Die Durchsuchungen dauerten den ganzen Abend und die ganze Nacht an. Glücklicherweise waren die Wächter, die Valions, Anyas und Jadzias Quartier auf den Kopf stellten schnell wieder verschwunden, aber sie hinterließen ein unheimliches Chaos. Sie hatten die wenigen Einrichtungsgegenstände verschoben, die Bettsachen durchwühlt, sogar Vorhänge herunter gerissen, und je länger sie suchten, desto irritierter schienen sie zu sein. Hatte ihnen jemand einen Tipp gegeben? Oder hatte Eravier ihnen befohlen, dieses Quartier besonders gründlich zu durchsuchen? Beides war möglich, doch letztendlich mussten sie mit leeren Händen abziehen.
Aber was hätten sie finden sollen? Die Rebellion war vor ihnen hier gewesen, das wusste Valion jetzt. Und sie hatten dabei keinen Staub aufgewirbelt.
Als endlich Ruhe eingekehrt war und die Wächter zum nächsten Wagen weiter zogen, wanderte Valion wie betäubt durch das Durcheinander. Vorsichtig schob er die Scherben der zerbrochenen Karaffe, die Anya herunter gestoßen hatte, mit dem Fuß zur Seite. Er überlegte ob er aufräumen sollte, zumindest ein Mindestmaß an Ordnung schaffen, suchte nach einer Aufgabe, bei der er beginnen könnte, und scheiterte allein daran. Es würde ewig dauern, alles wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, und er fühlte sich dem überhaupt nicht gewachsen, erst recht nicht allein.
Ob er auf Anya und Jadzia warten und sie bitten sollte, ihm zu helfen? Er dachte darüber nach, aber er glaubte nicht, dass sie überhaupt ein Wort mit ihm wechseln würden. Und wenn, dann wäre es sicher nur zum Streit gekommen, und das hätte er nicht ertragen, nicht nach allem, was passiert war. Er fühlte sich, als wäre sein Inneres nach außen gekehrt worden. Neu aufgeflammter Schmerz hämmerte im Takt seines Herzschlags in seiner Schulter und in seinem Kopf.
Also beschloss er, sich schlafen zu legen. Benommen sammelte er seine Decke und sein Kissen ein, beides war zusammen mit den restlichen Bettsachen auf einen Haufen geworfen worden, löschte die Lampen und legte sich hin.
Er war müde, aber trotzdem lag er wach, warf sich hin und her. Die Sonne verschwand, und der Wagen versank in Dunkelheit. Sie schien aus den Ecken und Ritzen zu kriechen, breitete sich aus, hüllte ihn ein und flutete seinen Kopf. Oder stammte sie von dort und kehrte nur zurück?
Ansin. Sie hatte ihn für Eravier gehalten. Er hatte es erst gar nicht wahrgenommen, aber als es ihm wieder eingefallen war, schien der Boden unter seinen Füßen weg zu brechen. Er wusste, wie sie darauf gekommen war, und es ängstigte ihn mehr als alles andere. Er erkannte sich selbst nicht, er erkannte seine Gefühle nicht wieder. Das Misstrauen, den Hass, die Wut, die Rachsucht. Und er wollte sich trotzdem daran fest halten, weil es alles zu sein schien, was ihm letztendlich blieb. Liebe, Freundschaft, Vertrauen, alles schien wie weggewischt, und ja, das war auch seine eigene Schuld.
Er fragte sich, ob er Marceus vertrieben hatte, weil er es nicht ertragen konnte, allein zu sein. Ob er vielleicht seine Chance verspielt hatte, mit Tarn ins Reine zu kommen, weil er nicht über seinen Schatten springen und verzeihen konnte. Ob er Jan für immer verloren hatte, und sich nur haltlos an die letzten Spuren von dem klammerte, was gewesen war. Und ob Anya und Jadzia überhaupt noch ein Wort mit ihm wechseln würden, wenn sie jetzt fürchten mussten, dass er gewalttätig war. Vielleicht waren sie in diesem Moment bei Eravier und versuchten ihn zu überzeugen, dass er doch in eine kleine, dunkle Zelle gehörte. Zurück an die Kette wie ein bissiger Hund.
Aber er grübelte nicht nur, er lauschte auch auf die Geräusche von draußen, die ihn nicht weniger wach hielten. Er war noch nicht lange Teil des Wagenzuges, aber er spürte die Aufruhr, die Unsicherheit unter den Dienern, und er konnte den Lärm den die Wächter verursachten nicht überhören. Dinge wurde verschoben, Kisten und Fässer geöffnet und umgestoßen, mehrmals klirrte und schepperte es, wenn etwas zu Bruch ging oder ohne Nachdenken auf dem Boden landete. Die Wächter waren auf Rebellenjagd, und sie nahmen auf nichts und niemand Rücksicht, so wie ihre Befehle lauteten. Eravier wollte einen Spion fassen, und er würde einen bekommen.
Die Stimmung im Lager, die nach Valion Flucht schon angespannt gewesen war, schien weiter zu kippen. Mehrmals hörte er sowohl heimlich geflüsterte Gespräche als auch aufgeregte Diskussionen in der Nähe des Wagens, und die sich überschlagenden Stimmen besorgten ihn und ließen ihn gleichzeitig, wider besseren Wissens, hoffen. Er fragte sich zum ersten Mal, wie lange Eraviers Untergebene loyal bleiben würden, wenn sie derartig behandelt wurden. Gab es einen Punkt, an dem die ganze Organisation zusammenstürzen würde? Es war eine vage Hoffnung, aber er klammerte sich an dem Gedanken fest. Konnte er die Unruhe vielleicht ausnutzen, oder sogar schüren? Vielleicht würde ihm das irgendwie nützen, auch wenn er nicht wusste, was mit denen geschehen würde, die sich offen auflehnten.
Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da hallte ein Schuss durch das Lager.
Er setzte sich reflexartig auf, und sein Herz begann zu hämmern. Wem hatte der gegolten? Brach jetzt tatsächlich das Chaos aus? Er lauschte auf Schreie, weitere Schüsse, irgendetwas, aber es herrschte nur Grabesstille. Die Abwesenheit von Geräuschen hätte ihn beruhigen müssen, aber das tat sie nicht. Es war, als hielte die Welt in diesem Moment den Atem an, und dann setzte das Getuschel wieder ein. Ängstliche Stimmen im Flüsterton, hastige Schritte. Jemand schluchzte und wurde sofort zum Schweigen gebracht. Valion verstand keine Worte, aber auch ohne zu wissen, was genau sich abgespielt hatte, wurde eines klar: Die Regeln hatten sich geändert. Etwas ging vor sich, und er saß hilflos da und wusste nicht was.
Der Gedanke reichte aus, dass er sich aufrappelte und unsicher durch das Dunkel hin zum Ausgang tappte, auch wenn er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, was er dort sollte. Er fühlte sich wie gelähmt, und nur mit Mühe brachte er den Mut auf, die Plane am Eingang des Wagens zur Seite zu schieben.
Er hatte mit allem gerechnet; mit Wächtern, Chaos, sogar der Rebellion. Aber als er nach draußen sah, stand eine Dienerin vor dem Wagen.
Sie.
Sie hatte die Arme verschränkt und drehte ihm den Rücken zu, fast so, als hätte sie nicht absichtlich in der Nähe seines Quartiers herum gelungert, sondern würde auf jemand anderen warten. Sie bemerkte ihn sofort, aber dennoch wartete sie geduldig ab, bis zwei ängstlich aussehnende Dienerinnen an ihr vorbei gehuscht waren. Erst dann wandte sie sich zu ihm um, fixierte ihn.
„Was zum Teu-”, begann er, und sie hob heftig die Hände, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie sah sich noch einmal energisch um, als wolle sie ganz sicher sein, dass niemand sie beobachtete, dann ging sie geradewegs auf ihn zu und drängte ihn rückwärts in den Wagen zurück. Er ließ es überrumpelt geschehen, eher, weil sie so entschlossen schien, nicht, weil er sich vor ihr fürchtete. Im nächsten Moment waren sie ins Halbdunkel des Wageninneren eingetaucht, das nach dem Schein der Feuer und Lampen draußen noch düsterer wirkte.
Valion wollte erneut zu einer Frage ansetzen, aber da hatte die Dienerin schon etwas aus ihrer Schürzentasche gezogen und hielt es ihm ohne weitere Geste oder Erklärung unter die Nase, fast trotzig. Es war ein Bündel, das er sofort wiedererkannte, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Er nahm es hastig entgegen, und im nächsten Moment wandte sich das Mädchen ab und wollte verschwinden. Er bekam sie gerade noch am Ärmel zu fassen und hielt sie zurück, und sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Immer noch trotzig, aber auch besorgt, und ein wenig ängstlich.
Hatte sie mitbekommen, wie er sich vor kurzem noch verhalten hatte? Oder hatten Anya oder Jadzia erzählt was geschehen war, sie vielleicht sogar gewarnt? Wenn ja, dann war es vermutlich kein Wunder, dass sie jetzt ebenfalls Angst vor ihm hatte, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er wollte das nicht. Er wollte nicht gefürchtet werden wie Eravier, sodass alle um ihn herum sich duckten, wenn er in der Nähe war. Es war eine Form von Macht, das begriff er in diesem Moment, aber keine, die er besitzen wollte.
Beschwichtigend, ruhiger als er sich fühlte hob er die Hände und sagte: „Ich will dir nur eine Frage stellen. Ich tue dir nichts! Wenn… wenn du gehen willst, dann geh einfach.”
Das Mädchen warf ihm einen zweifelnden Blick zu, aber dann entspannte sie sich ein wenig, nickte. Ja, sie wusste, wie er sich verhalten hatte, das war jetzt deutlich, aber sie war durchaus bereit, ihm zuzuhören. „Hat man dir befohlen, mir das zurück zu geben?”, fragte er direkt. Sie zögerte, und fast glaubte Valion, dass sie ohne eine Antwort zu geben gehen würde, doch in diesem Moment schüttelte sie energisch den Kopf. Nein. Sie hatte es ohne Befehl getan. Und so sehr, wie er sie vor kurzem noch so gehasst hatte, so dankbar war er jetzt.
„Danke. Danke, dass du es zurück gebracht hast”, sagte er, und meinte es auch so. Sie hätte seine Sachen wegwerfen können, oder verbrennen, das wäre das Sicherste gewesen. Stattdessen hatte sie alles bei sich getragen und dadurch vor den Durchsuchungen beschützt, egal wie hoch das Risiko für sie war, und war sogar zurück gekehrt, um ihm alles wiederzugeben. Erst jetzt wurde ihm klar, wie mutig sie war, wie schwer es gewesen sein musste, unauffällig in der Nähe auszuharren und auf den richtigen Moment zu warten. Wenn irgendjemand aufgefallen wäre, dass sie sich verdächtig verhielt…
Der Gedanke entsetzte ihn, und die Unruhe, die das Lager seit Stunden erfüllte, griff plötzlich und heftig auf ihn über. Hatte er wirklich für einen Moment gehofft, dass die Lage noch schlimmer wurde, dass die Diener sich gegen Eravier wendeten, nur damit er einen Vorteil daraus ziehen konnte? Er hätte sich selbst dafür ohrfeigen können.
Was auch immer geschehen war, was auch immer seine Flucht ausgelöst hatte, er hatte direkt oder indirekt dazu beigetragen, dass andere Menschen in Gefahr gerieten. Jetzt war niemand mehr sicher, niemand den er kannte, und niemand den er mochte. Irgendwie, ohne dass er begriff wann und warum, hatte er etwas in Gang gesetzt das weit jenseits seiner Versklavung lag. Und mit einem Mal fühlte er sich verantwortlich. Verantwortlich für Marceus Schicksal, für Tarns, für das von Anya und Jadzia, nur dadurch, dass er da war und entschied, wie er sich verhielt. Siebzehn Jahre seines Lebens hatte es keine Rolle gespielt, wie er entschied und für wen er sich einsetzte, und plötzlich hing etwas von ihm ab. Zum Beispiel das Leben des Mädchens vor ihm, obwohl er nicht einmal ihren Namen kannte.
„Danke”, widerholte er, und jetzt zitterte seine Stimme, und langsam, damit er sie nicht erschreckte, ergriff er ihre Hand, drückte sie. „Ich hab es mir nicht wirklich verdient, dass du mir hilfst, aber du hast mich gerettet.”
Er erwartete fast, dass er Unbehagen in ihrem Gesicht sehen würde. Sie kannte ihn schließlich kaum, und obwohl sie ihn vor kurzem schon einmal berührt hatte, war das etwas anderes. Er erwartete, dass sie ihre Hand wegziehen würde, peinlich berührt, aber stattdessen schien sie plötzlich besorgt zu sein. Sie hob die Hand, strich durch sein Haar, öffnete den Mund, und schloss ihn dann wieder. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre zu sprechen, hätte sie nicht die richtigen Worte gefunden, das alles wurde in diesem winzigen Moment sichtbar. Aber gerade deshalb war es tröstlicher als eine dahingeworfene leere Phrase. Sie fühlte mit ihm, dass sah er in ihrem Gesicht, selbst wenn er nicht wusste, warum. Und dann, völlig unerwartet, trat sie einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn fest, legte nach einem Moment des Zögerns vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte; vielleicht, dass er sich zu ihr hingezogen fühlen würde, so wie zu Anya. Doch stattdessen befiel ihn ein so starkes Gefühl der Vertrautheit, dass er fast schauderte. Es dauerte einen Moment bis er begriff, warum, bis er die Hand hob und vorsichtig eine ihrer Haarsträhnen zurück strich. Es war eine fast instinktive Geste, weil er sie schon so oft, öfter als er zählen konnte, wiederholt hatte - bei Mila und Arinda.
Schlagartig wurde ihm klar, warum er die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte sie zu kennen, warum er sich in ihrer Nähe sofort wohl gefühlt hatte. Das wuschelige Haar, das runde Gesicht, der Blick, alles erinnerte ihn an seine Schwestern. Er verstand nicht, wie das sein konnte, aber es war auch völlig gleichgültig, weil mit einem Schlag die Sehnsucht und die Trauer zurückkehrten.
Wie ging es Mila und Arinda? Lagen sie bereits in ihrem Bett, Rücken an Rücken, oder Arm in Arm? Schliefen sie schon, träumten sie, oder waren sie wach? Hatte sie jemand zu Bett gebracht und ein Abendgebet gesprochen, oder tat das niemand, jetzt, da er nicht da war? Und wenn, hatte es überhaupt einen Sinn? Es gab keine gerechten Götter, nicht hier, und nicht dort. Sonst wäre er nicht an diesem Ort, und hätte er nicht eine völlig Fremde umarmt, weil sie ihn an seine Schwestern erinnerte.
Aber obwohl die Erinnerung schmerzte, beruhigte sie ihn auch. Er hatte Fehler gemacht, und er konnte nicht jeden davon ausgleichen. Aber er musste dafür einstehen, Verantwortung zeigen; Er durfte sich nicht diesem Chaos an negativen Emotionen hingeben. Nicht, wenn jemand von ihm abhängig war.
Nach einem Moment ließ sie ihn los, legte den Kopf schief und lächelte ihm immer noch besorgt, aber auch aufmunternd zu. Er sah die unausgesprochene Frage. Geht es dir besser? „Es geht schon”, sagte er tapfer und seufzte, „Ich fange morgen einfach wieder von vorn an. Versuche es besser zu machen. Mehr kann ich nicht tun, oder?” Sie nickte zustimmend, mit einem schmalen Lächeln, das ihm gleichzeitig völlig vertraut und völlig fremd war. Dann beugte sie sich vor, und er zuckte nicht einmal zurück, weil er auch das von seinen Schwestern kannte - sie hatten ihn öfter als er zählen konnte auf die Wange geküsst. Aber stattdessen neigte sie sich noch weiter vor, bis ihre Lippen auf einer Höhe mit seinem Ohr waren.
So leise, dass er ihre Stimme nicht erkennen konnte, flüsterte sie: „Du bist nicht allein. Halte durch.”
Er erstarrte, und entgeistert sah er sie an, als sie sich zurückzog. „Du kannst sprechen?”, flüsterte er zurück, und sie legte den Finger auf die Lippen, eine Geste des Stillschweigens. Der Ärmel ihres Kleides rutschte ein wenig höher, entblößte ihre Brandmarkung. Plötzlich funkelten ihre dunklen Augen, intelligent und durchtrieben.
Unser kleines Geheimnis.
Es war weit nach Mitternacht, als Fourmi endlich dazu kam, sich zu dem Ort zu schleichen, an dem der entstellte Leichnam von Durand lag.
Eigentlich hatte sie gehofft, an diesem Tag eher aus ihrem Dienst entlassen zu werden, denn Karvash war nach der Hinrichtung in schlechter Stimmung gewesen, die sich auf seine ganze Familie nieder geschlagen hatte. Doch stattdessen waren seine Frauen umso länger wach geblieben und hatten über die Vorgänge im Lager gerätselt.
Wie so oft hielten sie sich vor Fleurie mit ihren Vermutungen und Schlussfolgerungen nicht zurück. Sie war zu jung, zu unwichtig, und stumm, sie konnte also kaum erzählen, was sie aufschnappte. Und ohnehin gab es nichts, das man sie fragen konnte, ohne der Zeichensprache mächtig zu sein oder ihre Gesten zu interpretieren, und kaum jemand machte sich die Mühe, wenn es nicht wirklich wichtig war. Diese Art der Geringschätzung wäre frustrierend gewesen, wenn sie Fourmi nicht so zu Pass gekommen wäre.
So hörte er mit, wie sie über den Verräter Durand sprachen, sich um die Loyalität der Diener sorgten, und die Rebellion verfluchten, und das über Stunden hinweg, obwohl es für ihn eigentlich anderes zu tun hab. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in den wenigen ruhigen Momenten einen kurzen Rundgang zu machen und das Lager zu überblicken, aber es war ungewöhnlich still geworden. Der zweite Tote innerhalb von zwei Tagen, das schürte Angst und Unruhe, und alles lag wie ausgestorben da.
Endlich, nachdem Fourmi so lange ausgeharrt hatte, hatten sich die Herrinnen für die Nacht zur Ruhe gelegt, und sie verlor keine Zeit mehr und durchquerte das Lager schnell und leise. Es war sogar leichter als in den Nächten zuvor. Obwohl die Wächter noch häufiger als sonst patroullierten, blieben die Diener und Knechte in dieser Nacht bei ihren Schlafplätzen und wagten nicht einmal, sich zu unterhalten. Und so entstanden, ohne dass es beabsichtigt war, Lücken in den Routen der Wächter, einfach nur dadurch, dass die Diener ihre Augen und Ohren nicht mehr an sie verliehen.
Fourmi schlüpfte durch sie hindurch wie eine Maus durch ein Loch in den Bodendielen, hielt sich im Schatten, bewegte sich an den Feuern vorbei, die in dieser Nacht durch Vernachlässigung nicht mehr hell brannten, sondern nur noch glommen. Sie hoffte darauf, dass Durands Leichnam unbewacht sein würde, denn das würde ihr die Gelegenheit geben, ein paar letzte Korrekturen vorzunehmen.
Wie immer war es einfacher gewesen, eine derartig waghalsige Aktion zu veranlassen, als sie am Ende glatt zu ziehen. Ein gebrochener Arm war ein gutes Indiz, aber er reichte bei weitem nicht aus. Weitere Beweise mussten platziert werden, denn auch wenn Eravier zuerst mordete, dann drohte und zum Schluss fragte, er war in seinen Nachforschungen unerwartet hartnäckig, und Fourmi hatte alle Hände voll zu tun. Die richtigen Zeugen an den richtigen Orten, die richtigen Gegenstände am richtigen Platz, alles benötigte Sorgfalt. Aber Sorgfalt erforderte Zeit und Kraft, die er nicht im Überfluss hatte.
Die Tarnung als Dienerin war gut, aber sie verlangte auch harte körperliche Arbeit, und das den ganzen Tag, oft ohne Pause, und ohne Gelegenheit, bestimmte Dinge in die Wege zu leiten. Und wenn der Moment kam etwas umzusetzen fühlte sich Fourmi oft erschöpft. Mit einem Eimer Wasser in den Händen unsichtbar zu sein bedeutete immer noch, die ganze Zeit zu schleppen, neuerdings nur noch mit einem intakten Arm. Er hatte den gebrochenen Arm so fest und flach geschient wie er konnte, aber die Schmerzen waren eine Ablenkung und eine Last. Wenigstens war es ein glatter Bruch. Während Fourmi zielsicher durch das Lager schlich, rieb sie sich die schmerzenden Arme, den einen, weil der Verband juckte, den anderen, weil sie ihn schon die ganze Zeit überlasten musste. Wenn das so weiterging, würde sie Muskeln wie ein Holzfäller entwickeln, nur leider halbseitig, und das war nicht nur unpraktisch, sondern sah vermutlich auch lächerlich aus.
Dennoch bereute Fourmi es nicht, diese Tarnung angenommen zu haben. Die Schwierigkeiten hielten sich im Gegensatz zu anderen Einsätzen wirklich in Grenzen. Es war lächerlich, aber er begann fast, seine Fähigkeiten zu vernachlässigen, weil er sie nicht brauchte; niemand schöpfte Verdacht. Sie hatte damit sogar Valion getäuscht, obwohl sie sich schon mehrmals über den Weg gelaufen waren, als Rebell und als Dienerin. Es war fast ein wenig enttäuschend, denn eigentlich hätte er ihr längst auf der Fährte sein müssen. Aber vermutlich hatten die letzten Ereignisse ihren Tribut gefordert. Valion hatte erschöpft ausgesehen, verloren. Fourmi hatte sich eigentlich vorgenommen, sich nicht beeinflussen zu lassen, aber ihn so am Boden zu sehen hatte selbst in ihm Mitleid ausgelöst.
Das erklärte nicht wirklich, warum er sich dazu hatte hinreißen lassen einen Teil seiner Tarnung offen zu legen, aber das war zumindest nichts, was sich nicht rationalisieren ließ. Sie brauchte ihn, und Valion brauchte ihre Hilfe genauso nötig, wenn er bis Luteija und weiter durchhalten musste. Wenn er vielleicht sogar ein aktiver Rebell werden sollte. Dazu musste er nicht zwangsläufig hinter Fleuries Maske sehen, aber es war besser, wenn er ihr nicht mehr misstraute als nötig. Sich vielleicht sogar mit ihr verbunden fühlte.
Fourmi schwankte untypisch, was seine Pläne für Valion betraf. Am Anfang hatte er es selbst für das Beste gehalten, ihn nicht einzuspannen, so wie es seine Mutter gewollt hatte. Es hatte keinen Sinn gehabt, ihn weiter zu involvieren, und seinen Zweck Eravier abzulenken hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits erfüllt. Umso mehr hatte es ihn geärgert, dass Tarn jede ihrer Anweisungen ignoriert und ihn, wenn auch indirekt, in die Pläne und Ziele der Rebellion eingeweiht hatte. Es hatte nicht zu ihren Plänen gepasst und zu der Art, wie sie vorgehabt hatte Valion aus dem Geschehen heraus zu halten.
Doch nach allem was geschehen war, nach allem was Fourmi selbst von Valion gesehen hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob Tarn nicht das Richtige getan hatte. Unabhängig davon, ob Valion nur als Notlösung ausgebildet wurde oder nicht, er besaß alle Vorraussetzungen ein nützliches Mitglied der Rebellion zu werden. Wenn Fourmi daran gezweifelt hatte, konnte sie es spätestens nicht mehr, seit der Junge Eravier eiskalt ins Gesicht gelogen hatte, mit einer Ruhe und einem Mangel an Scham, die Fourmi ihm in tausend Jahren nicht zugetraut hätte. Das war der Moment gewesen, in dem die Idee in ihr gekeimt war, ihn und Anya als einzige Spione zurück zu lassen.
Und dennoch… ein Teil von ihr protestierte und wollte ihn aus allem heraus halten. War es nicht ihre Verantwortung, alle Fäden in der Hand zu behalten? Fourmi wusste, dass Tarn nicht dazu fähig war die Situation komplett zu überblicken - wie konnte er annehmen, dass es Valion gelang? Er wusste, dass er es seiner Mutter zugetraut hätte, aber Valion selbst war immer noch ein unbeschriebenes Blatt.
Doch bevor sich zeigte, was wirklich in ihm steckte, gab es Anderes zu tun. Fourmi hatte ihr Ziel erreicht.
Das Lager der Wächter war um diese Uhrzeit der am hellsten beleuchtete Teil des Lagers, und dennoch seltsam verlassen, da die Wachablösung noch lange nicht bevorstand. Die wenigen Wachen, die sich um die Feuer versammelt hatten wärmten sich auf und schwatzten, in der Überzeugung, dass ihre alleinige Anwesenheit für Ordnung sorgte. Kurzum, es war der perfekte Zeitpunkt, sich umzusehen und das eine oder andere gerade zu rücken, bei gutem Licht und wenig Risiko, gestört zu werden.
Durands Leichnam lag am Rand des Lagerbereichs der Wächter, nicht aufgebahrt, sondern nachlässig zu Boden geworfen wie ein fallen gelassenes Spielzeug, eingekesselt zwischen einem der Wagen und einem Stapel Kisten. Er trug den Sack, der seinen Henkern den Anblick seines verängstigten Gesichts erspart hatte, nicht mehr auf dem Kopf. Das wa vermutlich der nachträglichen Erkenntnis geschuldet, dass man sicher sein musste, dass er nicht mehr atmete. Der Körper war nur mit einer schmuddeligen Decke bedeckt, die ihn nicht einmal vollständig verbarg. Bei Tageslicht würde er zusammen mit Faures Leiche, die wesentlich respektvoller behandelt worden war, verbrannt werden, denn für ein Begräbnis war weder Zeit, noch würde Eravier es Verrätern zugestehen.
Fourmi blieb im Schatten eines der Wagen stehen, beobachtete, ob sich jemand nähern würde, doch alles schien ruhig. Aber es gab schließlich auch nichts zu bewachen; Durand war durchsucht worden, bevor er erschossen worden war, und was für Eravier nicht von Interesse gewesen war steckte vermutlich schon in den Taschen der Wächter. Alles was übrig war, war ein erkalteter Körper, den niemand beweinte, weil Durand keine Freunde hier hatte und auch keine Familie. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte, wenn es so gewesen wäre, aber es machte alles einfacher. Niemand würde Fourmi stören während sie die Verletzungen hinzufügte, die seinem Körper noch fehlten. Vielleicht würde niemand die Leiche überprüfen, aber wenn es so war, musste sie auf der sicheren Seite sein.
Sie wollte sich nicht zu lange in unmittelbarer Nähe des Wächterlagers aufhalten, aber dennoch wartete sie ab, prägte sich die Szenerie ein, hielt nach Fluchtwegen Ausschau, falls sie doch unerwartet gestört werden würde. Sie lauschte auf die Geräusche der Nacht, das Knistern der Feuer im Wächterlager, die immer wieder vorbei ziehenden Schritte der Patroullien, die in einiger Entfernung vorbei stapften. Doch niemand näherte sich ihrem Standort.
Wirklich niemand. Das war seltsam. Während Fourmi beobachtete und lauschte befiel ihn immer mehr das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war mehr eine Intuition als eine wirkliche Erkenntnis, zu stark, um sie als simplen Verfolgungswahn abzutun, bis ihm endlich klar wurde, was ihn störte: Die Wachen blieben Durands Leiche nicht zufällig fern, sie umgingen sie konsequent und in einem weiten Bogen. Umkreisten sie, als warteten sie auf ein Signal.
Eine Falle, dachte Fourmi. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Was würde geschehen, wenn er sich der Leiche näherte? Wer wartete hier auf ihn, und von wo würde er kommen? Instinktiv wich er zurück, pirschte sich mit dem Rücken zum Wagen in Richtung des restlichen Lagers. Er war fast außer Reichweite, bereit, weiter ins Zentrum auszuweichen, als eine Hand aus dem Inneren des Wagen hervor schnellte, ihn packte und rückwärts hinein zerrte.
Fourmi keuchte erschrocken auf, stolperte zwei Schritte nach hinten, eine Stufe hinauf und direkt ins völlige Dunkel. Reflexartig drehte sie sich weg, nutzte den Schwung, den ihr Angreifer ihr gegeben hatte, holte mit dem Ellenbogen aus und versuchte ihn ihrem Gegner in die Seite zu rammen. Zu spät dachte sie daran, dass es der gebrochene Arm war und die Erschütterung sie vermutlich vor Schmerz in die Knie gehen lassen würde, aber es war auch unwichtig, weil sie keine Wahl hatte.
Doch ihr Gegner ließ sich nicht überrumpeln, wich ihr mit einer halben Drehung aus, und gab ihr einen Stoß in den Rücken, der sie weiter in den Wagen warf. Sie prallte gegen einen Stapel Kisten und schaffte es gerade noch den verletzten Arm wegzuziehen, aber der Aufshclag drückte ihre die Luft aus den Lungen, und sie keuchte auf. Bevor sie sich umdrehen konnte wurde ihr gebrochener Arm gepackt und auf den Rücken gedreht, schon wieder.
„Ich wusste, dass du hier auftauchst”, flüsterte eine Stimme in seinem Rücken, bevor Fourmi nur irgendetwas sagen konnte. Fast hätte er reflexartig darum gerungen frei zu kommen, bis ihm klar wurde, wessen Stimme zu ihm gesprochen hatte, und halb frustriert, halb erleichtert atmete er aus und gab seinen Widerstand auf.
„Gottverdammt, Tarn!”, fluchte er im Flüsterton, und im gleichen Moment wurde er losgelassen. „Ich konnte nicht zimperlich sein, du wärst fast in eine Falle hinein gelaufen”, erklärte Tarn ruhig, und fügte mit einem spöttischen Unterton hinzu: „Würde ich nicht inzwischen dein Gesicht kennen, hätte ich dir nicht helfen können.” Fourmi knirschte erbittert mit den Zähnen. Sollte ihn das etwas glücklich stimmen? „Ich brauche keine Hilfe”, fauchte er ungehalten. „Aber ich hätte wissen müssen, dass du hier herum lungerst und versuchst dich ein zu schleimen.”
„Ich mache meine Arbeit”, erwiderte Tarn schlicht, und hielt im nächsten Moment genau wie Fourmi inne, als sie eilige Schritte hörten, die sich auf ihr notdürftiges Versteck zu bewegten. Die Falle, die Fourmi gestellt worden war hatte zwar nicht zugeschnappt, aber anscheinend waren sie noch längst nicht in Sicherheit. Einen panischen Moment trafen sich ihre Blicke, als erwartete der jeweils andere, aus dieser Misere gerettet zu werden, aber natürlich gab es jetzt nur einen Ausweg. Oder hätten sie mitten im Lager, vor aller Ohren, eine Wache nieder metzeln sollen?
„Weg hier”, flüsterte Fourmi, und sie schoben sich durch das Durcheinander der im Wagen gelagerten Gegenstände und verließen ihn im Laufschritt auf der gegenüberliegenden Seite.
Natürlich blieben sie dabei nicht unentdeckt. Fourmi hielt nicht inne, sondern beschleunigte nur sein Tempo, als er hörte, wie mehrere Männer, vielleicht zwei oder drei, durch das Innere des Wagens polterten. Den Geräuschen nach zu urteilen sahen sie sich nicht einmal um, sondern folgten ihnen ohne inne zu halten mit hastigen Schritten. Aber es verwirrte Fourmi, dass niemand sich die Mühe machte etwas albernes wie „Stehen bleiben!” oder „Ihr seid festgenommen!” zu brüllen. Wer auch immer auf ihrer Fährte war, blieb still und wollte kein weiteres Aufsehen erregen, geschweige denn seinen Zielen einen Vorteil verschaffen, indem er seine Identität verriet. Fourmi hätte fast riskiert sich um zudrehen, in das Gesicht seines Verfolgers zu blicken, aber das wäre Selbstmord gewesen; hätte jemand ihre Gesichter erkannt, hätten sie sich auch selbst ausliefern können.
Aber auch so standen ihre Chancen nicht gut. Ein Pfiff gellte durch das Lager, das Signal zum Angriff, das Fourmi erwartet hatte, und ihr war sofort klar, dass sie innerhalb kürzester Zeit umstellt sein würden. Plötzlich wurde das ganze Lager von immer mehr Fackeln erhellt, und während sie und Tarn, ironischerweise Seite an Seite, durch die verbliebenen Lücken im Netz der Wächter schlüpften, überlegte sie fieberhaft, was sie tun konnte.
Aber im Grunde gab es nur einen Weg. „Nach oben!”, befahl sie keuchend, und Tarn begriff sofort, worauf sie abzielte. Noch im Laufen bot er ihr die gefalteten Hände, und ohne zu überlegen oder auf ihren schmerzenden Arm zu achten packte sie ihn bei den Schultern, stieg auf seine Hand und sprang galant auf einen der Wagen. Sie erwog einen Moment, Tarn keine Hilfe zu geben, aber so wie die Dinge standen hätte ihr das keinen Vorteil verschafft, also rollte sie sich ab und dachte gerade noch rechtzeitig daran, den gesunden statt den gebrochenen Arm nach unten zu strecken, an dem er sich ebenfalls nach oben ziehen konnte. Im nächsten Moment lagen sie flach nebeneinander auf dem Dach des Wagens, wagten kaum zu atmen und lauschten, wie sich die Schritte näherten… und an ihnen vorbei zogen.
„Damit täuschen wir sie nicht lange”, flüsterte Tarn Fourmi zu, und der hätte fast ungehalten geseufzt. Das war ihm selbst bewusst, und er hatte auch nicht beabsichtigt, den Rest der Nacht auf einem Wagendach auszuharren. „Wenn ich es sage, springe erst ich und dann du.” Sie warteten einen Moment ab, lauschten beide in die Umgebung und verfolgten den Fackelschein, der sich wie ein Schwarm von Lebewesen durch das Lager bewegte. Es war unheimlich still, und die tanzenden Wechsel von Licht und Schatten ließen Fourmis Körper vor Anspannung zittern.
Seit wann war Eravier derartig wachsam? Nein, das ging nicht auf sein Konto, und nicht auf das des loyalen, aber fantasielosen Schwachkopfes, der die Wächter anführte. Irgendjemand anders hatte gezielt nach ihnen Ausschau gehalten. Hatte sie einen neuen Feind? Ein Wächter, der ihr bisher nicht aufgefallen war? Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Und nicht nur das, die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern. Er hatte vorhergesehen, dass es in absehbarer Zeit so weit kommen würde, dass seine Tarnung ihn nicht mehr allein schützen konnte. Aber dass es so schnell geschah, dass hatte er zwar in seinem Kopf durchgeplant, als schlimmsten denkbaren Fall gedanklich skizziert, aber noch nicht verinnerlicht. Die Jagd hatte also offiziell begonnen, Eravier ließ keine Zeit verstreichen. Und deshalb durften sie das auch nicht, auch wenn es Fourmi nicht gefiel, dass er plötzlich Tarn an den Hacken hatte.
Konnte er ihn irgendwie los werden? Während Fourmi keuchend in den Himmel starrte gestand sie sich ein, dass das zur Zeit zu riskant war. Gerade jetzt war es vermutlich das Beste, wenn sie zusammen blieben und ihre unfreiwillige neue Allianz nutzten, um diese Nacht zu überleben. Und vielleicht konnte er ihm nützlich sein, zumindest, um im Zweifelsfall eine ablenkende Leiche zur Hand zu haben.
Das war ein tröstlicher Gedanke, und Fourmi lächelte schmal, aber diese kleine Gemeinheit brachte ihn gerade nicht weiter. Stattdessen grübelte er, wohin er sich wenden konnte, welcher Ort ein geeignetes Versteck war, um unterzutauchen, bis sich die Aufruhr legte. Er konnte sie beide schließlich kaum zurück zu Karvash bringen und dort verstecken.
Aber warum eigentlich nicht?
Es dauerte nur Bruchteile einer Sekunde. Am Anfang stand die Idee, völlig irrwitzig und kaum greifbar, und dann fügten sich die Fragmente erst langsam, dann immer schneller zu einem Ganzen zusammen, und das schmale Lächeln auf ihrem Gesicht verbreiterte sich immer weiter, wurde zu einem ausgewachsenen Grinsen. Tarn, der sich ihr gerade zu wandte stutzte, aber Fourmi ignorierte ihn.
Es war ein durch und durch irrer Einfall, und die Chancen dass alles gelang verschwindend gering, aber sie liebte ihn trotzdem von der ersten Minute an. Fourmis Gedanken rasten, und sie spürte, dass sie in ihrem Element war. Manchmal glaubte sie, dass sie nur für diesen Moment lebte, in dem jede Variable kalkuliert war, jede Eventualität gerade gerückt, bis es keine Ungewissheit mehr gab, nur eine endlos lange Kette von Aktionen und Reaktionen, die alle zu einem einzigen Ziel zu liefen und sich dort vereinten.
Die Welt verbiegt sich nicht so, wie es dir passt. Irgendwann wirst du das zu spüren bekommen, und dann wird dich die Realität einholen, mahnte ihr Vater sie in ihrem Geist. Aber während Fourmi den Himmel angrinste, schüttelte er den Kopf. Die Realität konnte ihn nicht einholen, weil er sie fest in den Händen hielt und wie eine gut gestimmte Harfe spielte. Und niemand spielte sie so gut wie er.
Er gab Tarn keine Erklärung, nur einen Wink, und im nächsten Moment waren sie beide erneut in die Schatten eingetaucht. Fourmi führte sie zielsicher durch die Dunkelheit des Lagers zu Karvashs Quartier.
Natürlich reiste Karvash mit Stil, und das ließ er sich einiges kosten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Eravier in diesen Belangen weit übertroffen, aber wie immer blieb er, gehindert durch seine eigene Inkompetenz, auf halbem Wege stecken.
Von Anfang an hatte er geplant, tagsüber mit seinen Frauen in einer Kutsche zu reisen und des Nachts und während der Lagerpausen in einem großen, beinahe fürstlichen Zelt zu residieren. Er hatte alle Hinweise und hilfreichen Warnungen ignoriert und allein für sein Quartier Unmengen an Geld verschleudert, nur um festzustellen, dass die vielen und schweren Stoffbahnen, die dafür angefertigt worden waren nach einem Regenguss wesentlich langsamer und unvollständiger trockneten als die kleinen, leichten Zelte der Diener oder die gröberen Planen der Wagen. Deshalb setzten sich Schlamm und Staub um so hartnäckiger in ihnen fest und sie begannen nach mehreren Wochen sogar, langsam zu vermodern. Und da sie notgedrungen auf dem blanken Erdboden zelteten, statt den soliden hölzernen Unterbau eines Wagens unter sich zu haben, wurde es nachts kalt.
Doch zumindest von außen wirkte Karvashs Zelt nach wie vor größer und prunkvoller als Eraviers Quartier und bot nicht nur einiges an Platz, sondern auch einen gewissen Komfort. Vielleicht abgesehen von der Tatsache, dass das Innere dauerhaft feucht und kalt war und inzwischen auch modrig roch.
Zumindest das Problem der Kälte löste Karvash auf die selbe Art, wie er alle anderen Unannehmlichkeiten in seinem Leben ausblendete: Mit der Gesellschaft von Frauen. In diesem Fall, um ihn entweder einen Gutteil oder die ganze Nacht zu wärmen. Da er durchaus nicht gewillt war zu entscheiden, wem diese Ehre zuteil wurde oder gar wann und in welcher Anzahl, wechselte die Anzahl der bei ihm schlafenden Frauen so häufig wie das Wetter.
In dieser Nacht jedoch hatte nur eine Frau den Weg in sein Bett gefunden. Anya seufzte, drehte sich auf die Seite und lauschte Karvashs lautem Schnarchen. Eigentlich hätte die Wärme und der Geräuschpegel einschläfernd wirken müssen, aber sie fühlte sich nicht müde, nur ruhiger. Sie war es gewohnt, neben schnarchenden Männern zu schlafen, aber das war die falsche Tonlage, eher ein ersticktes Schnaufen als das tiefe Brummen, das sie sonst von Gael kannte. Ob es mit den Ereignissen des Tages zusammenhing? Schwer zu sagen, sie war schließlich kein Schnarchorakel.
Die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten, dachte sie sarkastisch, einer deiner Liebhaber schnarcht nicht wie gewünscht, und er will dir nicht einmal deine Freundin abkaufen, weil weder du noch sie charmant genug sind, ihn davon zu überzeugen.
Das hätte komisch sein müssen, und ihre Mundwinkel zuckten nach oben, aber dieser Abend hatte mehr bewirkt, als sie nur in ihrer Eitelkeit zu kränken. Natürlich ärgerte es sie auch, dass ihre Schmeicheleien diesmal so wirkungslos gewesen war, aber das war nicht das Hauptproblem. Karvash würde Jadzia nicht kaufen, und er würde Anya niemals heiraten. All die Zeit, all die Mühe, die sie an ihn verschwendet hatte waren also umsonst, und ihr gingen die Optionen aus.
Abwesend rappelte Anya sich auf und begann ihre Sachen zusammen zu suchen. An anderen Tagen hätte sie die Nacht vielleicht hier verbracht, aber das erschien ihr angesichts der Durchsuchungen gerade mehr als unklug, und außerdem wartete Jadzia immer noch auf sie. Während Anya versuchte, ihr in Unordnung geratenes Haar ein wenig zu bändigen, musste sie lächeln. Ausnahmsweise hatte Jadzia sich sogar darüber beschwert, dass sie einfach abgestellt wurde. Manchmal erstaunte es Anya selbst, wieviel Jadzia ihr durchgehen ließ, wie klaglos und gelassen sie ihre Allüren ertrug. Sie war einfach immer da, so geduldig und sanft wie ein Engel, egal ob Anya lachte oder weinte. Besonders wenn Anya weinte, gestand sie sich ein, und ohne dass sie es wusste, zeigte ihr Gesicht einen bekümmerten Ausdruck. So wie vor einigen Stunden.
Nachdem Jadzia Valion geohrfeigt hatte, hatte sie Anya sanft, aber nachdrücklich fortgeführt, und die hatte sich blind an sie geklammert und gegen die Tränen gekämpft, ohne überhaupt darauf zu achten, wohin sie gingen. Sie hatte sich gleichzeitig geschämt und sich nicht anders zu helfen gewusst, als sich an der einzigen Person festzuhalten, die ihr in diesem Moment etwas Sicherheit vermittelte.
Sie wusste, dass sie Jadzia zu fest packte, dass die Spuren ihrer klammernden Hände später als blaue Flecken auf ihren Armen zurück bleiben würden, und trotzdem konnte sie nicht loslassen. Jadzia machte es nicht das Geringste aus, sie ignorierte es mit stoischer Ruhe, aber die Scham blieb. Und wie immer wurden sie angestarrt, in jeder Minute, die sie sich außerhalb ihres Quartiers aufhielten; mit Tränen überströmten Gesicht und gesenktem Kopf natürlich noch mehr als sonst. Anya versuchte verzweifelt sich zusammen zu reißen, aber es gelang ihr kaum. Ihr Herz wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu rasen.
Irgendwann hielt Jadzia inne und sah sich einen Moment um, und dann kam sie endgültig zum Stillstand. Durch ihren Tränenschleier erkannte Anya, dass Jadzia sie in die Nähe der Quartiere von Karvash und Besnard geführt hatte, wo sie, wenn auch nicht willkommen, nicht ganz so schlecht angesehen waren. Außerdem waren kaum Wachen in der Nähe, die Durchsuchungen schienen hier schon beendet zu sein, und der Trubel hatte spürbar nachgelassen.
Mit viel Geduld führte Jadzia sie weiter zu einigen wackeligen Schemeln, die um ein Feuer gruppiert waren. Früher am Tag hatten hier vermutlich die Diener gesessen und gearbeitet oder auch pausiert, aber jetzt war niemand da, der ihnen die Plätze streitig machte. Anya ließ sich dankbar nieder und bettete ihren Kopf gegen Jadzias Schulter, sobald sie sich dicht neben sie gesetzt hatte. Immer wieder huschten Diener vorbei und streiften sie mit ihre Blicken, aber niemand verweilte lange genug, um sie zu beobachten.
Jadzia legte einen fürsorglichen Arm um Anyas weite Taille, und geduldig begann sie mit der anderen Hand, ihre Tränen abzuwischen und ihr beruhigend über das Haar zu streicheln. Es war eine unendlich sanfte, gleichmäßige Bewegung, und sie war alles, was Anya in diesem Moment brauchte.
Sie schloss die Augen und ließ los, gab den Schmerz und die Sorgen ab, selbst wenn es nur ein Moment war. Ja, nur ein kurzer Moment; Mehr konnte und wollte sie sich selbst nicht zugestehen. Sie schämte sich dafür, dass sie so viel schwächer und verletzlicher als Jadzia war. Es ließ sich so verdammt schwer mit ihrem Stolz vereinbaren, oder mit ihrer so sorgfältig gehüteten Unabhängigkeit. Natürlich waren das dumme Gedanken, weil Jadzia sie niemals damit aufgezogen oder auch nur erwähnt hatte, dass es ihr lästig war, für sie da zu sein, aber das änderte nichts an dem Gefühl, dass sie ihre Freundlichkeit ausnutzte, dass sie mehr nahm, als sie geben konnte. Jadzia verdiente so viel mehr als das Wenige, das sie anzubieten hatte.
„Es tut mir Leid”, flüsterte Anya schließlich, als sie nur noch verhalten schniefte, aber Jadzia schüttelte nur den Kopf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, knapp unter ihrem Haaransatz. Anya konnte gar nicht anders als verhalten zu kichern, weil es kitzelte. „Es ist nicht deine Schuld”, fuhr Jadzia milde fort, aber gleichzeitig hörte Anya auch Ärger aus ihrer Stimme heraus.
Äußerlich war sie so gelassen wie immer, zeigte nicht die geringste negative Regung, aber Anya kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass das nur Fassade war. Jadzia hütete ihr Innenleben sorgfältig, und was sie an Emotionen offen nach außen zeigte war oft nur ein sorgsam ausgewählter Teil ihrer tatsächlichen Gefühle. Was das anging glich sie Eravier, aber Anya hätte sie trotzdem nie auf eine Stufe gestellt. Jadzia schüchterte niemand ein, im Gegenteil, manchmal hatte Anya das Gefühl dass sie alles tat, um nicht negativ aufzufallen und immer versuchte im Hintergrund zu verschwinden. Nur wenn es ihr wirklich wichtig war erlaubte sie sich, ihre wahren, ungeschönten Gefühle nach außen dringen zu lassen.
„Du bist wütend, oder?”, fragte Anya, und fügte sofort, noch bevor sie die Antwort gehört hatte hinzu: „Sei ehrlich!” Jadzia setzte an, um zumindest pro forma zu wiedersprechen, aber ein Blick in Anyas Gesicht verriet ihr, dass sie sich nicht herauswinden konnte. Die eingeschüchterte, weinende Anya war bis auf die geröteten Augen schon wieder verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und hatte ihrem energischen, scharfzüngigen Gegenpart Platz gemacht. Natürlich dank ihr selbst, und das war auch gut so. Gut, aber anstrengend.
Also seufzte sie und gab zu: „Ja, ich bin wütend.” „Wie wütend?”, bohrte Anya nach, und Jadzia antwortete wahrheitsgemäß: „Sehr wütend. Wenn er nicht aufgehört hätte, hätte ich ihn vermutlich zusammen geschlagen.” Es war eine nüchterne Feststellung, und sie wussten beide, dass sie es gekonnt hätte. Valion war nur ein Junge, und er hatte keine Ahnung, wie er sich verteidigen musste; sie hätte ihn ohne Anstrengung zu Kleinholz verarbeitet. Und genau deshalb hatte sie es bei einer Ohrfeige belassen. Einen Schwächeren zu schlagen und zu demütigen war überhaupt nicht in Jadzias Interesse, und wäre es nicht um Anya gegangen hätte sie vielleicht noch nicht einmal die Hand gegen ihn erhoben.
Aber Anya war mit dieser Antwort immer noch nicht zufrieden. „Du klingst aber nicht sehr wütend. Nicht einmal beleidigt”, stellte sie fest, und aus ihrer Stimme klang ein tadelnder Unterton. „Anya…”, warnte Jadzia, aber wie immer ließ sie sich davon nicht beeindrucken. „Du darfst deine Wut ruhig zeigen, weißt du? Versuch es einfach! Du könntest zumindest die Stirn runzeln, oder die Stimme erheben, oder »Grrr« sagen.”
Jadzia sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren, und fragte perplex: „Sagt irgendjemand »Grrr«, wenn er wütend ist?” „Nein, aber du könntest es ausprobieren”, erwiderte Anya völlig ernst. Es wäre fast überzeugend gewesen, wenn ihre Mundwinkel nicht verräterisch gezuckt hätten, und das sagte Jadzia alles, was sie wissen musste. Anya versuchte wieder einmal, sie aufzuziehen, weil sie wusste, dass es der sicherste Weg war, ihre wahren Gefühle an die Oberfläche zu bringen, all die unsortierten Gedanken und die zurückgehaltenen Emotionen. Das war das Wunderbare, und das Gefährliche an Anya: Wenn man nicht Acht gab, förderte sie all die Empfindungen zutage, die man sich selbst nicht einzugestehen wagte, die Guten wie die Schlechten.
Und Jadzia spürte, dass ihre mühsam zurückgehaltene Wut ebenfalls an die Oberfläche treten könnte, und das war gefährlich. Nicht gefährlich für Anya, weil sie ihr niemals etwas hätte antun können. Gefährlich für sie selbst, für das Bild, das andere von ihr hatten. Es lag an der dunklen Haut, an den dunklen Augen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass man sie nicht als Mensch sah, sondern als ein mühsam gezähmtes Tier. Und wenn sie wütend war, wenn sie auch nur das Gesicht verzog, dann sah sie die Furcht und die Abscheu in den Augen der anderen.
Das Tier. Das Tier ist zurück.
Und da waren sie, die Emotionen; Anya hatte sie wie immer hervor gezerrt. Jadzia spürte, wie ihr die Gesichtszüge entglitten. Nein, niemand sollte ihre Wut sehen, ihre Trauer. Sie schmiegte sich lieber an Anya, vergrub ihr Gesicht in ihrer weichen Halsbeuge und ihren roten Locken, machte sich und ihre ohnmächtige Wut unsichtbar. Sie ließ nur sie daran teilhaben, als sie leise, in einem langen, unzusammenhängenden Wortschwall, alles hervor brachte.
„Ich war schon den ganzen Tag wütend auf ihn. Ich dachte erst, er wäre einfach ein harmloser, verwirrter Junge, der seinen Freund verloren hat. Aber er hat Dinge gesagt… und er hat dich die ganze Zeit angesehen. Beurteilt. Er hat kein Recht dazu. Er kennt dich überhaupt nicht! Er kann dich nicht beurteilen!”, murmelte sie wütend, und Anya musste beruhigend nach ihrer Hand greifen, weil sie sie so fest zur Faust ballte, dass es schmerzte.
„Ich hätte etwas tun müssen, ihm den Kopf zurecht rücken, als ich noch Zeit hatte, aber ich… ich habe gezögert. Ich dachte, dass es vielleicht vergeht. Dass er sich fängt. Er ist jung, nicht wahr? Und dann hat er dich angegriffen, und… Ich war rasend. Ich musste mich daran erinnern, dass er nur ein Junge ist, dass er vermutlich gar nicht weiß, was er tut. Aber ist das eine Ausrede?” „Ist schon gut. So schlimm war es nicht”, versuchte Anya sie zu beruhigen, aber Jadzia schüttelte sacht den Kopf, atmete zitternd aus. „Es ist wieder passiert, oder?” Sie wartete keine Antwort ab, weil sie sie nicht benötigte, weil sie die Wahrheit längst kannte, sondern fuhrt nur fort: „Diese… Erinnerung, die dich quält. Ich habe es dir angesehen. Und das hat mich noch wütender gemacht. Er hat dich erinnert, und du warst… überhaupt nicht da. Und dafür wollte ich ihn am liebsten töten, dass er dich wieder in diese Hölle zurück gebracht hat.” „Er konnte es nicht wissen”, wandte Anya ein, aber das konnte Jadzia nicht akzeptieren. Heftiger und hasserfüllter als sie wollte flüsterte sie: „Es ist mir egal! Alle seine guten Absichten, alle seine Gründe! Nichts davon ist eine Entschuldigung! Ich verzeihe ihm das nicht!”
Sie atmete tief ein und aus, nachdem sie das losgeworden war, und ja, es tat gut. Anya war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der sie so sehen durfte. Und es machte ihr nichts aus, sie akzeptierte es einfach, nahm es hin. Und nur deshalb konnte Jadzia es ebenfalls loslassen, und sie fühlte sich ruhiger.
„Ich weiß”, murmelte Anya milde, und sie küsste Jadzias Schläfe. Es gab nichts Schöneres, als von ihr geküsst zu werden, zumindest nicht für Jadzia. Es gab überhaupt nichts Schöneres als Anya, ihren weichen, warmen Körper, ihr Lächeln, den Duft ihres wunderschönen, roten Haars. Und nichts davon würde jemals ihr gehören. Anya gehörte zu den Männern wie die Männer zu Anya, das hatte sie nur allzu schnell begriffen. Es war eine der vielen Ungerechtigkeiten, die sie erduldete, weil es nicht in ihrer Macht stand, etwas daran zu ändern.
Deshalb ließ sie ihre Freundin los und atmete seufzend aus, entfernte sich ein wenig von ihr, auch wenn Anya sie im ersten Moment gar nicht gehen lassen wollte. „Jad-”, setzte sie an, und dann ertönte ein Schuss.
Sie erstarrten beide, genau wie zwei Diener, die gerade mit einem verkniffenen Gesicht und abfälligen Seitenblicken an ihnen vorbei geeilt waren, und für einen Moment sahen sie sich alle in stummen, geteilten Entsetzen an. „Was war das?”, fragte Jadzia, und der ältere der beiden Diener antwortete hastig und im Flüsterton, als könnten sie belauscht werden: „Der Rebellionspion. Sie haben ihn vorhin gefasst. Das war die Hinrichtung.” Anyas Herz krampfte sich zusammen. Was, wenn Fourmi… aber nein. Er hatte von den Durchsuchungen gewusst, hatte das Mädchen zu Valion geschickt, nach dem er sie ausgefragt hatte. Wer auch immer gefangen genommen worden war, es war bestimmt nicht Fourmi. Nur eine arme Schachfigur.
Und dennoch, auf subtile Weise, änderte diese Hinrichtung alles. „Es geht also wirklich los”, sagte Anya leise, und obwohl niemand von ihnen wusste, was genau dieses Etwas sein sollte, spürten sie doch alle, dass es die Wahrheit war. Die Durchsuchungen waren nur der Anfang gewesen, das Vorgeplänkel. Die Spiele begannen jetzt, und ohne ein weiteres Wort suchten die Diener mit gesenkten Köpfen das Weite.
Anya begriff, was die neue Situation bedeutete: Sie musste ihre Angelegenheiten ordnen. In den kommenden Tagen, zumindest, bis sie die Hauptstadt erreichten, durfte sie sich keine Fehler mehr erlauben. Nicht, wenn sie das wollte, was Fourmi ihr anbot. Sie hatte keine Zeit mehr, herum zu albern, die Dinge langsam anzugehen. Es gab eine Liste von Männern, die sie umgarnt hatte, gehegt und sich zurecht gelegt. Vermutlich musste sie jetzt endgültig ihre Allianzen festlegen, die nützlichen behalten und die unnützen aussortieren. Eravier war verrückt, sie tat besser daran, seine direkten Untergebenen zu meiden. Besnard und Karvash waren Optionen. Die anderen Diener und Wächter? Sie notierte sie gedanklich bei »Vielleicht«. Und dann musste sie Jadzias Vertrag bei jemand unterbringen, ein paar Informationen spielen lassen und Vorbereitungen treffen, um im Zweifelsfall ein paar Gefallen einzufordern. Und Valion ausbilden. Bei dem Gedanken verkrampfte sich etwas in ihr. Ausgerechnet, nach allem was vorgefallen war, lag der Junge jetzt mehr denn je in ihrer Verantwortung.
Sie schob den Gedanken vehement von sich, das Wichtigste, das erste große Problem, das sie angehen musste, war Jadzias Vertrag. Anya warf ihr einen Blick zu, und konnte sie natürlich keine Sekunde täuschen.
„Du hast schon wieder etwas vor”, stellte Jadzia ruhig fest, und Anya nickte. „Ich fürchte wir werden nicht darum herum gekommen, heute noch einmal bei Besnard und Karvash vorbei zu sehen”, erklärte sie, und schickte ein „Ich weiß, ich weiß” hinterher, als Jadzia seufzend die Arme verschränkte. „Ich weiß, es geht um meinen Vertrag, aber heute? Es ist spät. Und denkst du wirklich, die beiden werden nach einer Hinrichtung in der Stimmung für Liebeleien sein?” Anya schnaubte amüsiert, richtete sich auf und warf ihr Haar zurück. Es war ein bisschen kläglich, weil sie immer noch rote Augen hatte, aber sie machte es mit ihrer Energie und ihrem Lächeln wieder wett. „Mit ihren Ehefrauen? Eher nicht. Mit mir? Worauf du dich verlassen kannst.” Sie bemerkte, wie unordentlich ihr Lockenschopf schon wieder war, durchkämmte ihn verärgert mit ihren Fingern und fügte mit Sarkasmus hinzu: „Männer lieben zottelige Waldtiere.”