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Am nächsten Morgen, später als gewöhnlich, brach der Wagenzug in Richtung Hauptstadt auf. In der Nacht hatte es keine weiteren Zwischenfälle gegeben, und die Pferde waren ausgeruht, sodass sie gut Fahrt machten. Das mochte auch daran liegen, dass der Zug einen Gutteil der Last eingebüßt hatte. Vor allem Karvash reiste jetzt notgedrungen mit leichterem Gepäck - das meiste seiner Habe war auf einem verkohlten Haufen am Wegesrand zurückgeblieben.
Die folgenden Tage kamen sie gut voran. Das Wetter war angenehm, der Himmel immer leicht bedeckt, und die Temperaturen blieben mild, wie ein Vorgeschmack auf den nahenden Herbst. Die Nächte unter dem klaren Sternenhimmel wurden umso kälter.
Doch der schöne Spätsommer vermochte niemand aufzuheitern. Die Stimmung im Wagenzug blieb gedrückt und die Diener blieben unter sich. Die meisten legten den Weg schweigend zurück, verrichteten ihre Arbeit mit gesenktem Kopf. Wenn sie sich unbeobachtet fühlten, führten sie geflüsterte Gespräche, die abrupt verstummten, wenn die Wachen oder die Händler in ihre Nähe kamen. Eine tief greifende Veränderung war eingetreten, und selbst, wenn niemand sie benannte, so war sie doch überall bemerkbar.
Auch Valion und Anya bekamen sie zu spüren; sie blieben, trotz ihrer Privilegien, den ganzen Tag angekettet, egal, wie sehr sich Anya dagegen auflehnte. Und obwohl sie mehrmals forderte, zu erfahren, wo Jadzia sich aufhielt und wann sie zurückkommen würde, blieb sie spurlos verschwunden.
Es war schwer zu sagen, was Anya mehr zusetzte. Valion sah sie oft gedankenverloren da sitzen, mit einem besorgten Gesichtsausdruck, oder rastlos von einem Ende des Wagens zum anderen wandernd, im Kreis gehend wie ein angeleinter Hund. Dann wieder saß sie grübelnd da, starrte auf Jadzias Lager, auf dem seit Tagen niemand geschlafen hatte, oder auf die wenigen Dinge, die sie zurückgelassen hatte.
Irgendwann, mit einer grimmigen Miene und zusammen gezogenen Augenbrauen, hatte sie Jadzias wenige Habseligkeiten schließlich in der Kleidertruhe verstaut, und dort blieben sie. Jadzia kam nicht zurück, um sie zu holen, und sie wurden auch nicht von einem Diener oder einer Wache eingefordert.
Nicht, dass es überhaupt einen Grund dafür gegeben hätte. Aus Neugier hatte sich Valion Jadzias Besitztümer einmal angesehen, und anscheinend hatte sie praktisch nichts besessen, als sie zur Sklavin geworden war. Ein paar zusammen gesammelte Gebrauchsgegenstände, ein sauberer Stapel Wäsche, ein Kleid, das aussah, als hätte es vorher einer Dienerin gehört, das war alles, was von ihr zurückgeblieben war. Nichts davon wirkte, als hätte es ihr viel bedeutet oder gar von ihr selbst gestammt, und Anya schien sie auch nicht zu vermissen.
Und doch fehlte Jadzias Präsenz. Sie hatte eine Lücke hinterlassen, und ohne darüber nachzudenken versuchte Valion, diese Leere zu füllen. Aber natürlich konnte er das nicht.
Vielleicht versuchte Anya gerade deshalb, ihre gemeinsame Zeit so gut es ging zu nutzen. Sie lenkte sich und Valion ab.
Begonnen hatte sie damit schon am ersten Morgen ihrer Weiterreise. Valion hatte verschlafen vor der Waschschüssel gestanden und nach draußen gelauscht. Anya, etwas wacher, aber auch wesentlich mürrischer, hatte gerade ihre Kleidung gerichtet, dann missbilligend auf ihn geblickt.
„Du musst dir angewöhnen, gerade zu stehen.“
„Ich stehe gerade“, hatte Valion protestierend gemurmelt, aber das hätte er sich auch sparen können.
„Du stehst da wie ein Bauer auf dem Rübenfeld. Gut, da kommst du ja auch her“, hatte sie schnippisch erwidert. „Aber wenn du jemals irgendjemand davon überzeugen willst, dich zu kaufen, musst du ein wenig mehr können, als nur dein hübsches Gesicht zu zeigen.“
Er hatte sie grimmig angesehen, und sie hatte ernst zurück gestarrt. Aber an dem Funkeln in ihren Augen hatte er sehr wohl gesehen, dass sie es nicht ganz so ernst meinte, wie sie vorgab.
„Wir hatten doch eine Abmachung, oder?“
„Aber-“
„Kein aber. Hör zu und lerne!“
Und so hatte sie ihm einen Vormittag lang beigebracht, wie er elegant stehen und gehen sollte, und das Ganze die nächsten Tage mehrmals wiederholt. Er gewöhnte sich daran, dass sie ihn, egal was er gerade tat, zur Ordnung rief. Irgendwann verfolgte ihn ihr tadelndes „Gerade stehen!“ bis in seine Träume.
Das blieb nicht die einzige Ermahnung, die er zu hören bekam. Als Nächstes widmete sich Anya seiner Kleidung und wie er sie trug: natürlich falsch. Auf dem Fuße dieser Lektionen lernte er, wie er pfleglich mit seinen Sachen umzugehen hatte und vor allem, was er tunlichst vermeiden sollte. Dazu gehörte anscheinend auch, sich nach dem Essen den Mund mit dem Ärmel abzuwischen. Überhaupt hatte Anya so viele Benimmregeln über das Essen, dass Valion irgendwann vor jeder Mahlzeit in grübelnde Stille verfiel. Nicht, dass es ihm genützt hätte: Anya hatte immer etwas auszusetzen.
Weil Valions Haar laut Anya zurzeit ein „unrettbares Durcheinander“ war, zeigte sie ihm lediglich, wie er es glätten konnte, und ging zügig zu allgemeinen Regeln der Etikette über. Allein die Erläuterungen, welche Regeln beim Begrüßen eines beliebigen Gastes anzuwenden waren, dauerten einen ganzen Nachmittag. Ihre Lektionen nahmen einfach kein Ende.
Dennoch stritten sie weniger, mit jedem Tag. Als die Tage begannen ineinanderzufließen, zu Wochen wurden, erst zwei, schließlich drei, ertappte Valion sich dabei, dass er Anyas Nähe suchte. Er brachte ihr Wasser, half ihr beim Ankleiden, flocht ihre Haare. Sie brachte ihm dafür andere Frisuren bei. Zunächst nur die einfachsten, die er bei seinen Schwestern gebrauchen konnte, danach die komplizierteren, die manchmal Stunden dauerten. Aber etwas anderes hatten sie ohnehin nicht zu tun; weder Wächter noch Diener blieben lange genug, um ihnen die Einsamkeit zu vertreiben. Weder Marceus noch Tarn, nicht einmal die stumme Dienerin oder Guy besuchten sie.
Manchmal kam sich Valion regelrecht vereinsamt vor, wie ganz am Anfang seiner Reise. Dann musste er an Jan denken, ihre Gespräche, die ihm damals die Zeit vertrieben hatte, und er musste sich ablenken, um nicht all seinen Mut zu verlieren.
Anya schien es zu bemerken; sie begann dann oft wie von selbst mit einer Geschichte. Über die Landstriche, die sie bereits besucht hatte, und ihre wenigen Reisen zur Hauptstadt. Aber dann und wann auch Märchen und Geschichten, die sie kannte, oder nur Anekdoten aus ihrer Kindheit. Nur über ihre Familie selbst, oder wie sie an Eravier geraten war, darüber sprach sie nie, und Valion wagte nicht, ihr dazu Fragen zu stellen. Er machte es mit der Neugier über den Rest des Landes wett, und beantwortete ihr im Gegenzug ihre Fragen zu seiner Heimat. Dass er sich dabei angewöhnte, wie sie zu sprechen, gewählter und wortreicher, bemerkte er erst, als Anya ihn dafür lobte.
„Wenn du dir weiter Mühe gibst, wirst du Eravier damit schon bald beeindrucken können.“ Sie hatte gelächelt, aber er hatte ihr angesehen, dass sie nicht wirklich froh darüber war. Noch etwas, das er in ihrer gemeinsamen Zeit lernte: sie besser einzuschätzen.
Oft betrachtete er Anya heimlich, wenn sie ihn, in Gedanken versunken, nicht beachtete. Er studierte ihre Mimik, die feinen Anzeichen in ihrem Gesicht, die verrieten, wenn sie nervös war, oder wütend, oder heimlich amüsiert. Er sah es ihr an, wenn sie wie so oft an Jadzia dachte. Und er sah, dass sie begann, ihn zu mögen. Dann dachte er daran, worum er sie gebeten hatte, und die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht, und er musste eine Weile Abstand gewinnen.
Nicht, dass das einfach war. Selbst wenn Anya schlief und er sich zumindest zeitweise allein wähnte, er konnte nie sicher sein, dass nicht plötzlich jemand hereinplatzte. Die Diener blieben nicht lange, aber sie gingen auch ein und aus, wie es ihnen gefiel. Erst recht jetzt, da sie ständig unterwegs waren und in Schichten schliefen und arbeiteten.
Das hatte allerdings auch den Vorteil, dass Valion zum ersten Mal dazu kam, Gespräche mit ihnen zu führen. Weniger mit den Dienern mittleren Alters, die wortkarg und immer in Eile waren, sondern mit den jüngsten und den wenigen älteren. Vor allem die Mägde, manche sogar noch einige Jahre jünger als Valion, wurden nach einer Weile sehr gesprächig.
„Die werden den ganzen Tag herum gescheucht und davon abgesehen ignoriert. Natürlich freuen sie sich, wenn ihnen plötzlich ein junger Mann ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt“, hatte Anya süffisant lächelnd gesagt, als Valion eines Morgens einen winzigen Strauß Wildblumen neben seiner Waschschüssel vorfand. „Vor allem, wenn er hübsch ist und ihnen schöne Augen macht.“
„Ich rede doch nur mit ihnen“, hatte er protestiert.
Anya hatte ihn lange angesehen und spöttisch lächelnd den Kopf geschüttelt.
„Darüber unterhalten wir uns noch. Bis dahin, denk daran, was Jefrem gesagt hat.“
Valion hatte Jefrems Ermahnung nicht vergessen. Aber hatte er eine Wahl? Selbst Anya musste zugeben, dass er irgendwann durchgedreht wäre, wenn sie der einzige Mensch gewesen wäre, mit dem er überhaupt sprechen durfte. Sie ließ ihn gewähren, gab ihm nur hin und wieder einen Rippenstoß oder einen spitzen Einwurf zum Besten, wenn er zu vertraulich wurde. Widerwillig musste er ihr zugestehen, dass sie meistens recht hatte. Sein Eingeständnis an sie war, dass er versuchte, freundlich zu sein, aber Distanz zu wahren. Keine einfache Aufgabe, denn einmal eingeschlichen ließ sich die Vertraulichkeit schwer rückgängig machen.
So kam es, dass eine der jungen Dienerinnen ihm eines Tages mehr als eine Schüssel Haferbrei und einen Krug frischen Wassers anvertraute.
„Es verschwinden Leute“, hatte sie hastig geflüstert, und ihre Augen waren nervös zwischen ihm und dem Eingang des Wagens hin und her gehuscht. Sie hatten in diesem Moment keine Zuhörer. Selbst Anya hatte sich in ihren Schlafbereich zurückgezogen, um sich auszuruhen.
„Verschwinden?“, fragte er leise nach, und sie nickte.
„Nicht viele ... nicht so, dass es den Herrschaften auffallen würde. Sie kümmern sich ja die meiste Zeit kaum um uns. Aber bestimmt ... fünf oder sechs Menschen.“
„Irgendjemand Bestimmtes?“, fragte Valion, und seine Kehle fühlte sich trocken an. Er dachte an Marceus, an Jefrem und die anderen Pferdeknechte. Die stumme Dienerin, die er schon so lange nicht gesehen hatte. An Jadzia, über deren Aufenthaltsort niemand Bescheid wusste. Und, so sehr ihm das missfiel, auch an Tarn.
„Naja... es sind nicht Herr Eraviers Diener aus der Hauptstadt. Von ihnen kenne ich die meisten“, sagte sie und beugte sich verschwörerisch näher. Ihre Augen ruhten sehr konzentriert auf Valion. „Ich glaube fast, dass-“
„Aber es gab doch keinen Aufruhr mehr?“, unterbrach Anya sie. Müde, das Haar ein wenig zerzaust, war sie hinter der Trennwand hervor getreten. „Wir haben jedenfalls nichts davon gehört. Das letzte Mal, als jemand verschwand, stand doch alles Kopf!“
Die junge Dienerin zuckte zurück und musterte sie pikiert, als wollte sie fragen, warum sie einfach so auftauchte und sich in ihr Gespräch einmischte.
„Nein!“, flüsterte sie erbost, „das ist es ja gerade! Keiner hat etwas bemerkt! Nicht die Wachen, und auch Herr Eravier nicht! Aber niemand traut sich, etwas zu sagen!“ Sie warf Anya einen abschätzigen Blick zu und zischte: „Und ihr tut auch gut daran, nichts zu sagen, zu keiner Menschenseele!“
„Bette! Wie lange brauchst du denn?“, ertönte ein Ruf von außerhalb des Wagens, und das Mädchen fuhr erneut zusammen und wollte davon huschen. Valion schaffte es gerade noch, sie am Arm zu packen, bevor sie auf und davon war.
„Warte! Wessen Leute? Du wolltest etwas sagen!“
„Bette!“
Das Mädchen zögerte, dann beugte sie sich nahe an Valion heran und flüsterte ihm zu: „Karvash!“ Sie riss sich los, und war im nächsten Augenblick verschwunden.
„Was denkst du, bedeutet das? Dass sie verschwinden?“, fragte Valion später, als er und Anya sich zum Schlafen gelegt und beide eine Weile wortlos in die Dunkelheit gestarrt hatten.
„Vermutlich nichts“, sagte Anya.
Aber er kannte sie mittlerweile besser, hörte die Besorgnis in ihrer Stimme.
„Aber wenn doch ... dann sind sie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen“, fuhr sie fort, leiser als zuvor. „Gael hat ein Gespür dafür, wann es gefährlich wird. Vielleicht hat er auch einen Wink bekommen. Möglich, dass er rettet, was zu retten ist. Wenn ich nur zu ihm könnte ... eine Stunde, ein bisschen Wein und ein paar Schmeicheleien, und ich wüsste wieder, was vorgeht.“
Eine Kette rasselte in der Finsternis. Anya musste frustriert daran gezogen haben. Um sie auf andere Gedanken zu bringen sagte Valion: „Ich hab bisher noch nicht viel von Karvash gesehen. Oder den anderen Händlern.“
Abgesehen von Eravier. Er sprach den Gedanken nicht aus; nichts wäre schlimmer gewesen, als hier, im Dunkeln, ausgerechnet über ihn zu sprechen.
„Sie reisen mit uns, aber natürlich halten sie Abstand“, antwortete Anya, „Was sollten sie auch sonst tun? Es ist nicht klug, sich zu sehr mit uns einzulassen. Wir sind Ware. Freundschaften, Liebeleien, das macht alles nur komplizierter. Sie wollen uns nicht behalten, sie wollen uns verkaufen.“
„Schien mir nicht so, als hätte Karvash besonders viel Abstand zu dir gehalten.“
Anya schnaubte, halb bitter, halb amüsiert.
„Da täuschst du dich. Er war mir nur so nah, wie es ihm nützte. Er taktiert nicht mehr oder weniger als Eravier. Vielleicht sogar noch mehr.“
„Wirklich?“, fragte Valion. Er rief Karvashs Bild in sich wach, das wenige, was er von ihm gesehen hatte. Alles, was vor seinem inneren Auge auftauchte, war ein gezierter Angeber, der sich mit Frauen schmückte. „Er erschien mir nicht besonders-“
„Klug?“, unterbrach Anya ihn. „Ja, den Eindruck erweckt er. Davon solltest du etwas lernen. Wenn man es mit gerissenen Menschen zu tun hat, ist es manchmal von Vorteil, sich den Anschein von Einfachheit zu geben. Männer wie Eravier wittern überall Feinde und Verrat. Es lebt sich leichter, wenn man ihnen das Gefühl gibt, vor ihnen zu kriechen. Stolz, Würde, das sind schöne Worte, aber sie helfen dir nicht, zu überleben. Zumindest nicht hier.“
Ihre Worte waren bitter und doch seltsam abgeklärt. Unwillkommen erinnerten sie Valion daran, dass er Anya mit Eravier gesehen hatte, und dass sie vermutlich darüber sprach. Das Bild stand ihm immer noch deutlich vor Augen, viel klarer, als er wollte. Das über ihren Rücken fließende Haar, die geröteten Wangen. Ihn befiel so heftige Scham, dass er sein Gesicht am liebsten in seinem Kissen vergraben hätte. Nur gut, dass es dunkel war und Anya sein Gesicht nicht sehen konnte.
Und dann lachte sie leise.
„Ich weiß, dass du es weißt. Dass auch ich mit ihm schlafe.“
Hatte er wieder einmal geglaubt, Anya irgendwie täuschen zu können? Während Valion mit glühendem Gesicht in die Dunkelheit starrte und gar nichts erwidern konnte, ärgerte er sich gleichzeitig darüber, dass er das nicht vorher gesehen hatte.
„Woher-“, wollte er fragen, aber Anya lachte nur wieder.
„Du weißt besser als ich, was für ein Schwein er ist. Ich kann es mir nicht leisten, unachtsam zu sein. Ich halte immer die Augen offen, wenn ich bei ihm bin.“
Das ergab Sinn, sogar so viel, dass Valion sich fragte, warum er nicht selbst darauf gekommen war.
„Aber warum hast du nichts gesagt? Dass du mich gesehen hast?“, fragte er.
Anya zuckte mit den Schultern.
„Es schien dir unangenehm zu sein. Wie so vieles.“
Der leise Tadel in ihren Worten stachelte Valion zu einer unwirschen Antwort an, bevor er sich davon abhalten konnte.
„Damit hat das nichts zu tun! Ich hatte einfach nicht- ich meine, ausgerechnet mit Eravier?“
Anyas darauf folgendes frustriertes Seufzen hatte er vermutlich verdient.
„Hast du nicht zugehört?“, erwiderte sie scharf, „Du glaubst doch nicht, dass ihm irgendetwas an mir liegt, oder mir etwas an ihm? Es ging ihm nur darum, mich zwingen zu können. Er hat bekommen was er wollte, wenn er es wollte, und geglaubt, dass er mich in der Hand hat. Das ist es, was er will: unsere Unterwerfung. Und wenn du nicht ein Auge oder gar dein Leben verlieren willst wie Faure, dann solltest du anfangen, dir das zu Herzen zu nehmen!“
Anscheinend hatte er sie wieder einmal verärgert. Vielleicht war sie auch zu Recht auf ihn wütend, denn er wusste nichts einzuwenden.
„Tut mir leid“, murmelte er schließlich.
„Schon gut. Sieh es als letzte Lektion für heute“, erwiderte Anya, und jetzt klang sie versöhnlich.
„So kurz vorm Einschlafen?“, erwiderte Valion und seufzte, gespielt frustriert. Anya lachte leise.
„Es ist nie zu spät am Tage, um etwas dazu zu lernen. Vor allem etwas so Wichtiges. Wenn du es geschickt anstellst, wirst du dafür sorgen, dass andere dich unterschätzen. Das wird dir immer nur zum Vorteil gereichen, besonders-“
„-als Sklave“, beendete Valion trocken ihren Satz.
Seltsam. Der Gedanke schmerzte zum ersten Mal nicht mehr, hatte seinen Schrecken eingebüßt. Als hätte sich ein Stück seines Wesens gewandelt. Sein Herz war immer noch schwer, aber zum ersten Mal spürte Valion, dass dieses Wort jetzt auf ihn zutraf. Er war tatsächlich im Begriff, ein Sklave zu werden. Jede Lektion, die er von Anya erhielt, führte ihn weiter auf diesem Weg. Er veränderte sich, hatte sich bereits verändert. Vielleicht unwiderruflich.
Aber das war nicht alles. Während er schweigend in die Dunkelheit starrte, spürte er in sich nach, und nicht alles daran war ihm fremd. Das Gefühl war alt, halb verschüttet, aber er erinnerte sich an erschreckend viel. Manche der Dinge, die Anya ihm nahe brachte, kamen ihm unheimlich bekannt vor. Wie eine ferne Erinnerung, die zurückkehrte, oder ein Lied, dessen Melodie ihm plötzlich wieder einfiel. Manches verstand er instinktiv, wie in diesem Moment.
Er hat bekommen, was er wollte, wenn er es wollte.
Er beherrschte das besser als alles andere. Die Beschwichtigung. Die Unterwerfung. Nisha hatte ihn einen Lügner dafür genannt. Hatte er damals begriffen, was er tat? Nein. Und doch hatte er die Wahrheit verbogen, so weit er konnte, ohne alles zu zerbrechen. Alles, um ihr das zu geben, was sie wollte.
Aber was sagte das über ihn aus? War es das, was Eravier in ihm gesehen hatte?
Der Gedanke ließ ihn schaudern.
Dann war da Anyas Hand. Sie streifte in der Dunkelheit seinen Arm, strich beruhigend darüber, besorgt über sein Schweigen.
„Quäl dich nicht damit“, sagte sie. „Morgen ist auch noch ein Tag. Und irgendwann wird dir alles leichter fallen, glaub mir.“
„Was, wenn es mir schon zu leicht fällt?“
Anya stutzte, richtete sich ein wenig auf.
„Du hast nichts falsch gemacht“, sagte sie ernst. Es lag kein Tadel in ihren Worten und auch kein Sport. Sie glaubte, was sie sagte, und gerade deshalb schnürte es Valion die Kehle zu.
Du bist ein Lügner.
„Vielleicht doch“, antwortete er mit rauer Stimme. Und er wusste, dass Anya ihn beobachtete, darauf wartete, dass er mehr sagen würde. Ihr erzählen würde, was ihn beschäftigte. Aber er konnte es nicht. Noch nicht.
Schließlich ließ sie sich zurücksinken.
„Du schuldest mir natürlich keine Erklärung, aber ich verspreche dir, du kannst mir vertrauen. Ich bin der letzte Mensch, der irgendjemand für irgendetwas verurteilen kann.
Gute Nacht, Valion.“
„Gute Nacht“, flüsterte er. Aber seine Gedanken kamen lange nicht zur Ruhe, selbst dann nicht, als Anyas gleichmäßige Atemzüge neben ihm verrieten, dass sie eingeschlafen war.
Sag mir die Wahrheit. Ich war nicht der erste, oder?
Er wollte nicht daran denken. Er schloss die Augen.
Sag mir die Wahrheit.
Er fühlte das Gewitter, bevor er es hörte; die feuchte Luft, die wie ein Gewicht auf ihm lastete. Über ihm grollte Donner. Und da war der Duft der Scheune: Heu und Holz und feuchte Erde. Darunter der Geruch des Regens, erstickend und schwer, süß und bedeutsam. Er sah hinauf in die Dunkelheit, wandte sich dann ab und glaubte einen Moment, Nisha müsste bei ihm sein.
Wie gut er ihr Bild immer noch herauf beschwören konnte. Die weiße Haut leuchtend in der Schwärze, die dunklen Brustwarzen wie hinein gebrannt. Die Kurve der Hüften, die in ihm eine Sehnsucht auslöste, die er schwer begreifen konnte, und in Nisha nur Hass.
Aber Nisha war nicht da. Das Heu neben ihm war leer, nur eine sachte Vertiefung in den Halmen verriet, dass dort jemand gewesen war.
Dennoch war er nicht allein. Eine Hand lag auf seinem Bauch, ein Arm schlang sich um ihn. Warm, fest. Atem in seinem Nacken, der ihn erschaudern ließ. Er musste sich nicht umdrehen, er erkannte ihn auch so.
Hast du mir verziehen?
„Ja“, murmelte er, wandte sich um, verbarg sein Gesicht an seiner Brust. Wie vertraut das war, und wie fremd.
Wirklich?
Sein Lachen war rau, tief. Valion hatte nur erahnt, dass er so lachen konnte. So anders als Jan.
Denk jetzt nicht an ihn.
Er hob Valions Kinn, küsste ihn. Seine Lippen fühlten sich sanft an, aber seltsam kühl, das Gefühl nur undeutlich. Und doch war es sehr vertraut. Eine Heimkehr zu etwas, das Valion nur vage erahnt und sich doch heimlich herbei gesehnt hatte.
Würde Jan das verstehen? Marceus?
Mach dir keine Sorgen. Du träumst nur.
„Nein. Ich will nicht.“ Er schüttelte den Kopf, hielt ihn fest. Das durfte kein Traum sein. Auf eine bizarre Art war es das Einzige, das in diesem Chaos irgendeine Art von Sinn ergab. Der rote Faden, der sich durch alles zog. Ein Brandmal, das sich tief in seine Haut gefressen hatte. Schicksal.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. „Bitte-“
Ein lauter Donnerschlag riss Valion aus dem Schlaf. Er erwachte schweißgebadet, halb auf dem Bauch liegend, sein hartes, pochendes Glied zwischen seinem Körper und dem harten Boden unter ihm eingeklemmt. Noch im Aufwachen wälzte er sich auf den Rücken, weil das Gefühl unerträglich war.
Er ließ die Augen geschlossen und versuchte sich zu entspannen, aber sein hämmerndes Herz und sein schwerer Atem wollten nicht zur Ruhe kommen. Am liebsten hätte er geflucht. Warum war er gerade jetzt aufgewacht?
Zumindest wusste er im nächsten Moment, warum es gerade dieser Traum gewesen war. Regen prasselte auf die Planen des Wagens, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit und dem Geruch nach Gras und Schlamm. Ein Blitz zuckte, ein unirdisches Flackern über dem Planendach. Das Krachen und der grollende Donner folgten kurz danach; das Gewitter musste sehr nahe sein. Die Luft stand in dem kleinen, abgetrennten Schlafbereich, und ohne nachzudenken rappelte Valion sich auf. Er zog sich das feucht geschwitzte Hemd über den Kopf und trabte im Halbdunkel zum Eingang, so weit, wie es seine Kette zuließ. Der Luftzug, der hereindrang, war schwach, aber zumindest kühlte er ein wenig, und Valion ließ sich benommen auf den Boden sinken. Das fahle Licht gab ihm keine Auskunft über die Uhrzeit. Der Mangel an Frühstück und frischem Wasser sowie die Tatsache, dass der Wagen gerade stand, sprachen jedoch dafür, dass es sehr früh am Morgen war.
Eine Weile saß er nur da und lauschte dem Regen, während der Schweiß auf seiner Haut trocknete und seine Schläfrigkeit langsam abebbte. Leider konnte er das von seiner Erregung nicht behaupten: Die hielt sich hartnäckig, egal, wie lange er still sitzend ausharrte. Nach einer Weile begann seine Erektion regelrecht zu schmerzen. Er strich zaghaft mit der Hand darüber und wäre fast zusammen gefahren. Er war empfindlich. Kein Wunder, nach all der Zeit.
Zögernd wandte er sich um, blickte zurück in Richtung seines Lagers. Anya schien weiterhin tief und fest zu schlafen. Er beneidete sie heftig darum; er hätte sich lieber wieder hingelegt, als hier zu sitzen und nichts mit sich anzufangen zu wissen.
Natürlich gab es eine einfache Lösung für sein Problem, aber etwas in Valion sperrte sich dagegen. Was, wenn Anya aufwachte? Oder eine Dienerin hereinplatzte und ihn fand?
Missmutig rappelte er sich auf, sah nach, ob noch kaltes Wasser vom Vortag da war, doch nichts war übrig. Er dachte darüber nach, in den Regen zu kommen, aber seine Kette war dafür zu kurz, das wusste er mittlerweile.
Frustriert setzte Valion sich wieder, ließ sich zurückfallen, sodass er unbequem auf dem harten Holzboden lag, der Schmerz in seiner Brandwunde ein kurzes Aufflackern, das er kaum registrierte. Er versuchte, an etwas Belangloses zu denken, das, was er die letzten Tage gelernt hatte im Kopf zu wiederholen, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Stattdessen kam ihm nur Nisha in den Sinn. Der Sturm, vor dem sie Unterschlupf in der Scheune gesucht hatten, und der ihm nach seinem Traum wieder so deutlich vor Augen stand. Er wollte nicht daran denken, nicht nach dem gestrigen Abend. Aber er konnte ihr Bild schwer abschütteln.
Und war das nicht letztendlich der Grund, warum er aufgehört hatte, sich selbst zu befriedigen? Er hatte so lange an sie gedacht, dass er nicht einfach damit aufhören konnte, nachdem sie ihm die Freundschaft gekündigt hatte. Unmöglich, ihr Bild aus seinem Kopf zu verbannen. So lächerlich das auch war, es war einfacher, sich abzulenken. Am Ende hatte er es nicht einmal mehr vermisst.
Schweigend starrte Valion an das Planendach, allein mit dem Rauschen des Regens und den Schmerzen im Rücken. Wenn er lange genug liegen blieb, würde er darüber hinweg kommen.
Im nächsten Moment fragte er sich, warum er das sollte, warum er sich überhaupt damit quälte. Nisha war endlos weit weg, und er dachte die meiste Zeit nicht einmal an sie; wenn seine Träume ihm eins bewiesen, dann das.
Trotzdem blieb das Unbehagen. Ein schmales, bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen. Egal, wie sehr es ihm missfiel, Anya hatte Recht gehabt, wie immer: Er vermied, über sich selbst nachzudenken. Über sein Verlangen, und das anderer. Aber den Grund hatte Anya nicht erraten, dabei war es so einfach. Sie hatte ihn doch mit Marceus zusammen gesehen. Sogar gemaßregelt, mit Jefrems Unterstützung.
Die Wahrheit war, dass sein Verstand aussetze. Er dachte nicht mehr nach, er wollte etwas, und handelte, ohne nachzudenken. Die Folgen daraus hatten ihm nicht gerade das Leben erleichtert. Er hatte sich und Jan bloßgestellt, Marceus in Verlegenheit gebracht. Nisha verletzt, selbst wenn er das nie gewollt hatte. Aber das Schlimmste war, dass er es nicht einmal bereute, oder nicht so sehr, wie er es hätte bereuen müssen. Selbst jetzt, während die Momente an seinem inneren Auge vorbei zogen, hatte seine Sehnsucht die Überhand über die Scham und die Gewissensbisse.
Valion stöhnte leise auf und ärgerte sich über sich selbst. Er hatte sich beruhigen wollen, und genau das Gegenteil erreicht. Jetzt hatte er an Jan und Marceus gedacht, und seine Hand war unbewusst weiter gewandert, strich über seine Erektion. Auf die Art würde er noch Stunden frustriert hier herum liegen, wenn er nicht endlich etwas unternahm. Also, warum schob er es noch auf?
Er zog sich nicht aus, seine Hand glitt nur unter seine Kleidung. Wenigstens würde er nicht nackt sein, wenn Anya aufwachte oder ihn doch eine Dienerin störte. Die Vorstellung wollte sich festsetzen und die alte Scham wachrufen, aber er schob sie grob beiseite. Dann würde er sich eben beeilen. Unsicher griff er nach seinem Glied, ließ seine Hand darüber gleiten. Das Gefühl war vertraut. Er verbiss sich das Stöhnen, das ihm auf den Lippen lag, und konzentrierte sich, blendete alles andere aus.
Zuerst fiel es ihm schwer zu beginnen, eine Fantasie herauf zu beschwören. In seinem Traum war alles leicht gewesen, ohne Scham, ohne Schuldgefühle. Notgedrungen versuchte er, genau dorthin zurückzufinden, sich an die schemenhaften Bilder zu erinnern, die Empfindungen in sich wach zu rufen.
Jemand war bei ihm gewesen. Älter als er selbst. Nicht so breitschultrig wie Guy oder Marceus, sondern schmaler, wendiger. An mehr konnte er sich im ersten Moment nicht erinnern, aber letztendlich war das nicht wichtig. Er musste nur die Gefühle zurückholen, nicht die Details. Warme Hände, die auf seinem Bauch ruhten. Ein Atemhauch, der seinen Nacken streifte. Das Gefühl von Lippen auf seinen. Das war vertraut, und er wollte mehr davon.
In seiner Fantasie streckte er die Hände aus, strich durch das Haar des anderen, kurz und dunkel, wie Marceus Haar. Hörte sein tiefes Lachen, und verwandelte es in ein Stöhnen. Erkundete seinen Körper, sah in seine braunen Augen. Verkrallte sich in seine breiten Schultern, ließ sich von seinen schlanken Händen berühren, die sein Glied umschlossen. Unbewusst nahm er einen Takt auf, langsamer, als er es gewohnt war, aber auch intensiver, fordernder. In seiner Fantasie lag kein Zögern in dieser Berührung, sondern Erfahrung, das Wissen, was zu tun war. Seine andere Hand fuhr unter sein Hemd, rieb über seine Brustwarzen, ohne dass er es richtig wahrnahm.
Ich liebe dich, hatte er geflüstert, sich an ihn geklammert. Bitte bleib bei mir. In seinem Traum hatte er keine Antwort erhalten, aber er erhielt sie jetzt. Genau die, die er sich gewünscht hatte, nicht weniger erregt, aber doch Herr der Lage.
Keine Angst. Ich verlasse dich nicht. Egal, was passiert.
In seiner Vorstellung sah Valion ihn direkt vor sich, sah in seine Augen, die ihn sanft, verständnisvoll anblickten. Müde, aber liebevoll. Valion atmete keuchend ein, fühlte seinen Höhepunkt nahen, und wollte seinen Namen sagen. Aber er war knapp außerhalb seiner Reichweite, und bevor er ihn greifen konnte, war es vorbei. Im nächsten Moment kam er, und alle Gedanken verließen ihn. Er ließ sich erschöpft zurückfallen, mit hämmerndem Herzen, und schloss die Augen.
Valion musste eingenickt sein. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich das hereinfallende Licht subtil verändert, und das Prasseln des Regens war schwächer geworden. Er lauschte, doch er vernahm nichts sonst. Anya schlief weiterhin; niemand hatte bemerkt, was er getan hatte.
Benommen richtete er sich auf und hätte sich beinahe gedankenverloren die Hand an der Hose abgewischt. Sein Zurückzucken verdankte er nur Anyas ständigen Ermahnungen, bevor sein Verstand sich einschaltete und ihm vor Augen führte, in welche peinliche Lage er sich fast gebracht hätte. Hastig suchte er nach seinem zweiten Unterhemd, das er zum Waschen beiseitegelegt hatte und rieb sich stattdessen damit die Hand ab.
Seine Gedanken drifteten gerade zu den Dienerinnen ab und ob sie bemerken würden, was sie da aus seiner Kleidung wuschen, da schreckte ihn etwas auf. Irgendetwas hatte er aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Valion hielt inne und lauschte, aber es gab nichts zu sehen und keine ungewöhnlichen Geräusche. Sicher, da war das leise Rieseln des Regens, das ferne Grollen von Donner. Dazwischen Windböen, die an den Planen zerrten.
Dann kristallisierten sich die leisen Schritte einer Wache heraus. Der Schatten des Mannes war vage im Zwielicht sichtbar, während er am Wagen vorbei schritt. Langsam, bedacht, als hätte auch er etwas bemerkt und wäre sich unsicher, was es gewesen war. Kurz hielt er inne, lauschte wohl selbst auf Geräusche, und Valion hielt unbewusst die Luft an. Dann setzte er seinen Weg fort und entfernte sich.
Im selben Moment sah Valion, was ihn aufgeschreckt hatte: der Schatten einer geduckten Gestalt. Er schien Deckung auf der gegenüberliegenden Seite des Wagens gesucht zu haben. Jetzt, da er sich in Sicherheit wähnte, hatte er sich wieder erhoben. Kurz hielt er inne, schien nachzudenken, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Sein Ziel schien der Eingang des Wagens an dessen Ende zu sein.
So leise es ging, trat Valion zum Waschtisch und griff nach dem schweren Wasserkrug. Er wünschte in diesem Moment, er hätte Zeit gehabt, seine Glasscherben zu holen. Seine schlecht improvisierte Waffe in den Händen schlich er zum Eingang des Wagens und postierte sich daneben, sodass er nicht sofort ins Blickfeld des Fremden geraten würde. Er hörte seinen Atem, bevor er ihn sah, ein leicht angestrengtes Schnaufen. Dann teilten sich die Planen, und ein Kopf, verhüllt durch einen dunklen Kapuzenumhang, schob sich vor.
Ein Rebell? Valion wusste nicht, was er davon halten sollte. Was wollte er hier? Oder wollte er am Ende etwas von Anya? Und war es derjenige, der Valion bedroht hatte?
Nun, es gab einen einfach Weg, das herauszufinden. Ohne länger darüber nachzudenken schnellte Valion vor, griff nach der Kapuze und riss sie dem Fremden vom Kopf herunter. Der war so überrumpelt, dass er mit einem unterdrückten Aufschrei vorwärts stolperte, in den Wagen hinein.
Valion erkannte ihn, bevor er sich fing und zu ihm umwandte. Bevor sich ein tiefes, ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, und seine Hände, die sich zur Verteidigung gehoben hatten, herab sanken. Seine blonden Locken hatten ihn sofort verraten. Valion hätte sie immer und überall wiedererkannt.
„Jan?“, würgte er hervor, und hörte seine eigene Stimme nur wie von fern.
Jan. Erst jetzt wurde Valion bewusst, wie wenig Hoffnung er gehabt hatte, dass er noch lebte, dass sie sich jemals wiedersehen würden. Und plötzlich stand er wieder da. Es war wirklich Jan. Blass, hohlwangig, noch dünner, als Valion ihn in Erinnerung hatte. Aber lebendig. Wirklich da.
„Na? Störe ich gerade?“, fragte er, blickte auf den Krug in Valions Hand, und fügte grinsend hinzu: „Vielleicht beim Blumen gießen?“
Valion wollte etwas Schlagfertiges antworten, aus Reflex, aber er konnte nicht. Jans alberner Witz hatte ihm unvermittelt den Rest gegeben. Er ließ seine improvisierte Waffe fallen, und zum Glück zerbrach das Gefäß nicht, sondern prallte nur dumpf auf dem Holzboden auf. Valion nahm es kaum wahr, er griff nach Jan, schlang seine Arme um ihn und begrub ihn in einer Umarmung.
Jan keuchte überrascht auf, aber er wich nicht zurück, protestierte nicht einmal, obwohl Valion wusste, dass er ihn viel zu fest an sich drückte, aber er konnte nicht anders. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber nichts kam ihm über die Lippen. All die angestaute Angst, die Zweifel, ihr schrecklicher Abschied, alles brach mit einem Mal auf ihn herein und riss ihn fast entzwei. Er konnte nur schluchzen, unartikuliert, und dann heulte er los.
„Schhhhhh ... ist schon gut“, murmelte Jan, seine Stimme selbst unstet. Er lachte, schniefte, aber irgendwie brachte er es fertig, die Fassung zu bewahren. Beruhigend hielt er Valions zitternden Körper fest, strich über seinen Rücken, seine Arme, redete sanft auf ihn ein. „Alles gut. Keine Angst. Alles ist gut.“
Eine kleine Ewigkeit verstrich, in der sie sich nur aneinanderklammerten, bis es Valion gelang, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er wischte sich das Gesicht, sah zu Jan auf, der immer noch liebevoll auf ihn herunter sah.
„Wo zur Hölle warst du?! Ich hab schon gedacht, ich seh dich nie wieder!“, brach es aus Valion heraus. Er wusste nicht, ob er wütend sein sollte, oder nur erleichtert.
Jan lachte leise auf. „Ich hätte eher was von mir hören lassen sollen, was?“, antwortete er, aber seine Stimme brach mitten im Satz. Er wischte sich heftig die Augen, und einen Moment lang glaubte Valion, jetzt würde auch er weinen. Aber er fing sich zum zweiten Mal, atmete tief durch, und lächelte tapfer weiter. Erschöpft, traurig, aber so humorvoll und herzlich wie in Valions Erinnerung. „Wenigstens brauch ich dich nicht zu fragen, ob du mich vermisst hast. Ich war mir nicht sicher, nachdem ich-“ Er brach ab, suchte nach Worten, und jetzt sah er elend aus. „-nachdem ich dich so hab hängen lassen“, brachte er schließlich heraus. „Ich hab- Sachen gesagt, die ich nicht sagen wollte. Und dir mächtig eine verpasst. Das war falsch. Ich war am Ende, und ich hab erst später verstanden, was passiert ist. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gutmachen kann, aber-“
„Ich hab dich fast umgebracht“, widersprach Valion, „Wenn sich einer entschuldigen muss, dann ich. Ich dachte- ich dachte, deshalb bist du nicht zurückgekommen.“
„Wegen dem bisschen?“, wehrte Jan ab, und jetzt grinste er schief. „Hat mich nicht umgehauen, wie du siehst. Wenn du mich das nächste Mal abmurksen willst, musst du etwas gründlicher sein!“ Er hielt inne, als er Valions unglücklichen Gesichtsausdruck sah. „He, das war ein Witz!“, fügte er wesentlich sanfter hinzu und drückte Valion kurz an sich. „Scheint, als hätten wir uns beide sinnlos den Kopf zerbrochen, oder?“
„Scheint so“, stimmte Valion zu, und er sah Jan an, dass er genauso erleichtert war wie er selbst. Irgendwie war es beruhigend, dass er sich mit denselben Zweifeln herum geplagt hatte, mit denselben sinnlosen Schuldgefühlen. Dabei hatten sie einander schon verziehen.
„Wollen wir‘s dann einfach vergessen? Noch mal von vorn anfangen?“, fragte Jan. Er suchte Valions Blick, und er wirkte ungewöhnlich ernst.
Etwas hatte sich an ihm gewandelt, während sie voneinander getrennt gewesen waren, das begriff Valion jetzt. Und einen Moment lang bedrückte ihn das. Was hatte sich zwischen ihnen verändert in dieser kurzen Zeit? Er konnte es noch nicht sagen. Aber je mehr er darüber nachdachte, je länger er Jans Blick erwiderte, desto sicherer war er sich auch, dass er es heraus finden musste. Er wollte diese zweite Chance nicht verspielen.
Er nickte ernst. „Versuchen wir‘s“, sagte er, und brachte Jan damit zum Lächeln.
„Du wirst es nicht bereuen.“
Valion grinste zurück. „Wenn doch, dann versuche ich es einfach noch mal mit dem Abmurksen.“
Jan schnaufte amüsiert, und legte eine Hand unter Valions Kinn. „Damit das klar ist, für die dummen Witze bin immer noch ich zuständig“, sagte er, und dann küsste er ihn. Ein warmer Schauer durchlief Valion, und er hob die Arme, zog ihn näher zu sich. Wie fremd sich das anfühlte, und gleichzeitig vertraut. Er erinnerte sich an ihre letzten Umarmungen, die viel zu kurze Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Hätte er ihn nur festhalten können, bei sich behalten; sie hatten einiges nachzuholen. Er sah an Jans leicht geröteten Wangen, dass er vermutlich dasselbe dachte. Aber die Zeit hatten sie vermutlich nicht.
„Wie lange kannst du bleiben?“, fragte Valion. Jan seufzte.
„Nicht lange“, antwortete er und löste sich sanft von Valion, und seine Miene wurde wieder ernst, genauso wie der Tonfall seiner Stimme. „Eigentlich müsste ich schon wieder weg sein. Meine neuen Freunde waren sowieso nicht so begeistert von der Idee, dass ausgerechnet ich her komme und mit dir rede. Wird das beste sein, wenn ich keine Zeit mehr vertrödele.“
Sorgsam hob er den Krug auf, der immer noch auf dem Boden lag, und stellte ihn beiseite, bevor er sich die Kapuze wieder überzog und die blonden Locken, die darunter hervor fielen, sorgfältig zurückschob.
„Rebellen?“, fragte Valion, und Jan nickte.
„Sie haben mich aufgesammelt und mich wieder aufgepäppelt. Leider heißt das, dass ich ihnen was schulde, und glaub mir, mit ihnen anlegen willst du dich nicht. Also unterstütze ich sie eine Weile. Und ehrlich gesagt habe ich ihnen versprochen, dass ich dich auch dazu überrede, ihnen zu helfen.“
Noch während er sprach, zog er Valion sanft von der Mitte des Eingangs weiter an die Seite, postierte sich in der Ecke, in der Valion ihm zuvor aufgelauert hatte. In Valion keimte der Verdacht, dass die Rebellen mehr getan hatten, als nur seine Verletzung zu versorgen. Noch mehr von der subtilen Veränderung, die er an Jan bemerkt hatte. Er schien vorsichtiger, und er entspannte sich erst, als er stumm nach draußen gelauscht hatte und sich sicher schien, dass sie weiterhin ungestört waren.
„Tut mir leid“, sagte er, als er Valions prüfenden Blick bemerkte. „Sie haben mich ziemlich getriezt, bevor ich hierher kommen durfte. Ein Wunder, dass sie‘s überhaupt erlaubt haben. Aber wir hatten ja einiges zu bereden.“ Er lächelte bei diesen Worten. „Und ich dachte mir, wenn plötzlich irgendjemand vor dir gestanden und behauptet hätte, ich wäre am Leben und hätte eine Botschaft für dich, dann hättest du es nicht geglaubt. Ich hätt‘s zumindest nicht geglaubt.“
„Ich wohl auch nicht“, stimmte Valion zu.
„Dachte ich mir. Aber versuch mal, denen das zu erklären. Ihre Strategie hier, Eravier da, die Wachen, die Lage, wann, wo, warum, blablabla“, murrte Jan. „Fast alles, was ich ihnen vorgeschlagen habe, hat ihnen nicht gepasst. Sie wollen strikt nach ihrem Plan vorgehen. Und der sieht leider vor, dass du noch eine Weile den Kopf unten behältst und tust, was Eravier will.“ Er neigte sich näher zu Valion heran, der das perplex geschehen ließ, und flüsterte direkt in sein Ohr: „Das, was ich dir jetzt sage, darfst du wirklich keiner Menschenseele verraten, verstanden? Die Rebellion plant von langer Hand einen Angriff, und dann werden sie dich hier raus holen. Bei eurer nächsten Rast wirst du mehr hören.“
„Ein Angriff?“, flüsterte Valion zurück. „Wozu?“
Jan seufzte leise. „So genau weiß ich das auch nicht. Anscheinend wollen sie irgendetwas haben, das sich Eravier unter den Nagel gerissen hat.“
„Und was?“
„Keine Ahnung, sie halten dicht, was das angeht. Aber sie sind ziemlich sauer. Kann auch nur Eravier einfallen, ausgerechnet einem Haufen Rebellen etwas unter dem Hintern weg zu klauen.
Jedenfalls, wenn wir unsere Rolle gespielt haben, und alles gut gelaufen ist, sind wir raus. Frei. Wir können gehen, wohin wir wollen. Und ... ich kann nichts versprechen, aber wenn wir Glück haben, ist Eravier danach Geschichte.“
Er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, und Valion lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.
„Du meinst-?“
Jan deutete mit einer stummen Geste an seinem Hals das an, was Valion vermutet hatte.
„Glaubst du, das werden sie wirklich tun?“
Jan zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Mir wäre es nur recht. Niemand mehr, der uns verfolgen kann. Aber letztendlich soll es mir egal sein, solange sie ihren Teil der Abmachung einhalten.
Aber ganz ehrlich, was meinst du? Denkst du, du kommst so lange allein klar?“
„Heißt das, ich sehe dich jetzt eine Weile nicht mehr?“
Jan stutzte, dann schmunzelte er plötzlich.
„Was ist?“, fragte Valion, und Jan schüttelte leicht den Kopf.
„Wenn das deine größte Sorge ist, dann kann es dir ja hier nicht so schlecht gehen.“
„Das ist nicht-“, murrte Valion, aber Jan küsste ihn kurzerhand, zog ihn wieder zu sich, deutlich energischer als zuvor, und Valion ließ es nur zu gern geschehen. Er atmete heftig ein, als Jan seine Lippen zu seinem Hals gleiten ließ, Küsse darauf hauchte, den Geruch seines Haars einatmete. Schlagartig war sein Verlangen wieder da, so heftig und unkontrolliert wie beim ersten Mal. Einige Dinge zwischen ihnen würden sich wohl nie ändern.
Es war Jan, der innehielt, und frustriert seufzte. Zärtlich strich er über Valions Wange, sah ihn voller Liebe an.
„Scheiße, ich würde so gern bleiben“, flüsterte er ihm zu. „Aber ich muss weg. Du wartest ab, ja?“
„Ja“, sagte Valion, obwohl er ihn am liebsten angebettelt hätte, nicht zu gehen. Aber was hätte das schon genützt?
„Halt dich aus allen Schwierigkeiten raus, verstanden?“, fuhr Jan fort. „Spiel mit, aber nicht zu sehr. Und verplapper dich nicht, das sollte ich dir von unseren Freunden mitgeben. Sie meinen, du bist ein bisschen zu vertrauensselig. Nicht, dass du an falsche Freunde gerätst.“
„Komisch, als ich dich getroffen habe, fandest du das noch in Ordnung“, gab Valion lächelnd zurück.
„Die Zeiten ändern sich. Sei einfach vorsichtig.“ Jan zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, ging zum Eingang und warf einen schnellen Blick nach draußen. Anscheinend war er bereit, zu gehen. Nur, dass Valion das Gefühl hatte, etwas Wichtiges vergessen zu haben, auch wenn es ihm beim besten Willen nicht einfiel. Irgendetwas, das er vergessen hatte zu fragen.
„Warte kurz“, bat er, und Jan hielt inne. „Was ist mit denen, die ich schon kenne? Woher weiß ich, wem davon ich trauen kann? Anya zum Beispiel?“ Valion nickte in Richtung des Schlafbereichs. „Ich kann ihr schwer aus dem Weg gehen. Und sie wird merken, wenn ich plötzlich nicht mehr mit ihr rede.“
„Mach dir darüber keiner Sorgen, sie ist in Ordnung. Die Rebellen haben eine Art Abmachung mit ihr“, antwortete Jan knapp.
„Und Tarn?“
Das war die falsche Frage gewesen. Jans Miene verfinsterte sich, und er schwieg eine Weile, als wüsste er nicht, was er antworten sollte. Oder er suchte nach den richtigen Worten, weil er sonst nur geflucht hätte.
„Die Rebellion ist nicht gut auf ihn zu sprechen“, sagte er schließlich. „Frag mich nicht, was genau er ausgefressen hat, das weiß ich selbst nicht. Aber wenn ich du wäre, würde ich den Kerl abschreiben.“
Valions bedrückter Gesichtsausdruck sagte ihm wohl alles, was er wissen musste, und er seufzte.
„Ich weiß, du magst ihn, aber geh ihm bitte aus dem Weg. Niemand will mir genau sagen, warum, aber sie betrachten ihn als Gefahr. Nimm dir ein Beispiel an ihnen. Und er hat uns ziemlich übel ausgespielt, das darfst du nicht vergessen.“
„Ich weiß, aber-“
„Versprich mir, dass du dich von ihm fernhältst. Wenn du alle Stricke reißen, dann halt dich an Marceus.“
Bevor Valion etwas erwidern konnte, hörte er plötzlich in der Nähe das Zwitschern einer Lerche. Es klang täuschend echt, und hätte Jan nicht sofort darauf reagiert, wäre es ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen.
„Das war mein Zeichen. Wenn ich mich jetzt nicht aus dem Staub mache, wird es ernst.“
Jan lächelte wehmütig, und ein letztes Mal streckte er die Hand nach Valion aus, zog ihn zu sich und umarmte ihn.
„Weißt du, ich bleib dabei: Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Pass auf dich auf!“, flüsterte er ihm zu. Dann verließ er, ohne zu zögern, den Wagen und huschte er davon. Sein Schatten war das Letzte, was Valion von ihm sah.