselt hatte. Wer auch immer der andere Junge gewesen war - der Junge, der Nisha so sehr ähnelte, war Jan.