Das erste, das er nach der langen Dunkelheit wahr nahm, war Gurren und aufgeregtes Flattern.
Tauben.
Das Echo der schwirrenden Flügel hallte in dem großen, kühlen Gebäude wieder. Seine Hände zuckten, krochen unter der Decke hervor, unter der er lag, ertasteten Steinfliesen, Sand, Moos. Eine einzelne Feder.
Wo bin ich?
Stöhnend öffnete er die Augen und traute ihnen zuerst nicht, weil sie Dinge sahen, die nicht existieren konnten. Bunte Lichtreflexe erhellten den Boden um ihn, rot, grün, blau, geisterhafte Schatten von Farben. Sein Rücken schmerzte, seine Arme, Hände und sein Bauch brannten wie Feuer, und seine Augen waren verklebt. Am liebsten hätte er nur still da gelegen und keinen Muskel bewegt.
Trotzdem wälzte er sich herum und blickte zur Decke hinauf, die bestimmt fünf Meter über ihm schwebte. Risse zogen sich darüber, und dunkle, moosige Flecken zeigten, wo Wasser durch das Dach gedrungen war. Eine Reihe Taubennester ruhte auf dem Geländer einer kleinen Empore, weiß verschmutzt und voller Federn, und das allgegenwärtige Gurren hallte von den Wänden wieder. Alle Fenster waren zerbrochen und teilweise mit Latten vernagelt oder zugemauert, die leuchtenden Motive aus Buntglas, die sie früher gezeigt haben mochten, zerstört. Auch das Fenster, durch das die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages auf ihn fielen, war zertrümmert und warf nur eine traurige, blasse Erinnerung der brillanten Farben vor ihm auf den Boden.
Ein Gotteshaus. Er befand sich in einer alten, verfallenen Kirche.
Seine Augen wanderten weiter, zu einer kleinen Kanzel, die vermutlich schon lange als Festmahl für Holzwürmer diente. Efeu rankte daran hinauf, schlängelte sich aus dem gesplitterten Boden über die ganze Wand und bis hinauf zu dem Flügelaltar, der kein Altartuch mehr trug. Die traurigen, ernsten Gesichter auf den nachgedunkelten Ölgemälden sahen zu ihm herunter. Christus eindringlicher Blick durchbohrte ihn, das Gesicht leidverzerrt, ein Speer in seiner Seite.
Fast ohne Nachzudenken tastete er nach seiner eigenen Verletzung; die Schmerzen, zuerst nur ein dumpfes Brennen, waren allein dadurch dass er sich auf den Rücken gedreht hatte stärker geworden. Und er erinnerte sich wieder, woher er diese Wunde hatte. Wer sie ihm zugefügt hatte. Es schien ihm nur Stunden her zu sein.
Weißt du, irgendwie dachte ich du hättest es ernst gemeint, als du sagtest, du würdest mich nicht verlassen.
Alles in ihm krümmte sich bei der Erinnerung. Warum hatte er das gesagt? Warum hatte er Valion nieder geschlagen?
Verzweifelt verbarg Jan sein Gesicht in den Händen, aber er sah trotzdem alles vor seinem inneren Auge. Valions entsetztes Gesicht. Tarns entschlossene Miene, als der Bastard sie gegeneinander ausgespielt hatte, so wie Jan es die ganze Zeit befürchtet hatte. Er hätte es im ersten Moment wissen müssen, vorhersehen müssen, was dieses Arschloch plante. Und doch war er im ersten Moment völlig darauf herein gefallen, hatte nur aus Instinkt gehandelt. Weil er gezweifelt hatte, weil er Valion nicht geglaubt hatte. Weil er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie sehr Valion diesem Mistkerl vertraute, auf ihn hörte.
Und hatte er nicht verstanden, warum es so war? Warum Tarn zu dieser Lösung gegriffen hatte?
Nein. Nein.
Um Valion zu retten. Vor dir. Vor dem, was du vor hattest.
Nein. Er hatte ihn nicht verraten wollen. Nicht mehr. Ganz sicher. Ihre Flucht wäre gelungen, ganz sicher auch ohne, dass einer von ihnen dabei auf der Strecke blieb. Alles war Tarns Schuld. Seine verdammte Loyalität Eravier gegenüber, die verdammte Anmaßung, bestimmen zu wollen, was mit Valion geschah, das hatte sie zu Fall gebracht. Aber wenn sie dachten, dass er Valion einfach so zurück lassen würde
Aber hast du das nicht vorgehabt?
Wenn sie das dachten, dann hatten sie sich geirrt. Selbst wenn er letztendlich mitgespielt hatte. Seine Lügen waren für Valion gewesen, um ihn zu beschützen
Du bist weggelaufen.
Um ihn zu beschützen vor Eravier. Das war ein taktischer Rückzug gewesen, nicht die endgültige Niederlage. Eine Möglichkeit, sie in Sicherheit zu wiegen, bis er zurück schlagen konnte.
Du willst immer noch weglaufen.
Und zurückschlagen würde er, und gnade Gott, wer sich ihm dann noch in den Weg stellen würde. Er schwor sich, dass er das nächste Mal keine Rücksicht mehr auf irgendjemand nehmen würde. Wenn das hieß, Tarn aus dem Weg zu räumen, umso besser.
Mit jedem weiteren, verwirrten und hasserfüllten Gedanken steigerte steigerte sich seine Wut, und ohne dass er es selbst wahr nahm kehrte der gleichgültige, steinerne Ausdruck in sein Gesicht zurück. Aber gleichzeitig half es ihm, die Verwirrung und Desorientierung endlich abzuschütteln.
Jan ließ die Hände sinken und rappelte sich in den Sitz auf, jetzt wesentlich wacher und konzentrierter. Als erstes musste er sich umsehen. Er hatte keine Ahnung, wie er an diesen Ort gelangt war, diese verlassene, halb verfallene Kirche, in der statt Gott jetzt die Tauben hausten. Das einzige, woran er sich dunkel erinnerte, war der Ritt auf dem Pferd, so weit weg, wie er nur fliehen konnte, und irgendwann war ihm schwarz vor Augen geworden. Jemand hatte ihn gefunden; Er musste heraus finden, wer ihn hierher gebracht hatte, und wo er jetzt war, in welchem Ort oder welcher Stadt.
Eine unmittelbare Antwort auf diese Frage bekam er jedoch nicht. Er war allein, der Altarraum und das Kirchenschiff lagen verlassen und verrottet vor ihm. Das einzige brauchbare, das in direkter Reichweite war, war ein völlig verbeulter Becher aus Zinn, der irgendwann einmal Wasser enthalten haben musste. Er kam ihm vage bekannt vor, als hätte er ihn in der Hand gehabt. Vielleicht hatte er das; vielleicht hatte er halb bewusstlos Wasser getrunken und erinnerte sich nur nicht daran.
Unter ihm war nur eine grobe Decke und der nackte Fliesenboden, auf ihm eine dickere Flickendecke. Aber jemand hatte ihn angezogen, regelrecht eingepackt in mehrere Schichten von Kleidung. Alte, schäbige Lumpen, die ihn trotz ihres räudigen Zustandes warm gehalten hatten. Nur der Verband über seinem Bauch, den er schließlich freilegte, sah neu und sauber aus, auch wenn sein Blut ihn getränkt hatte. Fesseln, Fuß- oder Handschellen trug er keine, also war er anscheinend kein Gefangener. Vorerst.
Oder war das ein Trugschluss? Während Jans Augen rastlos über die verfallene Einrichtung der kleinen Kirche glitten, arbeitete sein Verstand. Wer hätte ihn ausgerechnet an diesen alten, verlassenen Ort gebracht, wenn nicht, um ihn vom Rest der Welt abzuschneiden? Wenn ja, war das seinem Retter Sicherheit genug gewesen, und er selbst wirklich unbewacht? Irgendwie bezweifelte Jan das, trotz allem. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendjemand in nächster Nähe bereit stand, um ihn im Zweifelsfall in Schach zu halten.
Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er Schritte hörte, die sich ihm näherten. Sie schienen aus der kleinen Sakristei zu kommen, die gleich neben dem Altarraum lag und durch eine verzogene Holztür von diesem getrennt wurde. Sie öffnete sich gleich darauf, und ein rundlicher Junge mit brauner Haut und dunklem krausen Haar, dem Aussehen nach etwas jünger als Jan, trat hindurch. Er schien darauf bedacht, seine Arbeit zu verrichten, ohne seinen Gefangenen unnötig zu wecken, hielt jedoch inne, als er bemerkte, dass eben jener inzwischen hellwach war.
Jan sprang instinktiv auf, ein dummer Fehler, weil sich sofort alles um ihn drehte; Er hatte zu lange gelegen, zu wenig gegessen und zu viel Blut verloren. Trotzdem stolperte er auf den Fremden zu und ballte die Fäuste. Der Junge war kräftiger, gesünder und wog vermutlich einiges mehr, aber wenn es sein musste, würde er ihn auch in diesem Zustand noch überwältigen.
Allerdings war das gar nicht nötig. Der Fremde duckte sich furchtsam, und sein rundes Gesicht zeigte nur Überraschung, als er aufgeregt stammelte: „W-warte, ich- ich bin nur hier um auf dich aufzupassen! Ich tue dir nichts!“ „Und das soll ich dir abkaufen?“, knurrte Jan wütend und trat noch einen weiteren Schritt auf ihn zu, aber sein Gegenüber wich nur weiter vor ihm zurück, setzte sich nicht einmal zur Wehr. Harmlos, das war er, mehr Beobachter als Wächter, das gestand sich Jan im nächsten Moment ein. Und damit vielleicht auch völlig nutzlos für ihn.
Trotzdem versuchte Jan, etwas aus ihm heraus zu bekommen. „Gut, dann sagst du mir jetzt deinen Namen und wer mich her gebracht hat, sonst werde ich ungemütlich!“, drohte er, nur um beinahe über seine eigenen Füße zu stolpern. Wäre der Junge nicht so arglos gewesen, hätte er ihn jetzt ausgelacht. Stattdessen sah er besorgt aus und griff nach ihm, und verhinderte damit, dass er zu Boden stürzte. „Du bist noch schwach, du solltest dich hinlegen!“, sagte er, und obwohl Jan sich sofort los riss, gab er seine Drohungen zähneknirschend auf und taumelte zurück zu den Decken, um sich vorsichtig zu setzen. Eigentlich wollte er sich einen letzten Rest Würde bewahren und aufrecht sitzen bleiben, aber letztendlich kippte er einfach nur um und blieb schlaff liegen, während sich alles um ihn drehte.
„So ein Mist“, murmelte er verärgert, und der Junge kniete sich neben ihn und musterte ihn mit einem besorgten Blick. Er wollte sogar Jans Stirn fühlen, aber der wedelte seine Hand ärgerlich weg. „Lass das, ich komm alleine zurecht!“, knurrte er. „Sag mir lieber wer du bist und was ich hier soll!“ „Flocon heiße ich“, sagte der Fremde nach einem kurzen Zögern und ging nicht auf seine Feindseligkeit ein. „Aber alle nennen mich »Flo«.“ Jan notierte sich das gedanklich unter »offensichtlicher Deckname«, hielt aber den Mund. „Du musst dir keine Sorgen machen, hier tut dir niemand etwas“, fuhr Flo fort. „Und niemand kennt dieses Versteck, Eravier wird dich hier nicht aufspüren.“
Die Erwähnung des Namens sagte Jan alles, was er wissen musste. „Also hat mich die Rebellion hierher geschleppt?!“, fragte er heftig und wollte sich aufrappeln, aber Flo hielt ihn zurück. Er brauchte dafür nicht einmal Kraft aufzuwenden, er hielt Jans geschwächten Körper so mühelos nieder wie den eines Kindes. Er sprach auch mit der selben freundlichen Nachsicht, mit der man ein Kind besänftigt hätte, als er erklärte: „Sie haben dich her gebracht, weil du kurz davor warst zu sterben.“ „Und wozu? Was wollen sie mit einem halbtoten geflohenen Sklaven?“, protestierte Jan und versuchte vergeblich, sich doch noch einmal aufzurichten, aber mit seinem einen, wütenden Ausbruch schien er sämtliche Kraft verbraucht zu haben.
Flo sah ihn nur mit absolut leerem Gesicht an und zuckte mit den Schultern. „Das hat er mir nicht gesagt. Nur, dass ich auf dich aufpassen soll, bis er zurück kommt. Bis dahin solltest du dich ausruhen.“
„Wer er »er«?“, versuchte Jan nach zu bohren, aber Flo antwortete ihm nicht, schüttelte nur langsam den Kopf. Sein Gesicht verschwamm dabei vor Jans Augen, und er blinzelte mühsam, aber er konnte die lähmende Müdigkeit, die ihn befiel, nicht vertreiben. Er kämpfte gleichzeitig um sein Bewusstsein und darum, Antworten zu erhalten. „Weißt du wenigstens etwas über… über meinen Freund? Wir wurden getrennt“, murmelte er, doch Flo schüttelte nur noch einmal den Kopf. Seine Stimme klang seltsam dumpf in Jans Ohren, als er sagte: „Schlaf noch ein bisschen.“
Obwohl Jan widersprechen wollte, kam nur noch ein undeutliches Flüstern über seine Lippen. Die farbigen Lichtflecken auf dem Fußboden vor ihm schienen zu tanzen, und er schloss die Augen. Dann hatte die Dunkelheit ihn wieder zu sich geholt.
Er träumte von Valion. Er hatte immer von ihm geträumt, ganz von Anfang an. Selbst, als er ihn noch für einen naiven Idioten gehalten hatte. Selbst, als er schon fest vorgehabt hatte ihn auszuliefern und sich alle Zweifel daran verboten hatte. Vielleicht waren die verdammten Träume sogar daran Schuld, dass er sich letztendlich doch Hals über Kopf umentschieden und in diesen ganzen Irrsinn hinein gestürzt hatte.
Aber ganz am Anfang hatte er sie nur als verzweifelte Signale seines Körpers und Verstandes gesehen, dass er in seiner winzigen, dunklen Zelle langsam aber sicher verrückt wurde.
Der erste Traum, in dem Valion eine Rolle spielte war beunruhigend, denn er sah nur eine schattenhafte Gestalt, ohne erkennbares Gesicht, die mit seiner Stimme sprach. Später erinnerte er sich nicht mehr, worüber sie eigentlich gesprochen hatten; irgendetwas Belangloses vermutlich. Doch beim Aufwachen hatte sein Herz hektisch in seiner Brust geschlagen, und er hatte mit den Augen jede Ecke seiner Zelle nach einer schattenhaften Gestalt abgesucht. Die Anwesenheit einer anderen Person war ihm mitten in der Nach, hoch geschreckt aus dem Schlaf, plötzlich nicht nur völlig plausibel, sondern auch absolut bedrohlich erschienen.
Das war der Grund gewesen, warum er nach dem ersten Traum all seine Zeit und all seine Energie darauf verwendet hatte, diesen verdammten Spalt in der Wand zu verbreitern, auch wenn er Valion nichts davon erzählt hatte. Wenn er schon davon träumte, dass jemand bei ihm war, dann irgendeine greifbare Gestalt, ein Gesicht, das er zuordnen konnte.
Besonders viel sah er nicht von Valion, zu keiner Zeit. Nicht, bevor sie sich wirklich gegenüber standen. Aber als er den Spalt heimlich so verbreitert hatte, dass er hindurch sehen konnte, hatte er mehrmals einen Blick auf sein Gesicht erhascht, während sie mit einander sprachen. Damit nahmen seine Träume Gestalt an, erst subtil, dann deutlicher. Und vielleicht lag es daran, dass er vorher nie seine Mimik gesehen hatte, aber seine Wahrnehmung von Valion änderte sich.
Zuerst hatte er ihn für naiv und simpel gehalten. Wenn man der Litanei an absolut banalen Ereignissen lauschte, die sein Leben bestimmten, hätte man meinen können, dass sie allesamt aus einem Märchenbuch stammten. Und eine Weile hatte Jan ihn darum genauso heimlich wie bitter beneidet. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sein Gesicht beim Sprechen beobachtet hatte.
Vielleicht lag es nur daran, dass Valion sich unbeobachtet fühlte und sich deshalb keine Mühe gab, seine Gesichtsausdruck zu beherrschen. Aber die Art, wie er manchmal die Stirn runzelte, oder konzentriert geradeaus starrte, obwohl er etwas völlig Harmloses sagte, strafte seine Worte Lügen.
Irgendwann glaubte Jan zu wissen, dass Valion ein noch viel besserer Lügner war als er selbst. Seine Stimme gab keinen Aufschluss darüber wann er log und worüber, aber im Grunde war das Jan sogar egal; ihm reichte das Wissen, dass auch Valion etwas zu verbergen hatte. Ein Kratzer in der so makellosen Fassade. Als Jan diese Tatsache das erste Mal aufgegangen war, hatte er lächeln müssen, ohne dass er wusste wieso.
Vielleicht hatte er sich in diesem Moment das erste Mal zu Valion hingezogen gefühlt. Er musste geahnt haben, dass hinter dem langweiligen Äußeren irgendetwas Komplizierteres lag, etwas weniger schlichtes, als das sommersprossige Gesicht, das straßenköterblonde Haar und die farblosen Augen verhießen.
Irgendetwas; Er hatte nicht einmal gewusst was. Er hatte nicht danach gesucht, nichts davon gewollt. Nur beobachtet, und weiter geträumt. Valion war bei ihm, ob er wach war oder schlief, er sprach immer mit ihm. Und in der Dunkelheit vervollständigte sich das Bild in Jans Gedanken; wenn er die Augen schloss, konnte er Valions Gesicht sehen. Er hatte die Form in Holz graviert, damit er sie nicht ständig vor Augen hatte.
Das hat alles nur schlimmer gemacht.
Wenn du das liest, werde ich nicht mehr hier sein, hatte er in die Wand seine Zelle geritzt, der Beginn eines langen, bitteren Geständnisses. Eine Nachricht, die Valion vielleicht irgendwann finden würde, wenn alles so ablief wie Jan es geplant hatte. Wenn ein Wunder geschah und sie beide überlebten. Aber wie wahrscheinlich war das? Wenn er sich seinen Platz zurück gekauft hatte, so wie Eravier es versprochen hatte, wer sagte, dass Valion nicht beiseite geschafft wurde? Wie wahrscheinlich war, dass er selbst wieder gesund wurde?
Aber hatte er denn eine Wahl? Hatte er wirklich all diese Qualen auf sich genommen und so lange in dieser Zelle gesessen, gefroren, gefiebert und beim Husten Blut gespuckt, um alles hin zu werfen? Für irgendjemand, den er kaum kannte?
Für irgendjemand, der ihm zuhörte? Der sich Sorgen um ihn zu machen schien? Sich ihm immer weiter öffnete?
Manchmal hatte er gewusst was Valion sagen würde, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Das war unheimlich. Genauso wie die Tatsache, dass Jan ihn immer häufiger beobachtet hatte, sich geradezu danach sehnte, ihn zu sehen. Eigentlich hatte er nur sein Bild vervollständigt, Details hinzugefügt, ausgebessert, zumindest hatte er sich das eingeredet. Das Dumme war, dass es manche dieser Details eigentlich nicht gab. Nur er sah sie, und nur in seinen Träumen.
Träume wie der, den er auf dem kalten Boden der Kirche träumte. Er lag irgendwo in der Mitte zwischen dem Wachsein und den wirren Traumbildern, die er nicht mehr enträtseln konnte. In diesen Träumen schien alles um ihn seltsam real, und doch verworren.
Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke der Kirche hinauf. Wasser lief durch das Dach, regnete in silbernen Tropfen auf ihn herunter, aber er spürte kaum etwas davon. Valion anscheinend auch nicht. Er lag neben ihm und hatte die Augen geschlossen, öffnete sie aber, als Jan ihn ansah. Bunte Lichtreflexe spiegelten sich in ihnen, Blau, Rot, Gelb. Sie reflektierten auch auf den scharfen Kanten bunter Glasscherben, ein ganzes Meer von ihnen, das sich bis zu den verfallenen Wänden der Kirche erstreckte. Es gab keine Lücke in diesem funkelnden Teppich, keine einziger Zentimeter an dem man sich nicht verletzen konnte.
Jan runzelte die Stirn, weil er glaubte, etwas Wichtiges vergessen zu haben. „Du bist hier“, sagte er langsam, und Valion schmunzelte darüber. „Ja“, antwortete er nur, „für eine Weile.“ Etwas an der Art, wie er das sagte, störte Jan auf, und er drehte sich zu Valion um, legte seinen Arm um ihn, aber das schmerzte. Er sah hinab zu seiner Bauchwunde, die wieder angefangen hatte zu bluten. Rote Flüssigkeit sickerte durch seine Kleidung, tränkte den Stoff und die Decke unter ihnen. Valion bemerkte es auch, und sein Blick war so besorgt, dass Jan einfach darüber scherzen musste. Nur, um ihn zu beruhigen, ihm das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung war.
„Keine Angst, dein Plan, mich in einem Bratspieß zu verwandeln ist nicht aufgegangen“, sagte er, und Valions Gesicht zeigte die Andeutung eines Lächelns. Seine warmen Hände schoben sich unter sein Hemd, berührten seine nackten Seiten, rahmten die klaffende Wunde ein, als könnte sie dadurch geheilt werden. „Es tut mir Leid. Ich hätte ihm nicht vertrauen dürfen. Ich hab es vermasselt. Das ist alles meine Schuld“, gab er zu.
Die Worte waren so ehrlich und überzeugt vorgetragen wie alles, was Valion zu ihm gesagt hatte. Und das war auch das ganze Problem, nicht wahr? Der Grund, warum Jan verzweifelt nach Worten suchte, ihm zu widersprechen, und sagte: „Es war nicht nur deine Schuld. Ich hätte ja auch nicht- Ich meine, ich wollte eigentlich…“ Er brach hilflos ab. Die Wahrheit tat weh, und Valions offener, ehrlicher Blick war noch schlimmer. „Ich wollte dich ausliefern“, gab er zu, nicht ohne hastig hinzu zu fügen: „Aber nur anfangs! Nicht mehr, nachdem-“
Und wieder stockte er, weil er nicht wusste, was er sagen wollte. Sein Entschluss war mehrmals ins Wanken geraten, das erste Mal, als er Valion gegenüber gestanden hatte. Und als er auf seinem Schoß gesessen hatte waren all seine verwirrenden, sehnsüchtigen Träume wahr geworden. Träume, aus denen er schweißgebadet erwachte und neben sich tastete, nur um mit den Händen gegen die unnachgiebige Holzwand zu stoßen. Und das hatte er trotzdem nur darauf geschoben, dass er so verdammt allein war, und dass er so tun musste, als würde er Valions Gefühle erwidern. Er schauspielerte nur. Denn hätte er sich eingestanden, dass das Feuer, das Valions Berührungen in ihm entzündeten echt war, wie hätte er ihn dann jemals verraten können?
Er hatte er sich gezwungen, Eraviers Spiel mit zu spielen. Und doch die verdammte Spiegelscherbe immer bei sich behalten, unschlüssig, was er mit ihr tun sollte. Er hatte sie mit seinen Kleidern zu Boden geworfen, unter seinem Fuß verborgen, wieder aufgehoben, als er sich zur Ablenkung am Knöchel gekratzt hatte, und dann bei Husten in den Mund geschoben und genau so wieder hervor geholt. Warum? Das ganze war Irrsinn gewesen, die gefährlichste Täuschung, die er jemals zustande gebracht hatte. Trotzdem hatte er nicht gezögert und all seine Taschenspielertricks benutzt, bis er Eravier hatte, wo er ihn haben wollte.
Wozu? Um sich bis zur letzten Sekunde alles offen zu halten? Um sich zu beweisen, dass er nicht wirklich so ein Mistkerl war, der
seinen Geliebten
der seinen einzigen Freund einfach verriet?
Und letztendlich war sein Entschluss nur aus einem Grund ins Wanken geraten. Oder vielleicht aus zwei Gründen. Da waren die Blicke, die von Valion ausgingen und ihn fassungslos verfolgten, weil er mit allem gerechnet hatte, aber nicht mit seinem Verrat. Er hatte nie gezweifelt, und das Schreckliche war, dass Jan sich wünschte, ihn nicht enttäuschen zu müssen.
Und da war der wütende, eiskalte Blick von Tarn, der vermutlich fieberhaft darüber nachgedacht hatte, wie er Jan schnell und einfach umbringen konnte, ohne dabei selbst ins Kreuzfeuer zu geraten. Und unter seinem Blick hatte sich Jan nicht nur wie ein Dreckschwein gefühlt, er hatte verstanden, dass Tarn genau das von ihm erwartet hatte. Tarn hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass er Valion nur in falscher Sicherheit gewogen hatte. Und das hatte Jan auf eine völlig neue Art gekränkt.
Tu nicht so, als wäre ich der einzige Verräter, hatte er wütend gedacht. Mich hast du schließlich nicht beschützt! Womit hat Valion verdient, dass du alles von ihm fern hältst? Warum er, und nicht ich? Warum hast du Eravier nicht gesagt, dass ich gesund werde, dass ich bleiben kann? Das hier ist auch deine Schuld!
Und zur Krönung des Ganzen? Hatte Tarn auch noch versucht, ihn zu erschießen. Zweimal! Wer war hier das Dreckschwein? Er selbst bestimmt nicht.
Aber seit diesem Augenblick war er hin und her gerissen gewesen.
Er hätte Valion als Köder voraus zu schicken und die Aufregung nutzen können, um sich aus dem Staub zu machen.
Valion einfach mit seinem Freund ziehen lassen können.
Aber eigentlich wollte er ihn auf gar keinen Fall irgendjemand anders überlassen, obwohl das das Gegenteil von all dem gewesen war, was er geplant hatte.
Gehörte Valion jetzt nicht ihm? Er hatte ihn sich erkämpft, er hätte Eravier dafür die Kehle durch geschnitten und wäre fast erschossen worden. All das nur, um am Ende nichts mehr davon zu haben?
Nur, dass er Valion nicht besitzen wollte. Er wollte wirklich geliebt werden, und das war verwirrender als alles andere. Warum musste er sich mit all diesen verrückten Gefühlen herum schlagen?
Er beendete seinen angefangenen Satz nicht, stattdessen flüsterte er nur: „Du hast alles durcheinander gebracht“, und zog Valion enger an sich. Er mochte seine Sommersprossen, daran dachte er, als er ihn küsste. Er mochte seine idiotische absolute Ehrlichkeit, die alle in Schwierigkeiten brachte, sogar ihn, obwohl er doch nur so lange überlebt hatte, weil er so ein guter Lügner war. Valion streifte ihre Kleidung ab, als wäre sie gar nicht da, und im nächsten Moment war er schon über Jan. Die Lichtreflexe, die vom bunten Glas zurück geworfen wurden, geisterten über seine schmalen Schultern und die wirren blonden, fast kinnlangen Haare
denn in seinen Träumen hatte ihm niemand die Haare geschnitten, er mochte es lieber so
die Jans Gesicht kitzelten. Er mochte Valions Körper, auch wenn er anders war, als er ihn sich in seinen Träumen vorgestellt hatte. Aber was hätte er unter der an ihm schlackernden, abgetragenen Kleidung schon erkennen können?
Eigentlich hatte er gehofft, dass er der größere, stärkere, selbstsicherere von ihnen beiden sein würde, weil er das so gewohnt war. Er war nicht darauf vorbereitet, auf einer Augenhöhe zu sein. Vielleicht hatte Valion das verstanden, als er die Initiative ergriffen hatte, so wie das jetzt tat. Er drehte ihn herum, auf den Bauch, und Jan schauderte wohlig, als er ihn an der Hüfte griff, zu sich zog.
Seine Hände glitten auf den Scherben aus, versuchten auf dem Boden Halt zu finden, er schnitt sich, und merkte es kaum. Seine Wunde brannte, aber er ignorierte sie, bog den Rücken durch. Er stöhnte auf, sein ganzer Körper spannte sich an, sein Herz hämmerte, und doch war das Gefühl kaum greifbar, seltsam losgelöst von seinem Empfinden. Er spürte Erregung, aber nichts von dem, was Valion tat
weil es natürlich ein Traum war, weil Valion unendlich weit weg war
aber in diesem Moment war das völlig egal, weil-
Er wurde abrupt aus seinem Traum gerissen. Jemand griff ihn an der Schulter, drehte ihn herum, und Jan erwachte mit solcher Gewalt, dass er hoch zuckte und sich noch im Aufwachen in den Sitz aufrichtete. Gleich darauf schrie er heiser auf, weil der Verband über seinem Bauch heftig einschnitt und quälende Schmerzen durch seinen Körper jagte.
Zumindest war er zwar völlig desorientiert, aber auch wach, als er wütend in das unbeeindruckte Gesicht eines großen stämmigen Fremden starrte, der ihn geweckt hatte. „Was?!“, brachte er aggressiv hervor, und er erwartete fast, dass sein Gegenüber zurück zucken würde, aber das war nicht der Fall. Er hockte mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck vor ihm, ein Knie auf dem Boden abgestützt. Seine braune Haut und die welligen, schwarzen Haare waren fast vollständig unter seiner Kapuze verborgen, sodass das Licht der brennenden Lampen es kaum zu erhellen vermochte. Irritiert bemerkte Jan, dass es dunkel um ihn war, dass kein Licht mehr durch die wenigen, unverschlossenen Fenster der Kirche fiel und die einzige Helligkeit von Lampen stammte. Er hatte bis zum Abend, vielleicht bis in die Nacht durch geschlafen.
Der Mann vor ihm lächelte nicht, als er leise, aber deutlich sagte: „Ah, du bist wach.“ „Ach, sag’ bloß“, knurrte Jan defensiv, aber seine Konzentration lag in diesem Moment an ganz anderer Stelle. Sein Blick ging an seinem Gegenüber vorbei, fiel auf das Dutzend wachsamer Menschen, die ihn stumm umringten. Sein Herz setzte aus, nur um im nächsten Moment doppelt so schnell zu schlagen. Vorher hatte er vielleicht noch die Möglichkeit zur Flucht gehabt, aber jetzt anscheinend nicht mehr. Er war umzingelt.
Alle waren Rebellen, dessen war er sich sofort sicher, als sein Blick hastig über die Fremden schweifte. Jeder und jede von ihnen, Männer, Frauen und einige, die er nicht einordnen konnte, waren in dunkle Kapuzenmäntel gehüllt, die Jan inzwischen kannte. An dem Abend, an dem Valion gefangen genommen worden war, hatte er mehrere von ihnen gesehen, auch wenn er damals noch nicht gewusst hatte, was es mit ihnen auf sich hatte.
Flo schien eine Ausnahme zu bilden. Er stand zwischen den anderen, wenn auch ein wenig abseits, und betrachtete Jan ruhig. Er war deutlich der Jüngste unter ihnen, und er wurde subtil, aber sichtbar abgeschirmt.
Jans Aufmerksamkeit wurde zurück auf den Mann vor ihm gelenkt, als dieser sich erhob und von ihm abwandte. Einmal sicher, dass Jan tatsächlich wach und aufnahmefähig war, schien er seine Gegenwart völlig zu ignorieren. Seine ruhigen, knappen Anweisungen schienen seine Kameraden schon gewohnt zu sein, weil niemand etwas sagte, um ihm zu widersprechen. Wer mit seinem Namen, oder wohl eher Decknamen, angesprochen wurde, nickte nur stumm. Anscheinend war er eine Art Anführer.
„Gut. Lezard, du siehst dir seine Verletzung an. Poulet, Carlin, wir brauchen etwas zu essen, und er vermutlich auch. Wenn er versorgt ist, gebt ihm so viel er will, er muss auf die Beine kommen. Ich übernehme mit Flo die erste Wache auf dem Turm. Bringt ihn zu mir, wenn ihr fertig seid. Wer ins Dorf zurück will, seid vorsichtig.“ Bei diesen Worten nickte er drei Gestalten zu, die nah beieinander standen, die ihm mit einer Handgeste zustimmten.
Der Anführer wartete kaum die Zustimmung aller ab, und wandte sich schon zum Gehen, als Jan aufsprang und ihm nach setzte.
Der folgende Aufruhr war interessant. Jan erinnerte sich nicht, jemals so schnell und gründlich von allen Seiten eingekesselt und festgehalten worden zu sein. Jeder einzelne der Rebellen hatte in Sekundenbruchteilen eine Waffe in der Hand, hauptsächlich ein uneinheitliches Sammelsurium an Messern, aber ein Mann hatte auch eine Steinschlosspistole gezogen. In der Hektik war einigen die Kapuze vom Kopf gerutscht, beim Ziehen ihrer Waffen kam die Kleidung zum Vorschein, die sie unter ihren Mänteln trugen.
Es war fast komisch, wie schnell Jan anhand dessen analysieren konnte, von welcher Herkunft die einzelnen Rebellionsmitglieder waren. Als Dieb hatte er schließlich wissen müssen, wer möglicherweise Geld bei sich trug und wer nicht. Mit ihren Kapuzen waren sie vielleicht die Rebellion, aber unter denen waren sie auch nur einfache Leute. Bauern, eine Hand voll Städter, deren ehemalige Berufe er nicht erraten konnte, ein wohlhabender Händler, kein Menschenhändler, aber reich genug, dass er sich eine Handfeuerwaffe leisten konnte. Und entflohene Sklaven; er sah die eingebrannten Zeichen auf mehreren Handgelenken. Auf anderen sah er sie vielleicht nur nicht, weil die Rebellen ihre Messer niedrig hielten und ihre Ärmel nicht nach oben gerutscht waren.
Und obwohl Jan sich inmitten einer Horde von Attentätern befand, vermutlich jeder einzelne in der Lage, ihn schnell und sauber zu erledigen, fühlte er sich plötzlich zum ersten Mal wieder wohl, und ein Grinsen zog über sein Gesicht. Er erkannte die Gefahr, aber die Möglichkeit innerhalb eines Sekundenbruchteils zu sterben weckte in ihm nur ungläubiges Lachen, wenn er vor Angst starr hätte sein müssen. Wie sonst hätte er Eravier gegenüber stehen und ihn beleidigen können? Er war schließlich nicht dumm; er wollte eigentlich auch nicht sterben. Aber irgendein irrationaler Teil seiner selbst konnte die Gefahr nicht verstehen, sah sie nur als großen, grotesken Witz. Der Teil, der direkt mit seiner großen Klappe verbunden war, die einfach nicht geschlossen bleiben wollte.
Auch der Anführer hatte sich ruckartig zu ihm umgedreht, und obwohl er unter seinem Mantel ebenfalls eine Waffe hielt, hatte er sie nicht gezogen. Schlau. Nicht so leicht zu durchschauen. Hätte Jan sich auf ihn gestürzt, hätte er bis zum letzten Moment nicht gewusst, wie er sich verteidigen würde.
Er musterte Jan mit dem selben, kühlen Blick wie zuvor, ohne ein Wort zu sagen, und wenn das keine Einladung war, selbst etwas zum Besten zu geben, wusste Jan auch nicht, was sonst. „Oh, tut mir Leid, es kribbelt mir immer so in den Füßen, wenn Leute über mich sprechen als wäre ich nicht da“, sagte er spöttisch und grinste. „Und du sagtest doch, ich soll auf die Beine kommen. Macht mir, wie du siehst, jetzt schon keine Probleme.“
Irgendjemand in der Schar der Rebellen schnaubte amüsiert, und einige Messer wurden weniger fest umklammert, die Pistole sank ein wenig herab. Der Anführer jedoch schien kein bisschen erheitert von Jans Darbietung, im Gegenteil. „Ich glaube, du hast noch nicht begriffen, wo du hier bist und mit wem du es zu tun hast“, sagte er. Der Ton seiner Stimme war nicht drohend, aber auf dem besten Weg dahin. „Wie auch?“, schoss Jan zurück, und schaffte es nicht ganz, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken. „Ich wurde gegen meinen Willen hierher geschleppt, und bisher hat niemand gesagt, was ich hier soll und wer zum Teufel ihr überhaupt seid. Ja, ich weiß, ihr seid eine Art Rebellion“, unterbrach er den Anführer dreist, als er erneut den Mund öffnen wollte, schnitt ihm das Wort ab. „Das ist aber nicht gerade selbst erklärend. Und vor allem frage ich mich, ob ich euer Gefangener bin. Und wenn wir schon dabei sind, ein Name wär nicht schlecht.“
Seine Antwort war langes Schweigen, bis der Mann die Hand hob und seinen Kameraden so zu bedeuten schien, dass sie ihn loslassen konnten. Sie kamen seinem wortlosen Befehl vorsichtig nach, immer bereit, sofort wieder zu zu greifen, bis sich jeder von ihnen mindestens einen Schritt von Jan entfernt hatte. Einige von ihnen schienen wütend auf Jan, andere schmunzelten leise. Eine ältere Frau, deren Gesicht nicht mehr von ihrer losen Kapuze verborgen wurde, zwinkerte ihm kurz zu, bevor sie ihm mit den Augen bedeutete, nach vorn zu blicken statt sich umzusehen.
„Du bist kein Gefangener“, sagte der Anführer schließlich, und diesmal unterbrach er Jans Frage, indem er hinzufügte: „Aber das heißt nicht, dass du dich frei bewegen kannst. Noch nicht. Nicht, bis wir uns unterhalten haben. Und mein Name ist Agneau.“ Jan musste grinsen, aber er verbiss sich einen Kommentar. Warum nicht gleich Poussin? Aber so grimmig, wie ihn Agneau musterte, war es vermutlich besser, jetzt nicht auf ihren Decknamen herum zu reiten.
„Und jetzt, lass dich untersuchen, und iss. Dann reden wir weiter. Ist das akzeptabel?“ Jan hätte am liebsten widersprochen, aber das war wohl nicht der geeignete Zeitpunkt, weiter zu widersprechen. Er nickte, und ohne weiteren Kommentar wandte Agneau sich um und ging davon.
Eine Weile harrte Jan auf seinem Lager aus und beobachtete die Rebellen, die die Kirche nicht verlassen hatten, nachdem Agneau gegangen war. Er überlegte, ob er in der Lage gewesen wäre zu fliehen, wenn er einfach los lief, und den Gedanke verworfen. Seine Bewacher waren immer noch in der Überzahl. Sie waren jetzt allerdings nur noch zu acht, Flo und Agneau eingeschlossen, obwohl Agneau sich nicht blicken ließ. Wenn Jan richtig verstanden hatte, hielt er auf dem Kirchturm Wache. Zwei der anderen, anscheinend Poulet und Carlin, waren mit Flo in der kleinen Sakristei, hatten dort ein Feuer im Kamin entzündet und kochten wohl. Sie schienen leise miteinander zu sprechen, und dann und wann hörte Jan verhaltenes Gelächter.
Drei weitere Rebellen, die zu keiner Zeit ihr Gesicht gezeigt hatten, nicht einmal, als sie ihre Waffen gezogen hatte, saßen etwas abseits zusammen und ließen ihn nicht aus den Augen. Er hatte den Verdacht, dass sie die erfahrensten unter den Rebellen waren, Agneau vielleicht nicht eingeschlossen. Einer spielte beständig mit seinem Messer und schien oberflächlich abgelenkt, aber Jan fühlte sich trotzdem von allen dreien beobachtet. Er sah nur ihre Hände, und sie waren alle dunkelhäutig, genauso wie alle ein Brandzeichen am Handgelenk trugen. Nur, dass diese Brandzeichen so verblasst waren, dass die Buchstaben kaum noch zu erkennen waren. Einer trug eine Tättowierung auf dem Arm, die sein Brandmal sogar überlagerte. Kein »E«. Hätte Jan raten müssen, hätte er darauf getippt, dass sie als Kinder zu Sklaven geworden waren, vielleicht sogar in die Sklaverei hinein geboren. Und dass sie schon lange frei waren, da niemand ihr Brandzeichen erneuert hatte und niemand sich scherte, wenn sie verdeckt wurden.
Die Person, die schließlich als erstes auf Jan zutrat, entpuppte sich als die ältere Frau, die ihm schon zuvor zugezwinkert hatte. Sie hatte eine vollgestopfte Tasche bei sich, die Jan stark an Tarn und seine Utensilien erinnerte, und noch bevor er irgendetwas sagen konnte, war sie ohne Scheu an ihn heran getreten, kniete sich vor ihn, griff nach ihm und schob seine Kleidung hoch. Er zuckte überrascht zurück und rief: „He!“, und ärgerte sich gleich darauf, als seine drei vermummten Beobachter leise lachten.
„Sei nicht so scheu, kleiner Träumer. Ich habe dich schon die ganze Zeit versorgt, während du geschlafen hast. Und einen Mann sehe ich auch nicht das erste Mal in meinem Leben“, sagte die alte Frau und lachte. Ihre Stimme war rauchig und dunkel, und die Falten in ihren Gesicht vertieften sich bei ihrem Gelächter. Ihr schwarzes, zurück geflochtenes Haar kontrastierte mit den ergrauten Strähnen darin und ihrer blassen Haut. Ihre braunen, vergnügt funkelnden Augen gaben ihr einen freundlichen Anstrich, aber Jan war trotzdem unangenehm, wie unbekümmert sie ihn anfasste.
„Normalerweise stellen sich meine Mädchen erst vor, bevor sie mir an die Wäsche wollen“, entgegnete er ohne Nachzudenken, und sie lachte laut und amüsiert darüber. „Soso, deine Mädchen! Von denen hast du aber nicht im Schlaf gesprochen!“, lästerte sie frohgemut. „Lezard nennt man mich, und wehe, ich erwische dich dabei, wie du jetzt lachst. Dann erzähle ich Agneau, was du von seinem Namen hältst!“ „Fiele mir im Traum nicht ein, gute Frau“, entgegnete Jan, und obwohl sie ihn mit ihrer Offenheit überrumpelte, mochte er sie und ihre unverschämte Art doch auf Anhieb.
Bereitwillig zog er sich jetzt doch seine vielen Schichten Kleidung über den Kopf, während Lezard aus den Tiefen ihrer Tasche neue Verbände, eine Schere und eine zerkratzte Flasche aus dickem, milchigen Glas fischte. Dann wandte sie sich seiner Bauchwunde zu und schnalzte mit der Zunge. „Da hat sich wohl wieder jemand im Schlaf hin und her geworfen“, sagte sie mit einem tadelnden Blick auf den Verband. Er sah nicht anders aus als zuvor, aber Jan vermutete fast, dass er überhaupt nicht durchgeblutet sein sollte. „Man müsste meinen, so langsam sollte sich die Wunde schließen“, sagte sie, und begann die Binden langsam zu lösen. Sie war so vorsichtig, dass Jan kaum Schmerzen spürte, aber ihr besorgter Blick sprach Bände.
„Wie lange blute ich schon?“, fragte er leise, und sie seufzte. „So lange wie du geschlafen hast. Heute Abend sind es drei Tage.“ Sie bemerkte seinen überraschten Blick, und nickte bestätigend. „Ja, glaub es ruhig, du hast drei Tage geschlafen. Du bist zwischendurch aufgewacht, hast Wasser getrunken, aber vermutlich erinnerst du dich nicht daran, du hast danach sofort weiter geschlafen. Dein Körper war am Ende seiner Kräfte. Ist er noch, du fühlst dich kalt an. Wir haben dich so dick eingepackt, um deine Temperatur wenigstens ein bisschen zu erhöhen. Aber ich denke fast, wenn du wieder etwas isst, wird sich das geben. Du hast Blut verloren, das hat deinen Körper zusätzlich geschwächt. Immerhin, du hast die ersten beiden Nächte noch gehustet, aber das habe ich mit Wickeln und Medizin wieder in den Griff bekommen. So, lass uns das ansehen.“
Vorsichtig zog sie die letzte Lage Verband von seiner Wunde, immer darauf bedacht, ihm nicht weh zu tun. Aber Jans Bauch schmerzte, und obwohl ihm nicht so leicht schlecht wurde, war der tiefe, blutrote Kratzer auf seinem Bauch ein übler Anblick, der ihn innerlich ins Schwanken brachte. Er wandte den Blick ab und ließ Lezard ihre Arbeit tun, und sie tupfte seine Wunde sorgfältig ab und verband sie neu.
„So“, sagte sie schließlich. „Hoffen wir, dass du jetzt, wenn du wach bist, ein bisschen vorsichtiger bist.“ „Noch vorsichtiger, als nur herum zu liegen und zu schlafen?“, fragte er scherzhaft, und sie lachte. „Oh, daran erinnerst du dich vielleicht nicht, aber du warst alles andere als ruhig“, sagte sie, und jetzt war ihr Grinsen regelrecht süffisant. „Du hast im Schlaf gesprochen, dich herum gewälzt, vor allem wenn du gefiebert hast. Und hätte ich nicht schon einiges gehört, hätte mich das als arme, alte Frau sicher sehr schockiert. Unser kleiner Flo durfte jedenfalls nicht hier sein, wenn du fantasiert hast.“
Eigentlich hätte Jan vor Scham im Boden versinken müssen, so offenherzig und mitleidlos, wie sie diese Tatsache vor ihm ausbreitete. Aber stattdessen stand ihm Valions Gesicht plötzlich wieder deutlich und eindrücklich vor Augen. Valion, der jetzt nicht hier war. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war, und selbst wenn…
Im Traum hatte Valion die Schuld auf sich genommen, aber das war nur seine Wunschvorstellung gewesen. Was war mit dem echten Valion? Der, den er im Stich gelassen hatte? Würde er ihm jemals verzeihen können, dass er im entscheidenden Moment an ihm gezweifelt hatte?
Er wünschte, er wäre jetzt hier gewesen. Er wünschte, die Rebellion hätte sie beide aufgesammelt, egal, wie sehr er sich gerade in die Ecke gedrängt fühlte.
Sein plötzlich trauriger Gesichtsausdruck blieb nicht unbemerkt, denn aller Spott wich plötzlich aus Lezards Gesicht. „Was ist? Hast du Schmerzen?“, fragte sie sofort, griff nach seiner Schulter und war drauf und dran, ihn zum Liegen zu zwingen. Er schob ihre Hand weg. „Nein. Keine, bei denen du helfen kannst“, murmelte er, aber Lezard schien gleich darauf ein Licht aufzugehen, weil sie jetzt mitleidig drein sah.
„Wegen dem Jungen? Ach, mein kleiner Träumer, sei doch deswegen nicht so traurig. Er ist in Sicherheit, ihm ist nichts geschehen. Wir hatten ein Auge auf ihn. Und nichts geschieht grundlos, alles hat einen Zweck“, sagte sie sanft und griff nach seiner Hand, drückte sie. Sie schien halb zu sich selbst zu sprechen, als sie sagte: „Du warst sehr mutig, und das wird belohnt werden, zur rechten Zeit, und dann kannst du das alles vergessen. Dann werden dich nur noch deine Narben daran erinnern.“
Ihre faltigen Finger strichen beruhigend über seine Hand, über die schmerzenden Schnitte in seinen Fingern, da, wo er die Scherbe umklammert hatte, mit der er Eravier bedroht hatte. Wenigstens die schienen sich normal zu schließen, waren verschorft und nur leicht gerötet. Ihre Augen ruhten darauf, und ihr Blick war für einen Moment reine Bewunderung.
„Ja, mutig warst du, sehr mutig. Du hast dich ihm entgegen gestellt. Wie war es, ihn so in deiner Gewalt zu haben?“, fragte sie völlig unvermittelt. „Wen?“, fragte Jan, aber er hatte bereits eine Ahnung, was sie meinte. Ihr Blick hatte plötzlich eine brennende, grimmige Intensität gewonnen, vor der er am liebsten zurück gezuckt hätte. Ihre Stimme klang ruhig, zu ruhig, als sie antwortete: „Eravier. Wie war es, ihm diese Scherbe an die Kehle zu halten? Ihn zittern und flehen zu sehen?“ Sie hob ihre Hand, hielt ihre Finger gegen ihren Hals, als würde sie selbst eine unsichtbare Waffe halten. Ihre Stimme war immer noch sanft, aber der Hass darin ließ ihn schaudern. „Wie konntest du dich nur beherrschen? Wie schwer mir das gefallen wäre, wenn ich ihn in dieser Position gehabt hätte!“, sagte sie, und Jan zuckte tatsächlich zurück, als sie mit ihrer Hand zur Seite ruckte, einen imaginären Schnitt an ihrer eigenen Kehle zeigte.
Und als wäre der Moment nicht bizarr genug gewesen, wurde ihm plötzlich bewusst, dass ihre Handhaltung falsch war, aber die Position ihrer Hand nicht. Sie wusste genau, an welcher Stelle er Eraviers Kehle den Schnitt beigebracht hatte, so tief, dass er blutete, aber nicht tief genug, um ihn schwerer zu verletzen. Sie wusste sogar, wie lang er gewesen war, denn ihre Handbewegung hatte die selbe Länge beschrieben.
Woher wusste sie das? Sah er schon Gespenster?
„Lezard? Hast du Hunger?“, tönte plötzlich Flos Stimme zu ihnen herüber, und im Bruchteil einer Sekunde zog das alte, freundliche Lächeln über Lezards Gesicht, als sie sich ihm zu wandte. „Aber natürlich, Hunger wie ein Bär! Wir sind gleich da!“, rief sie fröhlich, bevor sie energisch ihre Habseligkeiten aufsammelte und in ihrer Tasche verstaute. Sie war wie ausgewechselt, und nachdem sie aufgeräumt hatte, erhob sie sich und sah Jan lächelnd an. „Los, zieh dich an, du Hungerhaken!“, befahl sie. „Du kannst es dir wirklich nicht leisten, noch irgendeine Mahlzeit zu verpassen!“ Und weil Jan überhaupt nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, nickte er verwirrt und folgte ihr.
Agneau blieb dem Essen fern, dafür erhob sich Flo eher als die anderen und brachte ihm vermutlich etwas zu seinem Wachtposten. Jan ignorierte es, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, Brot, Suppe und geschmortes Fleisch in sich hinein zu schaufeln. Erst als das Essen vor ihm gestanden hatte war ihm bewusst geworden, wie hungrig er wirklich gewesen war.
So kam er auch nicht wirklich zum Sprechen, und er war froh darüber. Die drei, die ihn zuvor beobachtetet hatten, aßen allein, und so saß er nur mit Carlin, Poulet und Lezard am Tisch, die sich rege unterhielten. Aber selbst wenn es nur um belanglose Themen ging, er wusste nicht, ob seine innere Unruhe merklich gewesen wäre. Und wenn Lezard sich von ihm abwandte, betrachtete er sie heimlich. Unbehaglich lauerte er darauf, dass sie ihre fröhliche Maske erneut fallen ließ. Aber einen Beweis dafür, dass irgendetwas an ihr nicht stimmte, bekam er an diesem Abend nicht mehr.
Der Weg nach oben zog sich, und Jan verlor langsam, aber sicher die Geduld. „Geh rauf auf den Turm! Du bist ja nur halb tot und sollst dich ausruhen! Die Kälte und die Spinnenweben werden dir gut tun!“, murrte er vor sich hin, während er sich die enge Wendeltreppe zur Spitze des Kirchturms hinauf kämpfte. Warum musste er sich nach allem, was er durchgemacht hatte, jetzt auch noch das antun?
Anscheinend war er so geschwächt, dass er nicht einmal ein paar Stufen bewältigen konnte, denn nach etwa der Hälfte des Aufstiegs war er außer Atem und musste pausieren. Und außerdem hatte er den Verdacht, dass der dritte Teller Suppe noch sein Verhängnis sein würde. Er hatte eher das Gefühl zu rollen als zu gehen. Aber Agneau hatte sich nun einmal deutlich ausgedrückt: Jan sollte zu seinem Wachtposten kommen und dort mit ihm sprechen, also musste er sich dorthin bequemen. Vorher würde ihn niemand gehen lassen, erst Recht nicht, nachdem er ihnen ihr ganzes Brot weg gegessen hatte, wie Lezard augenzwinkernd gesagt hatte.
Leider war eine uralte, schiefe Treppe der einzige Weg auf den Turm, und der kalte Nachtwind pfiff inzwischen heulend durch die unverschlossenen Turmfenster. Jan durfte nicht einmal eine Fackel mitnehmen, die hätte man weithin leuchten sehen, und außerdem hätte der Wind sie vermutlich sowieso gelöscht. Also stieg er die unebenen Stufen auch noch im Dunkeln hinauf.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, hatte er die Spitze erreicht, und durch einen winzigen Durchgang trat er hinaus auf den kleinen, gemauerten Rundgang und sah hinunter in die Nacht. Keine Laterne brannte hier oben, der Wind heulte um die Ecken des Turms, und die einzigen Lichtquellen waren der Mond und ein paar winzige Lichter in der Ferne, die zu einem kleinen Dorf gehörten. Die verfallene Kirche war auf einem Hügel gebaut, der mit langem, üppigen Gras bewachsen war, das im Nachtwind wild wogte. Rings um die Kirche machte Jan in der Dunkelheit drei kleine Gebäude und einen Friedhof aus.
„Das hier war früher ein Kloster. Aber die Fürstenfamilie, die es gestiftet hat, wandte sich vom Glauben ab, und die Mönche sind weiter gezogen. Es ist einsam hier. Für uns ist es perfekt.“ Jan wäre vor Schreck beinahe vom Turm gesprungen, als Agneaus ruhige Stimme direkt neben ihm erklang. Er war vielleicht groß und stämmig, aber er war auch leise wie eine Katze, und um nicht gesehen zu werden hatte er sich im Schatten der Turmmauer verborgen. Behutsam zog er Jan jetzt an einer Schulter mit sich, nahe an die Mauer heran und weg von dem bröckeligen Geländer des Rundgangs, und reichte ihm eine Decke, die Jan sich ohne Protest über warf. Es war eisig hier oben, und sowohl Agneau als auch Flo, den er jetzt ebenfalls im Schatten erspähte, waren gegen die Kälte dick eingepackt.
„Warum wolltest du ausgerechnet hier mit mir reden?“, fragte Jan, während er es Agneau gleich tat und sich an die Mauer lehnte, und der zuckte mit den Achseln. „Es ist ruhig hier. Und der Wind verhindert, dass wir gehört werden. Die Treppen verhindern, dass sich jemand von außerhalb anschleicht“, erklärte er leise und ruhig. Und für einen Moment war Jan versucht zu fragen, ob er sich damit auch vor den anderen Rebellen schützte. Aber das verbiss er sich.
„Und warum sind wir hier? Ich meine, warum eine Kirche? Wie habt ihr den Ort hier überhaupt gefunden?“, fragte Jan nach. „Ich habe ihn gefunden. Ich bin Kerzenmacher-“, erklärte Agneau geduldig. „Und ich bin Erzbischof“, unterbrach Jan ihn prompt und ziemlich ungläubig, und brachte Agneau damit vielleicht das erste Mal zum Schmunzeln, auch wenn das im Dunkeln kaum zu erkennen war.
„Ich spreche von echten Wachskerzen. Die Sorte, die niemand von uns sich leisten könnte, nicht die billigen aus Talg. Eine Tradition meiner Familie. Die Herstellung benötigt Sorgfalt, und ich lerne gern mehr darüber. Ich finde Restbestände in alten Kirchen und lerne etwas darüber, wie sie früher hergestellt wurden.
So fand ich diesen Ort. Wir sind nur zeitweise hier. Nur, solange Eraviers Weg an den Dörfern dort, dort und dort vorbeiführt.“ Er deutete in die Schwärze, aber wenn er auf Siedlungen in der Ferne zeigte, sah Jan nur die ihnen am nächsten gelegene.
„Ihr verfolgt ihn“, stellte Jan fest, und in der Dunkelheit nickte Agneau. „Ja, wir folgen ihm.“ „Warum?“ „Er hat etwas, das wir wieder haben müssen“, warf Flo ein, aber Agneau brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Vielleicht hatte er gerade schon zu viel gesagt, aber gerade deshalb ließ Jan das nicht auf sich beruhen. „Was hat er? Einen Gegenstand, irgendetwas wertvolles?“ „Etwas sehr wertvolles“, stimmte Agneau zu, aber er ließ Jan dennoch nicht weiter in sich dringen. „Aber du wirst nicht erfahren, was es ist, also erspare uns das. Es geht dich nichts an. Es gibt andere Probleme. Eines dieser Probleme bist du, und was du verursacht hast.“ „Und wieso das?“, fragte Jan, und fühlte sich gleichzeitig etwas unbehaglich. Ihm ging gerade erst auf, dass Agneau lästige Probleme möglicherweise löste, indem er sie einfach vom Turm warf. Selbst, wenn er gerade die Arme verschränkte und nicht so aussah, als könnte er irgendjemand gefährlich werden.
„Wir hatten gerade beschlossen, Eravier in Sicherheit zu wiegen. Er sollte davon ausgehen, dass wir aufgeben haben ihm zu folgen. Dann hast du ihm fast die Kehle durchgeschnitten, eine Hetzjagd veranstaltet und am Ende heraus posaunt, dass du im Auftrag der Rebellion gehandelt hast. Kannst du dir vorstellen, was das für unsere Pläne bedeutet?“
Seine Stimme war trügerisch ruhig, aber Jan spürte, dass darunter Ärger brodelte. Trotzdem hatte er nicht vor, sich deshalb einschüchtern zu lassen. „Keine Ahnung. Ich bin nur abgehauen, als es brenzlig wurde, das ist alles“, wich er aus. „Aber nicht allein“, sagte Agneau scharf, und jetzt zeigte er seine Wut offen. „Du hast etwas mitgenommen, das uns gehörte. Du hast jemand mit hinein gezogen, den wir außen vor lassen wollten.“
Ah, da war sie wieder, die alte Leier. Der selbe Unterton, den Jan bei Tarn verabscheut hatte, die absolute Überzeugung, dass sie über Valions und sein Schicksal bestimmten konnten. „Valion gehört euch nicht“, fauchte er. „Und er ist freiwillig mitgekommen, ich habe ihn zu nichts gezwungen! Er hatte auch kein Halsband, auf dem sein Besitzer stand!“ Agneau ließ sich von seinen Worten nicht beunruhigen, aber gerade das fachte Jans Wut nur weiter an: „Und hast du vielleicht mal daran gedacht, dass Eravier längst weiß, was ihr mit ihm vorhabt? Eravier hat schon vorher geahnt, dass Valion mit der Rebellion zusammen arbeitet! Er war wohl doch nicht der perfekte Spion, für den ihr ihn-“
„Spion? Ts…“, unterbrach ihn Agneau, und jetzt lächelte er tatsächlich leise. „Das war er nie. Aber es ist vielleicht besser so, dass du nicht verstanden hast, was wir mit ihm vorhaben. Wenn du es nicht weißt, weiß Eravier es vermutlich auch nicht. Auf der anderen Seite hätte er Valion dann vielleicht laufen lassen und uns eine ganze Menge Ärger erspart.“ „Was wolltet ihr dann mit ihm? Was soll das alles?“, bohrte Jan, aber er bekam nur einen wissenden Blick aus den dunklen Augen zurück. Agneau war nicht dumm, er ließ sich nicht aushorchen. „Ich habe schon zu viel gesagt. Du weißt genug, um dir ein Bild davon zu machen, in welcher Lage wir uns befinden.“
„Gut, du willst nichts dazu sagen?“, fragte Jan aufgebracht. „Dann etwas Einfacheres: Was zum Teufel wollt ihr mit mir? Was soll ich hier?“ „Ach, das ist dir noch nicht aufgegangen?“, fragte Agneau, und jetzt wurde er auch noch spöttisch. Jans Wut, seine Verwirrung, all das war für ihn völlig unbedeutend, das verstand Jan in diesem Moment nur zu gut. Er hatte kein Mitleid mit ihm, keine Sympathie für ihn abgesehen von einem Rest Höflichkeit und Anstand. Für ihn war Jan nur ein nützliches Werkzeug, und er fröstelte plötzlich.
„Du bist zuallererst unser Druckmittel gegen Valion. Unsere Rückversicherung, dass er uns nicht noch einmal so bloß stellt. Dass er in Zukunft das tut, was wir wollen, zu unserer Sicherheit, und seiner“, bestätigte Agneau Jans Verdacht gleichmütig, und dessen Hände verkrampften sich augenblicklich zu Fäusten. „Ich dachte er wäre kein Spion“, flüsterte er, und Agneau schenkte ihm einen langen, nachdenklichen Blick, als wäge er alle Konsequenzen ab, bevor er preisgab: „Nur weil er kein Spion ist, heißt das nicht, dass er nicht wichtig ist. Dass er nicht jemand wichtig ist.“
Das ergab auf unheimliche Art Sinn. Jemand hielt die Hand über Valion, von Anfang an. „Dann hat Tarn-“ Ihn beschützt, wollte er sagen, doch Agneau warf ihm einen so finsteren Blick zu, dass er seinen Satz gar nicht beendete. „Er hat eigenmächtig gehandelt, selbst wenn er Valion beschützt hat. Er hat jemand von uns verletzt. Er hat seinen Rang und Namen verspielt, wir haben nichts mehr mit ihm zu schaffen. Das solltest du im Gedächtnis behalten, falls du ihm jemals wieder begegnest.“
Aber es war seine Aufgabe, Valion zu beschützen. Deshalb hat er ihm geholfen. Deshalb wollte er mich erschießen. Ich wäre nur ein Opfer gewesen, dachte Jan. Dieser Gedankengang war logisch, aber er war trotzdem bitter. Jan erkannte immer mehr, dass er nur in einen von langer Hand geplanten Schachzug hinein gestolpert war. Was auch immer die Absicht der Rebellion gewesen war, oder immer noch war, er und Valion hatten unabsichtlich das Blatt neu gemischt.
„Das ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin, oder?“, fragte Jan noch einmal, und Agneau schwieg wieder lange, bevor er antwortete: „Es gibt verschiedene Fakten zu betrachten. Erstens, dass wir dich auch noch als Druckmittel verwenden können, wenn du tot bist. Valion würde niemals erfahren, dass du nicht mehr lebst. Aber da ist noch etwas anderes…“ „Du hast Eravier fast die Kehle durchgeschnitten“, sagte Flo, der bisher ruhig geblieben war. „Du hattest keine Angst vor ihm!“ Bewunderung klang in seiner Stimme mit. Das, und kaum verhohlene Freude an Eraviers Unglück, und schaudernd dachte Jan an Lezards Blick. Die Rebellen verabscheuten Eravier nicht nur, sie hassten ihn mit einer Intensität, die ihm Angst machte.
„Was Flo sagen will ist, dass du mutig bist“, warf Agneau ein. „ Und ein Händchen für Waffen hast. Und du hasst Eravier, genau wie wir. Wir könnten dich loswerden, aber wir würden dich vielleicht lieber dazu gewinnen. Du weißt sowieso nicht, wo du hin willst, oder?“
Jans Kopf schwirrte, und verwirrt lachte er auf. „Ihr… ihr bietet mir an, bei euch mit zu machen? Für euch zu arbeiten, für euren…“, fragte er, und für einen Moment fand er nicht einmal das richtige Wort dafür. „Rebellionsscheiß? Mit Kapuze im Gesicht herum laufen und ein paar Leute abstechen?“
Einerseits schien ihm das wie Irrsinn, ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Er wollte seine Gefangenschaft, Eravier, all das hinter sich lassen. Und da war noch etwas, das er nicht wagte auszusprechen. Er hasste Eravier nicht so sehr wie sie. Er wusste nicht einmal, wie er das fertig gebracht hätte, was Eravier ihm hätte antun müssen, damit er ihn derartig hasste. Was natürlich die Frage aufwarf: Was hatte Eravier getan? Denn wenn es so schrecklich war, wie er dachte… dann wollte er vielleicht nicht die Wahrheit erfahren.
Aber andererseits hatte Agneau recht. Jan wusste beim besten Willen nicht, wohin er sich wenden würde, wenn die Rebellen ihn gehen ließen. In welche Richtung würde er gehen, ohne Valion? Nein, er musste zurück. Er musste ihm helfen, irgendwie.
Aber wollte er dafür wirklich einen Krieg führen, der ihn gar nicht betraf?
Vielleicht. Wenn der Preis stimmte.
Und als hätte Agneau seine Gedanken gelesen, sagte er: „Du könntest frei sein, wenn alles vorbei ist. Du, und Valion.“ „Das ist doch bestimmt eine nette Lüge“, murmelte Jan. „Er ist für euch nur ein Werkzeug. Euch ist doch egal, ob er lebt oder stirbt. Genauso, wie dir egal ist, auf welchem Weg ich diesen Turm wieder runter komme, wenn ich mich gegen euch entscheide. Deshalb stehen wir hier, oder?“
„Vielleicht“, antwortete Agneau gelassen. Sein Blick war kalt, seine Stimme war kalt, so eisig wie das fahle Mondlicht. Er lächelte nicht, zumindest das hatte er Eravier voraus. Aber das hieß nicht, dass er weniger skrupellos war. Was Eravier getan hatte? Wer wusste das schon. Was Jan wusste war, dass er den Nebenschauplatz eines Krieges zu sich geholt hatte. Und das Schlimmste daran? Dass ihn das vermutlich sogar amüsiert hätte, wenn er es gewusst hätte.
„Wir wollen euch nicht unbedingt sterben sehen“, sagte Agneau, und zumindest das kaufte Jan ihm ab. „Und wenn Valion erst seinen Auftrag erledigt hat… wir wären dankbar. Wir arbeiten daran, ihn auf diesen Auftrag vorzubereiten, aber vermutlich ließe er sich eher von dir als jemand anders überzeugen.“ „Und wenn ich etwas ganz Verrücktes tue? Wenn ich zu Eravier gehe und ihm erzähle, was ich weiß?“, fragte Jan, und kannte die Antwort. „Dann wirst du sterben, in dem Moment, in dem du das erste verräterische Wort ausgesprochen hast. Aber das war dir längst klar, oder? Also, was ist deine Entscheidung?“
Der Wind frischte auf, heulte um den verlassenen, bröckelnden Kirchturm. Er war kalt, so kalt wie Jan sich fühlte. Hatte er denn eine Wahl?
Natürlich. Aber wenn Tarns eins über ihn gewusst hatte, dann, dass er und Valion sich immer einander zuwenden würden. So hatte er sie auseinander gebracht. So würde die Rebellion sie wieder zusammen bringen.
Der Nachtwind wehte seine Antwort fort.