„Schön zu sehen, dass du dich so schnell von deinem Verlust erholt hast.”
Im selben Moment, als Anya die Worte aussprach, verfluchte sie ihr dummes Mundwerk. War es zu spät, sich eigenhändig die Zunge heraus zu reißen? Sie hätte es gern versucht.
Zum Teufel, das war nun wirklich nicht das, was sie hatte sagen wollen! Dabei hatte sie sich doch schon auf dem Weg hierher zurecht gelegt, wie sie vorgehen wollte, denn eines war klar: Nach ihrem holprigen ersten Zusammentreffen würde es schwerer sein an den Jungen heran zu kommen als je zuvor. Hätte sie von Anfang an gewusst, dass Fourmi seine Meinung ändern würde, hätte sie Valion nicht so eingeschüchtert. Und jetzt war ihr ungewollt etwas derartig Patziges heraus gerutscht.
Was sie sagte hatte eigentlich vage ermutigend klingen sollen, mit einem Hauch Verständnis. Es war schließlich gut, dass er schnell über seinen Freund hinweg kam. Himmel, er war jung, war es in diesem Alter nicht normal, schnell Zuneigung zu fassen und genauso schnell alles Alte zu vergessen? Und war es nicht besser für ihn selbst, wenn er sich nicht zu sehr damit quälte?
Aber aus ihren Mund klangen die Worte nicht freundlich, sondern wie ein Vorwurf. Schlimmer noch, es klang wie etwas, das Ansin gesagt hätte, spöttisch und vorverurteilend. Sie hatte Gelassenheit zeigen wollen, aber das Endergebnis glich eher einem Schlag ins Gesicht.
Die beiden starrten sie wie versteinert an, erschrocken durch ihr plötzliches Auftauchen und vermutlich eingeschüchtert durch ihre Worte. Valion hielt sich besser als sein Freund, der kreidebleich wurde, aufsprang, sich wortlos an ihr vorbei drängte und davon stürmte. Für einen Moment starrten sowohl Anya als auch Valion ihm perplex hinterher, unfähig zu reagieren. Welchen Nerv auch immer Anya gerade bei ihm getroffen hatte, sie hatte ihn verletzt, und sie bedauerte es sofort. So abgebrüht und gemein war sie nicht, dass es ihr Freude bereitete jemand derartig vorzuführen.
Bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, sprang Valion auf um seinem Freund zu folgen, und sie hätte es fast nicht geschafft ihn noch zu erwischen, aber sie packte ihn am Ärmel, bevor er aus ihrer Reichweite war. „Valion-”, begann sie, und zuckte zurück, als er sie direkt ansah. Sie hatte Zorn erwartet, Ablehnung, aber sie sah tiefe Enttäuschung, und alles in ihr krümmte sich.
Warum machst du mir nur Kummer, Anya? Was soll nur aus dir werden? Ist es meine Schuld?
„Was habe ich dir eigentlich getan?!”, fragte er sie mit überschlagender Stimme, und sie beeilte sich zu widersprechen: „ Ich-”
Sie brach ab, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Was hatte sie gewollt? War sie unabsichtlich so hämisch gewesen, weil sie sich schon die ganze Zeit gezwungen hatte ihm ablehnend gegenüber zu stehen? Oder hatte sie so harsch reagiert, weil sie selbst aufgewühlt war? Sie hielt sich sonst nicht für ein Biest, aber jetzt war sie eines gewesen.
Wäre er nur wütend gewesen oder hätte sie angeschrien, dann wäre sie besser damit fertig geworden. Selbst Ansins starre, bedrohliche Augen waren einfacher zu ertragen als dieser enttäuschte Blick, der so tief an dem rührte, was sie ihr ganzes Leben verfolgt hatte.
„Lass uns einfach in Ruhe”, sagte Valion bitter und schob sie zur Seite. Er war nicht einmal grob, im Gegenteil, es behagte ihm nicht sie zu berühren, und auch das traf sie hart. Ein dummer, irrationaler Teil ihrer Selbst protestierte dagegen, dass er derartig von ihr angewidert sein sollte, dass er sie nicht einmal verletzen wollte. Er entfernte sich rückwärts von ihr, als wollte er ihr nicht den Rücken zudrehen, und im nächsten Moment war er davon gestürmt, ohne ein weiteres Wort. Sie war plötzlich ganz allein mit sich selbst und ihren Gedanken.
Anya atmete zitternd aus. Verdammt, was hatte sie nur angerichtet? Unsicher fuhr sie sich durch das Haar und starrte für einen Moment auf die zerwühlte Decke auf Valions Lager. Wie hatte sie das wenige Vertrauen, das er zu ihr gefasst hatte, so schnell zerstören können?
Reiß doch zusammen, du Trauerkloß! Geh gefälligst da raus und mach das Beste daraus! schalt sie sich selbst, und das brachte ihr zumindest ein wenig ihrer Energie zurück. Sie würde nicht hier stehen und darauf warten, dass ihr der Himmel auf den Kopf fiel. Was machte es schon, wenn er sie hasste? Als ob sie das an irgendetwas hinderte. Wenn sie ihn nicht durch Freundlichkeit in die Arme des Nächstbesten schieben konnte, würde sie ihn eben mit ihrer scharfen Zunge dorthin flüchten lassen.
Energisch stapfte sie Valion hinterher und wollte gerade das Quartier verlassen, als sie in Jadzia hinein lief, die gerade zurück kehrte. Sie warf nur einen Blick in Anyas Gesicht und fragte ohne zu zögern: „Was ist denn passiert?”
Anya fühlte, wie ihre ganze verzweifelte Energie sie verließ, aber vielleicht war das gut so. Man konnte nicht immer hinaus stürmen und aus allem das Beste machen. Zwinge dich zur Langsamkeit war ein Lieblingsspruch ihrer Mutter. „Ich fürchte, ich habe alles falsch gemacht”, antwortete sie erschöpft.
Valion war verloren, bevor er überhaupt einen Plan fassen konnte, wohin er wollte. Anya hatte ihn davon abgehalten Marceus sofort nachzulaufen, und jetzt hatte er ihn nicht nur aus den Augen verloren, sondern auch keinen Anhaltspunkt, wo er nach ihm suchen sollte. Wenn er überhaupt gefunden werden wollte.
Wütend biss er sich auf die Unterlippe, weil ihm nach Schreien zumute war. Für einen winzigen Moment hatte er aufatmen können, in Stille und in der Sicherheit von Marceus Gesellschaft, und im nächsten Moment war er im Tumult des Lagers verloren und wurde von allen Seiten angestarrt. Die Arbeit und das geschäftige Treiben kamen um ihn keinesfalls zum Erliegen, dennoch bildete sich überall wo er hin kam eine kleine Schneise, als würden die Diener vermeiden, ihm zu nah zu kommen. Gespräche verstummten, manche wandten sich schnell wieder dem zu, was sie zuvor nur halbherzig ausgeführt hatten, oder fanden plötzlich eine Aufgabe, obwohl sie zuvor noch mit leeren Händen unterwegs gewesen waren. Und sie starrten.
Nervös glättete er sein Haar, das noch völlig zerzaust war, aber das Glühen seiner Wangen konnte er genauso wenig loswerden wie das nervöse Herzklopfen. Das schlimmste war, er wusste nicht einmal, was noch vor wenigen Minuten überhaupt passiert war, und er hatte die vage Vermutung, dass Marceus es auch nicht wusste und deshalb verschwunden war.
Während Valion durch das Lager irrte und nach Marceus Ausschau hielt wurde ihm bewusst, dass Anyas Worte vermutlich nicht der Auslöser, sondern nur der letzte Anstoß zu seiner Flucht gewesen waren. Sie waren eine unwillkommene und schmerzhafte Erinnerung daran, dass es nicht nur sie beide gab. Plötzlich, nachdem alles schon geschehen war, fühlte Valion Schuldbewusstsein und Bestürzung, und Eraviers hämische Worte hallten in ihm wieder. Da du anscheinend jedem beliebig zu Willen bist…
Was hatte er sich dabei gedacht, sich Marceus so zu nähern? Jan konnte ihm zwar nicht befehlen, was er zu tun oder zu lassen hatte, aber er hatte Marceus von Anfang an nicht gemocht, und er hatte anscheinend Recht mit seinen Befürchtungen gehabt. Marceus hatte Jan nicht gerade freundlich damit aufgezogen, dass er ihm nicht den Freund ausspannen wollte, aber genau das hatte er gerade versucht. Oder getan?
Das Problem war, dass sich alles, was Valion bisher erlebt hatte, so völlig seinen Begrifflichkeiten entzog. Bis vor kurzem war seine Welt simpel getrennt gewesen; Beziehungen die etwas bedeuteten oder für die Ewigkeit geschlossen wurden galten nur zwischen Männern und Frauen. Die Tatsache war so fest in sein Leben eingebrannt wie Eraviers Symbol in seine Schulter. Er hatte das immer so akzeptiert; alles andere war nichts Ernstes, selbst Nishas Verbindung zu Vara, egal wie stark ihre Liebe war. Nichts davon konnte Bestand haben, nicht, wenn sie nicht aus dem Dorf vertrieben werden wollten, oder Schlimmeres. Es war wie ein ungeschriebenes Gesetz; oder vielleicht stand es sogar irgendwo geschrieben, direkt neben den Worten, dass zu hängen war, wer einen anderen ermordete.
Dann hatte er Jan getroffen, und alles war in Unordnung geraten. Plötzlich hatte er Gefühle, die tiefer gingen als alles zuvor, das nicht Nisha betroffen hatte. Er liebte Jan, und auf ihrer verrückten Flucht war plötzlich die Hoffnung in ihm gewachsen, dass ihre Liebe vielleicht doch Bestand hatte. In dieser verdrehten anderen Welt, die Eravier und die anderen Menschenhändler sich geschaffen hatten, galten die alten Gesetze nicht mehr. Es war kein bewusstes Begreifen; er erinnerte sich nicht daran, mit einem mal verstanden zu haben, dass es ihm endlich erlaubt war, Jan zu lieben.
Eine Welt war durch eine völlig andere getauscht worden, und vielleicht hatte er das instinktiv begriffen, als er völlig nackt da stand und eine Schar Diener um ihn herum ihn wusch und rasierte, als wäre sein nackter Körper das Normalste der Welt. Es konnte in so einer verrückten Welt keine normalen Regeln geben. Und deshalb hatte er sich seine eigenen gemacht. Bessere? Er wusste es nicht.
Aber das brachte ihn jetzt in einen völlig neuen Konflikt. Wenn seine Beziehung zu Jan tatsächlich etwas galt, genau so wie jede zwischen Mann und Frau, dann konnte sie genau wie jede andere zerstört werden. Hatte er sie damit zerstört?
Ein zentraler, aber gleichzeitig unglaublich verwirrter Teil von Valions Verstand protestierte vehement dagegen. Er empfand Liebe zu Marceus, aber sie war gleichzeitig völlig anders, und er empfand nicht so für ihn wie für Jan. Aber warum ließ er sich dann von ihm küssen, oder fühlte sich in seiner Nähe so wohl? Belog er sich selbst nur? Er wusste es nicht. Nichts ergab einen Sinn, und er konnte niemanden fragen, niemand trauen, nicht mehr. Nur Marceus, und der war anscheinend so verwirrt wie er selbst. Und seine Unsicherheit bewirkte nur, dass er sich noch mehr nach Jan sehnte. Er hätte mit ihm reden, ihm alles erklären, ihn um Verzeihung bitten müssen.
Valion hielt inne, weil er bei seiner ziellosen Suche das Ende des Lagers, oder besser, seinen Ausgangspunkt erreicht hatte. Er war anscheinend im Kreis gelaufen, hatte aber zumindest die niederen Sklaven durch Zufall umrundet, und er war froh darüber. Er wusste nicht, ob er ihren Spott jetzt ertragen konnte, das Starren der Diener und seine eigene Ziellosigkeit waren schlimm genug.
Stattdessen stand er nun vor dem Teil des Lagers, der von den Wachen bewohnt und organisiert wurde. Es war seltsam, aber obwohl die Diener, Pferdeknechte, Händler und Sklaven gemeinsam reisten, schienen sie dennoch innerhalb des Lagers ihre ganz eigenen Plätze zu besetzen. Eine Durchmischung gab es, aber sie schien weniger stark, als Valion bisher angenommen hatte. Jeder blieb unter sich, da machten die Wächter keine Ausnahme, auch wenn immer wieder Diener ihren Lagerplatz betraten, sich austauschten und verschwanden, Essen verteilten oder einfach nur Anweisungen weitergaben. Der Unterschied zum Rest des Lagers war subtil, aber alles wirkte kärger und ungemütlicher. Es gab generell wenig Müßiggang im Lager, aber die Wächter, die nicht unterwegs waren, schienen entweder in Schichten in ihren wenigen Zelten zu schlafen, hastig zu essen oder Waffen zu reinigen. Sie sprachen meist nur halblaut miteinander oder gaben sich nur Handzeichen, vermutlich eine Gewohnheit von der nächtlichen Wache. Dafür schienen sie umso schärfer zu beobachten. Und es brannten mehr Feuer. Sie wurden noch sorgsamer als anderswo im Lager aufrecht erhalten, vermutlich, damit sie auch nachts nach einer Patroullie eine aufgewärmte Mahlzeit und etwas Linderung für die kalten Füße bieten konnten.
Jetzt, am späten Nachmittag, waren nur wenige Wachen präsent, und Valion beschloss umzukehren. Er hatte zwar an Guy gesehen, dass nicht alle Wächter so unausstehlich waren wie Levin, aber sie schienen von den Sklaven noch weniger zu halten als die Diener, und Valion wollte nicht gerade jetzt an den Falschen geraten. Er konnte sich sowieso kaum vorstellen, dass Marceus ausgerechnet hier war. Wo auch immer er hin gegangen war, Valion hatte ihn entweder verfehlt oder übersehen.
Valion wandte sich ab und wollte zurück gehen, als er plötzlich Gelächter hörte und eine raue Stimme, die zum besten gab: „Und dann ist er nach hinten auf den Arsch gefallen! Den Schlag hat er nicht kommen sehen!” Das Johlen wurde noch lauter, und es übertönte fast Tarns ruhige Stimme, die gelassen antwortete: „Karvash kann nicht über die Dinge hinaus sehen.”
Ohne es zu wollen hielt Valion inne.
Tarn. Es war seltsam, seine Stimme in diesem Moment zu hören. Einerseits rief es all die Unsicherheit und Unentschlossenheit in ihm wach, die ihn schon den ganzen Tag verfolgt hatte. Valion war immer noch wütend, verletzt und misstrauisch. Trotzdem lauschte er plötzlich mit all seiner Aufmerksamkeit gebannt auf die Stimme, versucht, die Nuancen darin zu erkennen. Es war ein irrationaler Wunsch, aber er wollte Tarn sehen, wenn auch nur für einen Moment. Nur sicher gehen, dass er keine Verletzungen davon getragen hatte, auch wenn er ihm gleichzeitig die Pest an den Hals wünschte. Nur ein paar Worte wechseln, selbst wenn er nicht wusste, was er eigentlich damit erreichen wollte.
Valion gab sich einen Ruck. Wenn er wie angewurzelt stehen blieb würde gar nichts passieren, im schlimmsten Fall erregte er die Aufmerksamkeit eines gelangweilten Wächters und handelte sich Ärger ein. Es konnte nicht schaden, einen Blick zu riskieren, im Zweifelsfall würde er sich einfach aus dem Staub machen.
Kurz entschlossen ging er in die Richtung, aus der er die Stimmen gehört hatte, umrundete
eine Gruppe Zelte und sah drei Männer beieinander sitzen, anscheinend Wächter.
Zwei von ihnen waren verletzt, aber nicht schwer. Einer hatte einen bandagierten Fuß, sicher war er im Wald gestrauchelt, und der andere hatte sich vermutlich an einem Ast verletzt, denn ein tiefer, blutroter Kratzer zog sich schräg über seine Wange und dicht an seinem geröteten Auge vorbei. Tarn beugte sich gerade über ihn und versorgte ihn routiniert, während ein Dritter, vermutlich ein Freund der beiden, der gerade Pause hatte, sagte: „Ich begreif’ nicht, was der Idiot bei uns soll. Hat der in den drei Monaten irgendetwas zustande gebracht, außer ein paar Weiber flachzulegen?” „Er hat eine Hand voll Sklaven eingesammelt, das war’s”, antwortete der mit dem bandagierten Fuß, „Ist nicht besonders gut darin, die richtigen Leute zu finden.” Sein Freund grinste und dröhnte: „Der findet ja auch nichtmal seinen Hintern, ohne seine Hände zum Suchen zu benutzen.”
Die drei Wächter lachten, und Tarn lächelte lautlos, aber nichts durchbrach in diesem Moment seine Konzentration, und Valions Mundwinkel zuckten ebenfalls nach oben. Nicht wegen des derben Scherzes, vor allem da er nicht wusste, auf wessen Kosten er eigentlich ging, sondern weil es typisch für Tarn war, sich nicht ablenken zu lassen. Er stellte seine Pflicht vor alles andere, auch jetzt.
Er sah wacher aus, stellte Valion fest, nachdem er einen Moment in seinem Gesicht geforscht hatte. Ausgeruhter, und auch gelassener, als hätte sich zumindest eine seiner tausend Sorgen für einen Moment verflüchtigt. Zuerst erfüllte es Valion mit Erleichterung, aber sie wurde gleich darauf durch Wut ersetzt. Tarn sah nicht gerade aus, als würde er sich Vorwürfe über das machen, was geschehen war, und das war eine bittere Erkenntnis. Im Gegenteil, er hatte anscheinend reinen Gewissens schlafen können und konnte jetzt sogar Witze mit den drei Idioten reißen, um die er sich kümmern musste.
Valion wollte umdrehen und verschwinden. Sein Wunsch Tarn zu sehen hatte vielleicht für eine Sekunde seine Zweifel übertrumpft, aber das war vorbei. Die Wut und Enttäuschung waren mit einem Schlag zurück gekehrt, und hätte er jetzt mit ihm sprechen müssen, hätte er vermutlich nur Vorwürfe gehabt.
Dummerweise entdeckten die Wächter ihn genau in diesem Moment. Sie wechselten einen Blick, der nichts Gutes bedeuten konnte. „Wen haben wir denn da?”, grollte der mit dem bandagierten Fuß, und seine Freunde schienen wundersamer Weise klug genug, eine rhetorische Frage zu erkennen, wenn sie gestellt wurde. „Hast du vor, ein bisschen Ärger zu machen wie gestern?”, fuhr er drohend fort, „Ich könnte dir den Knöchel brechen, käme mir bisschen wie Gerechtigkeit vor!”
Erst jetzt, als Tarn die Worte mit den Ereignissen des vergangenen Tages in Verbindung brachte, wandte er sich erstaunt um, sah Valion, und ihre Blicke trafen sich.
Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass sie sich jetzt und hier begegneten, so viel stand fest. Er war nicht nur simpel überrascht, sondern zu Valions Erstaunen wirkte er im ersten Moment regelrecht verunsichert, als wüsste er nicht, was er aus der Situation machen sollte. Das war neu für Valion, und er fragte sich abwesend, ob Tarn die meiste Zeit so ruhig und gefasst wirkte, weil er sich darauf vorbereitete, was er sagen und wie er auf andere reagieren sollte. Der Gedanke weckte unerwartete Sympathie in ihm, und er musste sie energisch abwehren und sich zwingen, seine Wut wach zu halten.
Tarn schien eine Entscheidung zu treffen, denn er winkte ihn jetzt heran und gebot gleichzeitig den Wächtern mit einer Handbewegung, Valion gewähren zu lassen. Obwohl jeder der Wächter aussah als könnte er sowohl Valion als auch Tarn ungespitzt in den Boden rammen, verstummten sie einhellig und erlaubten sich keine weiteren dummen Sprüche. Stattdessen beobachteten sie stumm, wie Valion zögernd näher kam.
Dass er nicht umdrehte und einfach verschwand kostete ihn Überwindung, aber dennoch gehorchte er. Welche Macht Tarn auch über die Wächter hatte, dass er ihnen einfach gebieten konnte zu Schweigen, sie wirkte auch auf ihn, und es ärgerte ihn. Er hätte gehen sollen, egal wohin, nur weg. Stattdessen verschränkte er unbewusst die Arme und blieb ein paar Schritte entfernt, außerhalb der Reichweite der Wächter, stehen.
Tarn registrierte seinen Unwillen, das konnte Valion in seinen Augen sehen, aber er ging kommentarlos darüber hinweg und fragte stattdessen neutral: „Was machst du hier? Suchst du jemand?” „Ich habe Marceus im Gedränge verloren”, antwortete Valion trocken und bemühte sich, genau so emotionslos zu sein. Er würde sich nicht die Blöße geben seinen Ärger zu zeigen, erst Recht nicht vor Publikum. Tarn nickte und antwortete ruhig: „Ich habe ihn hier nicht gesehen.” Bevor Valion nicken und einfach verschwinden konnte, fuhr er fort: „Hast du Verletzungen von gestern, die ich mir ansehen muss? Schnitte, Kratzer?”
Es war eine versteckte, aber für Valion deutliche Botschaft. Wir können reden, wenn du willst. Nur, dass sich alles in Valion dagegen sperrte, sich ausgerechnet jetzt mit ihm zu unterhalten. „Nichts, das nicht von allein heilt. Ich komme zurecht”, antwortete er kalt, und diesmal konnte er seine Wut nicht ganz aus seiner Stimme halten. Tarn verstand, aber er schickte Valion auch einen warnenden Blick, dass er ihr vorgespieltes Gespräch nicht zu sehr ausreizen sollte. Dennoch ging er auf seine Worte ein und fragte noch einmal: „Bist du sicher? Soll ich mir wenigstens deinen Rücken noch einmal ansehen?” Valion zuckte mit den Schultern, zum Beweis, dass es seiner Schulter gut ging, auch wenn die Belohnung dafür stechender Schmerz war. „Nein, brauche ich nicht.”
Und damit geriet das Gespräch ins Stocken. Valion suchte nach einem guten Grund, sich aus dem Staub zu machen, aber stattdessen fielen seine Augen auf die blauen Flecken an Tarns Armen, wo er die Hemdsärmel hoch gekrempelt hatte. Plötzlich hatte er bildlich vor Augen, wie er mit ihm gerungen hatte, um Jan zu Hilfe zu kommen. Hatte er ihn am Ende verletzt?
„Was ist eigentlich damit?”, fragte er unsicher, doch diesmal war es Tarn, der seine Besorgnis abschmetterte und gleichgültig mit den Achseln zuckte. „Das? Ein Zusammenstoß mit einem Rebellen. Es war in vielerlei Hinsicht eine anstrengende Nacht.” Der Vorwurf klang scharf heraus, und Valion presste die Lippen zusammen. Schön, wenn er das so sah. „Dann ist es nicht meine Schuld?”, fragte Valion ihn grob, und als Tarn mit dem Kopf schüttelte, sagte er: „Gut, dann schulde ich dir auch nichts.”
Er war sich bewusst, dass die drei Wächter, die die ganze Zeit stumm geblieben waren, ihrem Dialog lauschten. Sie sahen zwischen ihnen hin und her, als würden sie einen Fechtkampf verfolgen, und in gewissem Sinne war es auch ein Duell. Wer von ihnen beiden konnte gleichgültiger und desinteressierter wirken? Valion lag definitiv in Führung. „Ich muss wirklich weiter”, sagte er steif, und Tarn versuchte ein letztes Mal, ihn zu einem Gespräch zu überreden. „Soll ich dir bei der Suche helfen? Das ist immerhin das erste Mal, dass du dich allein hier zurecht finden musst”, bot er an. Er warf einen forschenden Blick in Valions Gesicht, und Valion spürte, wie er die Verbindung suchte, die sie vor kurzem noch zueinander gehabt hatten. Und für einen Moment wollte er nachgeben.
Er konnte Tarn nicht hassen, egal was geschehen war, und er wollte nicht mehr wütend auf ihn sein. Je länger er seinen Zorn aufrecht erhielt, ohne wenigstens seine Seite angehört zu haben, desto weniger fühlte er sich wie er selbst. Und Tarn wollte mit ihm reden, er bot es ihm völlig offen an. Vielleicht wollte er sich entschuldigen, oder eine Erklärung liefern, aber egal was er sagte, Valion hätte wenigstens eine Entscheidung treffen können, wie er sich damit fühlte. Jetzt wusste er nichts, und das würde sich auch nicht ändern, wenn er sich völlig zurückzog.
Aber dann verbot er sich, darauf einzugehen. Warum hätte er Tarn jetzt nachgegeben? Nicht, weil es der richtige Zeitpunkt zum Reden war, sondern weil er sich verloren fühlte und allein, verwirrt und auf der Suche nach jemand, mit dem er reden konnte. Er würde über alles hinweggehen, ohne jemals die Wahrheit erfahren zu haben, nur, um seine heile Welt wieder her zu stellen, und damit betrog er sich nur selbst.
Er setzte zu einer Antwort an, doch Tarn verstand schon bevor Valion seine Gedanken aussprach, was er sagen wollte, und er schüttelte nachsichtig den Kopf: „Nein, vergiss es, du wirst damit schon allein fertig.” „Richtig”, stimmte Valion zu, aber es war gerade diese Einsicht, die Tatsache dass Tarn einfach nachgab, die ihn noch mehr dazu verführte ebenfalls nachzugeben.
Plötzlich wollte er nur noch weg. Er musste gehen, bevor er seinen Gefühlen folgte statt seinem Verstand. Er trat einen Schritt zurück, unsicher, ob er noch etwas sagen sollte, aber dann riss er sich los, wandte sich um, und ohne noch einmal zurück zu sehen ging er in die Richtung, in der er sein Quartier vermutete.
Eigentlich hatte Valion vor, auf direktem Weg zurück zu kehren. Die Sonne begann dem Horizont entgegen zu sinken, und obwohl er noch etwas Zeit hatte bevor er endgültig zurück sein musste, wollte er nichts riskieren, auch wenn das bedeutete, dass er die Suche nach Marceus aufgeben musste. Niemand traute ihm hier, das spürte er deutlich, und wenn er auch nur eine Andeutung von Widerstand gegen seine neuen Regeln zeigte, würde man ihn vermutlich gewaltsam zurück bringen. Wäre es nur um die Wachen gegangen, hätte er sich vielleicht ein Beispiel an Jan genommen, aber wenn er sich auflehnte würde er wieder zu Eravier gebracht werden, und das wollte er auf keinen Fall.
Doch seine Rückkehr gestaltete sich schwieriger, als er gedacht hatte. Es war paradox, aber im Wald, auf freier Fläche, mit dem Rauschen des Flusses als einzigen Bezugspunkt, war ihm die Orientierung leicht gefallen. Im Gedränge der Diener, umgeben von tausenden von Geräuschen, versagte dieser Richtungssinn völlig. Es gab zu viel, das ihn immer wieder ablenkte, Gespräche, Gerüche, laute Rufe. Und ständig stand ihm etwas im Weg, um das er sich mühsam herum schieben musste.
Dennoch hatte er das Gefühl, seinem Ziel zumindest langsam näher zu kommen, als er etwas am Rand seines Sichtfeldes bemerkte, das ihn innehalten ließ. Es gab Weniges, das sich bisher in seine Erinnerung eingeprägt hatte im Lager, aber das gedrungene und massive Äußere des Pestwagens war ihm im Gedächtnis geblieben. Und plötzlich wusste er, wozu er seine neugewonnene Freiheit nutzen musste, bevor es zu spät war.
Es war nicht einfach, sich dem Wagen unauffällig zu nähern, vor allem, weil Valions Bewegungen von allen Seiten beobachtet wurde. Letztendlich gelang es ihm nur, indem er an einer weniger beobachteten Stelle mehrere Meter entfernt hinter einem völlig anderen Wagen verschwand und sich unauffällig am Rand des Lagers entlang bewegte. Er wartete, bis ein patroullierender Wächter ihn umrundet hatte und schlich dann weiter. Es kam ihm selbst albern vor, weil er eigentlich nichts Verbotenes tat. Noch nicht.
Schließlich erreichte er den Wagen und die Lichtung am Rande des Waldes. Es war niemand hier, denn natürlich war der Pestwagen jetzt leer, und ohne seine Gefangenen gab es hier nichts mehr zu tun.
Langsam, mit seltsam wackeligen Beinen, ging er vorran. Seine Augen schweiften über die Büsche und Bäume, die den kleinen Platz einrahmten, über die Reste des Feuers, das hier gestern noch gebrannt hatte, die ausgetretenen Pfade im Gras. Ein Schwarm kleiner Vögel, der einen der Büsche am Rande der Lichtung für sich erobert hatte, flog ärgerlich zwitschernd auf und verschwand im Wald, und ein aufgeschrecktes Eichhörnchen suchte ebenfalls das Weite. Es unterstrich nur, wie verlassen jetzt alles da lag. Für kurze Zeit war dieser Ort das Zentrum von Aktivität gewesen, und Valion erkannte, dass er allein dadurch jetzt noch einsamer wirkte, dass alles was sich hier befunden hatte fortgeschafft worden war. Die Spuren der Diener, die alles auf- und abgebaut hatten, und der Wächter, die sich für die Suche nach Jan und Valion hier gruppiert haben mussten, verblassten nur langsam und hinterließen dennoch eine geisterhafte Erinnerung daran, was geschehen war.
Valion fühlte sich wie in einem Traum. Er wusste, dass er erst vor einem Tag hier gewesen war, aber es kam ihm vor wie ein Jahr, oder ein Jahrhundert. Das Gefühl der Unwirklichkeit wurde noch dadurch verstärkt, dass die Sonne gerade im richtigen Winkel stand und die Erinnerung noch unmittelbarer machte.
Er ging an die Seite des Wagens, von der auch seine Fesseln verschwunden waren, und abwesend, ohne es selbst wahrzunehmen, rieb er sich die Handgelenke, die immer noch die Zeichen seiner Gefangenschaft trugen. Er fand die Stelle, an der er mit Jan gesessen hatte wieder. Hier hatte er ängstlich darauf gewartet was geschehen würde, und das erste Mal Jans Hand gehalten. Hatte neben ihm gesessen, nur Zentimeter entfernt. Sie hatten sich in den letzten Tagen so viel erzählt, und trotzdem noch nichts voneinander gewusst. Valions Herz schlug wieder bis zum Hals, genau wie gestern. Er kniete sich an die Stelle, wo sie sich geküsst hatten; wo sie sich zum ersten Mal wirklich nahe gekommen waren. Er legte seine Hand auf den Boden, als könnte er ein Echo von Jan finden, einen Nachhall davon, dass er hier gewesen war.
Nichts. Die Erde war feucht und kalt.
Du bist nicht deswegen hier, versuchte er sich abzulenken, aber er brachte es kaum fertig sich loszureißen. Er wollte zurück. Zurück zu diesem Punkt, an dem Jan bei ihm gewesen war, an dem er sich sicher gewesen war, dass Tarn auf seiner Seite stand und Marceus nur ein Freund war. Hätte er die Zeit zurück drehen können, egal wie, er hätte es getan. Warum wurde seine Welt immer düsterer? Warum verlor er einfach alles Gute, selbst wenn er es nur für einen flüchtigen Moment besessen hatte? Wütend grub er seine Hand in die lose Erde, ballte sie zu einer Faust. In diesem Moment schwor er sich, dass er alles zurück holen würde. Alles, was ihm zu stand. Seine Familie, seine Freunde, Jan, er würde all das niemals aufgeben. Und hier fing er damit an.
Zornig richtete er sich auf und ging den kurzen Weg zurück zum Ende des Wagens und betrat ihn.
Auch das Innere war so, wie er es in Erinnerung hatte, aber seine Sachen waren natürlich nicht mehr hier. Zumindest die, die er nicht versteckt hatte. Als erstes suchte er die Nische, in der er den Spiegel verborgen hatte. Er fand sie erstaunlich schnell wieder, und mit nicht wenig Mühe brachte er den Spiegelrahmen in einem Stück wieder hervor. Auch die restlichen Scherben, die er sorgfältig verborgen hatte, fand er wieder, obwohl er sich einen Moment fragte, ob es taktisch klug war sie mitzunehmen. Aber ob sie nun hier gefunden wurden oder in seiner Reichweite war im Grunde unerheblich - die Wächter und vor allem Eravier würden die Glassplitter ab jetzt immer mit ihm und Jan in Verbindung bringen, und entsorgen wollte er sie auch nicht. Er schob sie unter den Stoff, der den zerbrochenen Spiegel umhüllte, und behielt das Bündel in der Hand. Eingewickelt sah es ungefährlich aus, kein Reflex oder Schimmern verriet, was er bei sich trug.
Hastig verließ er den Wagen, bevor jemand auf die Idee kam nach zu forschen, wo er sich herum trieb. Die Sonne sank dem Horizont immer weiter entgegen, und bald würde jemand überprüfen, ob er sich an die Regeln hielt. Er musste umkehren.
Valion sprang hinaus, umrundete ohne zu zögern den Wagen und wollte schon das Weite suchen, als er doch innehielt. Neben ihm, am anderen Ende des Wagens, war die Tür eingelassen, die zu Jans Zelle führte.
Er hatte das Innere nie gesehen, das wurde ihm jetzt bewusst. Zögernd streckte er die Hand aus, und entgegen seiner Erwartung war die Tür unverschlossen. Er wusste nicht, was er zu finden hoffte, aber trotzdem trat er in die kleine, düstere Zelle.
Es war unmenschlich. Er konnte nicht einmal die Arme ausstrecken, ohne dass seine Ellenbogen an die Wände um ihn anstießen. Es gab noch weniger Licht als auf der anderen Seite der Trennwand, wo er selbst gehaust hatte. Eine Pritsche zum Schlafen, aus rohem Holz gezimmert, war alles, was den winzigen Raum füllte.
Es roch nach Krankheit, schal und abgestanden, und es schien nicht genug Luft zu geben. Das hier war das Schlimmste, was Valion sich vorstellen konnte, und das Wissen, dass Jan hier Tage, vielleicht Wochen verbracht hatte, krank und allein, schürte seine Wut nur noch mehr. Er ließ sich auf der knarrenden Pritsche nieder, auf der Jan so lange gelegen hatte, und ohne zu zögern zog er die Füße nach und legte sich hin. Es war hart und unbequem. Jan hatte vermutlich eine Decke gehabt, die inzwischen schon entfernt worden war, aber das half auch nicht viel. Er war hier völlig allein gewesen, ohne Kontakt, bis auf eine Stimme, die von der anderen Seite der Trennwand zu ihm sprach. Wie einsam musste er gewesen sein? Wie viel Zeit hatte er gehabt um hier zu liegen und all seine Entscheidungen zu bereuen, die ihn hierher geführt hatten?
Valion schreckte auf, als die Tür hinter ihm leise zu fiel. Es gab kein Schloss, das einrasten konnte, aber die Zelle war nun derartig dunkel, dass die trüben Lichtstrahlen, die durch die oben in die Wände eingelassenen Gitter fielen die hellste Lichtquelle waren.
Nein, ganz stimmte das nicht. Es fiel auch Licht durch die Trennwand, in den Gittern nahe der Decke, und an einer Stelle, an der die Holzbohlen auseinander klafften. Als wäre es ein zufälliger Makel in der Konstruktion…
Valion richtete sich ruckartig auf. Er erinnerte sich daran, wie er selbst die Plane mit seinen Scherben zerfetzt hatte und sorgfältig darauf geachtet hatte, alles wie Zufall aussehen zu lassen. Aber in Gefangenschaft gab es viel weniger Zufälle und viel mehr hastig vertuschten Widerstand. Er stand auf und tastete mit den Händen den Spalt ab. Das Holz war splittrig, und er hatte keine Ahnung, was er eigentlich suchte, aber davon ließ er sich nicht abhalten. Seine Hände trafen auf etwas kaltes, metallisches, und er zog es heraus.
Es war nicht klar, was er da in den Händen hielt, vor allem nicht was es einmal gewesen war. Vielleicht ein Löffel. Es war nur ein Streifen Metall, geschliffen und verbogen in die Form einer hohlen Nadel oder eines spitzen Keils. Spitz genug um jemand zu verletzen. Valion war nicht der einzige gewesen, der sich eine Waffe besorgt hatte - Jan hatte ebenso vorgesorgt wie er, vermutlich schon viel eher. Und wenn Valion richtig schätzte, hatte er versucht mit seinem Werkzeug eine Verbindung zu ihm herzustellen. Vielleicht aus Langeweile, oder Neugier.
Valion näherte sich dem Spalt und sah hindurch. Schemenhaft, dunkel, konnte er die andere Seite erkennen, aber es war mühsam, und seine Augen begannen zu schmerzen, als er versuchte mehr als nur Umrisse zu erkennen. Aber manches ergab auch Sinn. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, du hättest dunkle Haare. Daher kam also Jans Fehleinschätzung. Er hatte Valion immer nur im Halbschatten gesehen. Und er hatte wieder einmal gelogen. Er hatte längst gewusst, wie Valion aussah, als er selbst noch im Dunklen tappte.
Eine Sekunde ärgerte er sich darüber, doch dann wurde ihm klar, dass er diesen Spalt mit der Reichweite seiner Kette niemals hätte nutzen können. Vielleicht hatte Jan ein schemenhaftes Bild von ihm erhascht, aber er selbst hätte ihn so oder so nie zu Gesicht bekommen.
Insgesamt war seine Entdeckung eher enttäuschend. Er hatte vage gehofft, mehr zu finden als nur die verlassene Zelle, auch wenn er nicht wusste, was dieses mehr eigentlich sein sollte. Etwas, das ihn an Jan erinnerte. Das ihm mehr darüber verriet, was er gedacht hatte, wie er sich gefühlt hatte. Irgendetwas, das Valion half ihm nahe zu sein.
Er zog sich von dem Spalt zurück und wollte schon gehen; er hatte alles gesehen, was es hier zu sehen gab, und Jans improvisiertes Werkzeug steckte er sorgfältig zu den Scherben in sein Bündel. Er konnte es Jan später geben, wenn das alles vorbei war, und vielleicht würde er darüber sogar lachen.
Das Licht, das durch den Spalt fiel, war erstaunlich intensiv, jetzt, da das Metallwerkzeug den Strahl nicht mehr blockierte. Vielleicht war das also auch ein Versuch gewesen, etwas mehr Licht in die Dunkelheit der Zelle zu bringen. Um die Mittagszeit musste der Spalt eine passable Lichtquelle abgegeben haben.
Um was zu tun, fragte Valion sich plötzlich. Er folgte dem Licht mit den Augen und zuckte reflexartig zurück, als er plötzlich meinte ein Gesicht zu sehen. Er blinzelte irritiert, und erst verschwand das Bild, nur um dann wieder klarer hervor zu treten. Es waren Linien. Eingravierte Linien im Holz.
Plötzlich wurde ihm klar, wofür Jan das Licht verwendet hatte. Hier war das was er gesucht hatte, was er verzweifelt zu finden gehofft hatte. Mit zwei Schritten war er bei der groben Holztür, und er musste sich dazu zwingen, sie langsam zu öffnen, um ja niemand aufzuscheuchen. Schnell verkeilte er sie notdürftig mit seinem Bündel, damit sie nicht wieder zu fiel. Danach ging er zurück zu der Stelle, die der Spalt beleuchtet hatte. Das Licht vom Eingang überstrahlte alles, und er hatte Mühe, im Schlaglicht die Maserung des Holzes von Gravuren zu unterscheiden, aber schließlich fand er die Stelle wieder. Es waren die Augen. Sie stachen am deutlichsten hervor.
Er ließ sich auf die Knie sinken und betrachtete Jans Werk. Es waren Zeilen eingravierter Text, und Valion verfluchte die Tatsache, dass er nicht lesen konnte. Er würde irgendjemand finden müssen, der ihm die Worte vorlesen konnte, und dann würde er ihn zerstören müssen, zusammen mit dem, was Jan hinzugefügt hatte. Bis dahin musste er sich mit dem Rest zufrieden geben.
Es war ein Portrait, aber Valion war nicht sicher, ob er es erkannte. Am deutlichsten waren die Augen, obwohl sie dunkler wirkten, als sie in Wirklichkeit waren. Dunkler, und erwachsener. Eigentlich stimmte alles, und trotzdem wirkte alles… nicht wie er selbst. Jan hatte eine Gravur von ihm angefertigt. Er erkannte sich selbst darin, die Nase, die Lippen. Natürlich war es vereinfacht, nur Umrisse, aber sie waren gleichzeitig seltsam lebensecht. Und es musste lange gedauert haben, sie anzufertigen. Tage. Er musste vom ersten Tag an damit begonnen haben, immer wieder zurück gekehrt sein, um ihn zu betrachten. Es richtig zu machen.
Du bist das einzig Gute, was mir jemals passiert ist, weißt du das?
Was hatte Jan gedacht, als er Valion das erste Mal gesehen hatte? Valion erinnerte sich, wie fasziniert, wie eingenommen er selbst von Jans Erscheinung gewesen war, ohne zu wissen, wen er sah. Er konnte ihm kaum vorwerfen, oberflächlich zu sein, wenn er sich doch selbst auf den ersten Blick verliebt hatte. Und vielleicht war das der Grund, warum Jan so heftig an allem gezweifelt hatte. Es war zu schön um wahr zu sein, oder? Sich auf diese Weise zu finden und sofort zu wissen, dass es richtig war. Zu märchenhaft, als dass es tatsächlich geschehen konnte. Und dennoch…
War es dann wirklich so unmöglich, dass sie wieder zusammen fanden? Dass sie irgendwie einen Weg fanden aus dieser ganzen Hölle, um am Ende frei zu sein? Nein. Wenn er gerade hier, unter all den Umständen, jemand wie Jan finden konnte, dann war das nicht nur ein ferner Traum. Er musste es nur wahr machen.
Er legte die Hand auf die Worte, die Jan graviert hatte, und sie sprachen zu ihm, auch ohne dass er sie lesen konnte. Und obwohl er Jan unglaublich vermisste, obwohl er nicht wusste, wie es weitergehen würde, richtete er sich innerlich wieder auf. Keine Angst. Ich werde nicht das letzte Gute sein, das dir widerfahren ist.
Als er den Pestwagen verließ, war die Sonne ein roter Feuerball am Horizont, und die Wolken getaucht in Schattierungen von rosa und violett. Valion betrachtete sie, während er langsam, nachdenklich, den Weg zurück ging. Er beachtete die Blicke die ihm folgten nicht, aber zum Glück schien sein Anblick an Neuheitswert zu verlieren, und die Geschäftigkeit ließ an diesem toten Punkt des Tages auch spürbar nach.
Es gab immer noch viel zu tun, aber jetzt aßen die Diener hastig das, was sie aus der Versorgung des Lagers für sich abzweigten, bevor die Wächter, die Sklaven und die Menschenhändler an die Reihe kamen, und sie dachten nicht daran, auch diese Ruhepause der Arbeit zu opfern. Sie saßen und standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich lauter oder leiser, je nach Temperament oder Stellung, ihre Untergebenen manchmal stumm in ihrem Windschatten und auf weitere Anweisungen wartend. Je länger Valion sie beobachtete, desto klarer wurde ihm, wie hierarchisch im Grunde alles aufgebaut war, und fast unbewusst begann er, zu beobachten und seine eigenen Schlüsse zu ziehen.
Beispielsweise bemerkte er, dass es Ausnahmen für die Ruhepause gab. Sie betraf vor allem die niedersten Diener, die jungen Küchenmädchen und die Dienerinnen der Sklavenhändler. Jetzt, da das Lager so ruhig war, fielen sie besonders auf, da sie immer noch geschäftig hin und her huschten und dieses oder jenes vorbereiteten, oder ihren Herrinnen, den Frauen der Sklavenhändler, behilflich waren sich für das Abendessen frisch zu machen und sowohl Wasser als auch gewaschene Kleidung mit sich trugen.
Sie waren alle jung, und sie schienen beinahe unsichtbar für die Menschen um sie herum. Niemand ging ihnen aus dem Weg oder half ihnen bei ihren Aufgaben, und im Gegenzug waren sie sehr geschickt darin, sich durch winzige Lücken zwischen Wagen oder Menschengruppen zu manövrieren und ja niemand im Weg zu stehen.
Valion wünschte sich, so unsichtbar sein zu können. Früher, als Kind, hatte er dieses Gefühl auch von Zeit zu Zeit gespürt und manchmal genossen, manchmal aber auch verabscheut. Wenn die Arbeit besonders schwer war und die Tage sehr lang, hatten seine Elternanchmal wochenlang keine Zeit gefunden sich auch nur eine Minute mit ihm zu beschäftigen. Aber ganz selten, in den langen Sommertagen, hatte er halbe Tage unbeschwert irgendwo verträumt ohne dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Manchmal war er völlig allein gewesen, manchmal mit Freunden unterwegs, aber er hatte sich immer frei gefühlt, unbeobachtet und ohne Zwang. Er wünschte sich diese Ruhe herbei. Alles war besser, als den ganzen Tag von allen Seiten angestarrt zu werden.
Er fragte sich, wie Anya damit fertig wurde, falls es sie überhaupt kümmerte. Langsam bezweifelte er, dass sie überhaupt so etwas wie ein Gewissen hatte. Warum machte sie es ihm immer so schwer? Es gab überhaupt keinen Grund für sie, ihn immer wieder derartig vorzuführen, und jetzt übertrug sie ihre Abenigung ihm gegenüber auch noch auf Marceus. Er war nicht begeistert von der Aussicht, den Rest des Abends in ihrer Nähe verbringen zu müssen. Er spürte in sich nach, wie er sich fühlte, aber während seiner planlosen Suche nach Marceus und seinem Abstecher war seine Wut auf sie größtenteils verraucht, und das war besser so. Er wusste nicht, wie er auf ihre Feindseligkeit reagieren würde, wenn er wirklich wütend war, und er wollte es auch nicht herausfinden. Etwas an ihr faszinierte ihn, aber gleichzeitig stieß sie ihn auch ab, und es wurde nicht besser dadurch, dass sie ihn wo sie konnte mit Häme überschüttete. Fest stand, dass er Marceus nicht mehr hierher kommen lassen wollte, am besten trafen die sich irgendwo anders. Vielleicht konnte Valion selbst zu den Pferden gehen und ihn dort erwischen. Und Anya würde er den Rest der Zeit einfach aus dem Weg gehen müssen.
Was sich schwieriger gestaltete als er dachte. Er bog um eine Ecke und war endlich wieder an seinem Quartier angelangt, und hatte doch keine Zeit, sich darüber zu freuen. Reflexartig drehte er wieder um und verschwand hinter der nächsten Deckung, dem nächst gelegenen Wagen, denn sowohl Anya als Jadzia standen vor dem Eingang des Quartiers. Und sie waren nicht allein - ausgerechnet Jefrem unterhielt sich mit ihnen. Es sah nicht nach einem Streit aus, im Gegenteil. Er wirkte ruhig und sachlich, und sie schienen irgendetwas äußerst konzentriert zu besprechen.
Valion war vom ersten Moment an misstrauisch, und es half auch nichts, dass Marceus ihm erst vor kurzem versichert hatte, dass Jefrem unabhängig war. Er hatte sich immerhin von Tarn täuschen lassen, also war es nicht unwahrscheinlich, dass er nicht wusste, auf welcher Seite Jefrem wirklich stand. Dass er hier war und ausgerechnet mit Anya und Jadzia sprach ergab keinen Sinn. Sie hatten nichts miteinander zu schaffen, es wäre wahrscheinlicher gewesen, dass sie sich außer vom Sehen gar nicht kannten. Dazu kam, dass Anya, völlig untypisch für sie, nicht daran dachte zu flirten, sondern konzentriert und ernst auf Jefrems Worte lauschte.
Was planten sie? Valion überlegte, was er tun sollte, aber schleichend kehrte auch seine Wut zurück. Warum sollte er eigentlich hier stehen und aus der Ferne beobachten, was sie taten? Er würde gehen und sie konfrontieren, und eine Antwort bekommen.
Valion wollte sich gerade einen Ruck geben und auf die beiden zugehen, als ihn plötzlich eine Hand zaghaft, kaum spürbar, an der Schulter berührte.
Er zuckte zusammen und drehte sich heftiger um, als er beabsichtigt hatte, und das Mädchen, das hinter ihm gestanden hatte, trat hastig einen Schritt zurück und hob die Arme zum Zeichen, dass sie ihm nichts Böses wollte. Sie hatte einen Eimer Wasser neben sich und trug in der einen Hand eine Schale, vermutlich für Waschwasser, die sie jetzt neben sich abstellte und ihn verlegen anlächelte.
„Du hast mich erschreckt”, platzte es aus Valion heraus, und sie nickte versöhnlich, aber obwohl er sie erwartungsvoll ansah, sprach sie kein Wort. Sie hob die Hände, deutete auf seine Schultern, und als er sich betrachtete erkannte er, worauf sie ihn hinwies: Beim Liegen auf Jans Pritsche hatte sich Schmutz auf seiner Kleidung abgesetzt. Sie schien eine der Dienerinnen zu sein, die für die Menschenhändlerinnen arbeitete, und ihr Pflichtgefühl gebot ihr wohl, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Garderobe nicht in Ordnung war.
Für einen Moment wollte er sie rüde wegschicken, aber dann riss er sich zusammen. Er warf einen Blick in Richtung des Quartiers, wo Anya, Jadzia und Jefrem immer noch miteinander sprachen. Sie würden sich nicht so schnell vom Fleck bewegen. Und dieses Mädchen tat einfach nur ihre Pflicht, sie meinte es gut und lächelte ihn schüchtern an. Wozu hätte er sie jetzt verunsichert?
„Du hast Recht”, sagte er, und sie nickte lächelnd, hob die Hände, bedeutete ihm, dass er sich umdrehen sollte, aber sie sprach immer noch kein Wort. Endlich wurde ihm klar, dass sie stumm sein musste, aber da sie ihn nicht darauf hingewiesen hatte, hatte er sie zuerst einfach für schüchtern gehalten. Pflichtschuldig drehte er sich um, und sie klopfte ihm hilfsbereit den Staub von den Schultern und vom Rücken, bedeutete ihm dann mit einer weiteren Schulterberührung, dass er sich umdrehen sollte, und glättete sein Haar.
Er betrachtete sie, während sie fürsorglich seine Erscheinung in Ordnung brachte. Sie hatte dunkle, fast schwarze Augen, eine breite runde Stupsnase und stark gelocktes dunkles Haar, das sich in einer schlichten Flechtfrisur um ihren Kopf schmiegte, und ihre Haut war kräftig braun, aber längst nicht so dunkel wie Jadzias. Ihr Gesicht wirkte ein wenig kantig und herb, vielleicht wegen ihrer dichten dunklen Augenbrauen, aber das Lächeln, das auf ihren schmalen Lippen lag milderte diesen Eindruck. Er wusste nicht warum, aber er hatte vom ersten Moment an das Gefühl, sie zu kennen, obwohl er nicht den Finger darauf legen konnte, woher oder an wen sie ihn erinnerte, wenn es nur eine Ähnlichkeit war. Es musste jemand sein, den er mochte, weil sie ein Gefühl von Geborgenheit in ihm auslöste, und obwohl sie ihm gerade sehr nahe kam, fühlte er sich überhaupt nicht unbehaglich.
Mit einer letzten, schwungvollen Handbewegung schob sie eine Haarsträhne in Position und nickte überzeugt. Perfekt, sagte sie mit einer Handgeste, und er musste lächeln. „Richtest du öfter das Aussehen von dahergelaufenen Sklaven?”, fragte er, und sie schüttelte den Kopf und zwinkerte ihm zu, deutete auf ihn. Das habe ich nur für dich getan. „Ich habe dich hier noch nie gesehen, aber du kommst mir bekannt vor”, versuchte er hinter das Mysterium ihrer Erscheinung zu kommen, und sie zuckte nur mit den Schultern, deutete auf den Eimer und die Schale, nickte in die Richtung, die sie einschlagen musste. Ich muss weiter. „Na gut”, sagte Valion enttäuscht, und beobachtete, wie sie weiter trabte.
Als sie ein paar Schritte entfernt war wandte er sich um, richtete den Blick zurück auf sein Quartier.
Niemand stand dort.
Plötzlich wurde ihm einiges klar, und so schnell er konnte sah er zurück in die Richtung, in die das Mädchen gegangen war. Natürlich war sie ebenfalls verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und plötzlich bildete sich eine Wut nie gekannten Ausmaßes in seinem Inneren.
Man spielte mit ihm, die ganze Zeit über.
Reiß dich zusammen, versuchte er sich zu beruhigen und ballte die Fäuste, es war nicht alles umsonst. Du hast immer noch…
Er hatte nicht. Er bemerkte es erst jetzt. Wie hatte er nur so dumm sein können? Seine Hände waren völlig leer. Kein Bündel, kein Spiegelrahmen. Nichts. Und die Wut in seinem Inneren wurde zu einem brüllenden Orkan.
Anya bürstete ihr Haar, wie an jedem Abend. Es nahm viel Zeit in Anspruch, die Knoten zu entwirren, die sich den Tag über gebildet hatten, alles zu ihrer Zufriedenheit zu glätten und für die Nacht zu flechten.
Sie bemerkte zunächst überhaupt nicht, dass jemand hinter ihr stand, und als sie ihn aus den Augenwinkeln bemerkte, dachte sie zuerst nicht an Valion. Es lag an den Augen. Sie kannte nur einen, dessen Augen so derartig kalt und mitleidlos waren.
„Ansin, was verschlägt dich-”, begann sie, und hielt inne, als ihr Blick auf Valion fiel. Er starrte sie an, die Fäuste geballt, und für einen Moment bekam sie es mit der Angst zu tun. Aber dann erinnerte sie sich, wer vor ihr stand. Valion hatte sie vor wenigen Stunden nur sanft beiseite geschoben, als er enttäuscht und wütend war. Jetzt sah er sehr, sehr wütend aus, aber wer wusste schon, woran das lag?
„Ach, du bist es. Was willst du?”, fragte sie schlicht. Seine Antwort war nur stilles Starren, und plötzlich begann ihr Herz hektisch zu schlagen, und ihre Hände verkrampften sich um den Stiel der Haarbürste. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung, und jeder ihrer Instinkte schrie sie an, jetzt nichts Falsches zu sagen, und das ergab überhaupt keinen Sinn. Es ist nur Valion, versuchte sie sich einzureden, aber er sah in diesem Moment nicht aus wie er selbst. Er klang nicht nichtmal wie er selbst, als er drohend fragte: „Was hattet ihr mit Jefrem zu besprechen?” Für einen Moment wollte sie antworten, aus Angst, was er tun würde, wenn sie nicht die Wahrheit sagte, aber im gleichen Moment riss sie sich zusammen. „Ich denke nicht, dass dich das etwas angeht”, sagte sie und schluckte trocken. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Jadzia zog sich gerade um, sie hörte ihre Kleidung rascheln, und plötzlich wünschte sie nichts sehnlicher, als dass sie sich beeilte. „Hast du sonst noch Fragen?”, fragte sie, und es klang zu gleichen Teilen schnippisch und verunsichert.
„Und ob”, antwortete Valion drohend, und er ging einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück, unsicher, eingeschüchtert, und fragte sich, was hier eigentlich vorging. „Kennst du eine Dienerin, etwas größer als ich, braune Haut, dunkle Augen, lange schwarze Haare, stumm?” Ja, diese Beschreibung sagte Anya etwas, zwar nur vage, aber wenn sie die entsprechenden Fragen stellte, würde sie sie vermutlich finden und wiedererkennen. „Vielleicht”, antwortete sie neutral, „Das kommt darauf an, was du von ihr willst.” Denn wenn du zu ihr gehen willst und sie so ansehen und bedrohen wie mich, werde ich den Teufel tun und dir das sagen, dachte sie bitter. „Sie hat mich bestohlen”, sagte Valion finster, und das ergab noch weniger Sinn. Warum sollte eine einfache Dienerin ihn bestehlen? Was besaß er schon, das von Interesse für irgendwen war? Es sei denn, sie handelte im Auftrag von Fourmi.
Das Wissen über Fourmi musste ihre Züge merklich verändert haben, auch wenn sie es nicht wollte, denn Valion begriff sofort. „Du weißt etwas”, sagte er, eine einzige, düstere Feststellung. „Nein”, sagte sie schnell, und der winselnde Unterton in ihrer Stimme erschrak sie selbst zutiefst. Das konnte doch nicht wahr sein! Was geschah hier? „Warum deckt sie euch? Was habt ihr zu verheimlichen? Was plant ihr?!”, schrie er sie plötzlich an, und sie zuckte zurück, als hätte man sie geschlagen. Ihre Hand tastete nach der Wand, sie versuchte Halt zu finden, stieß mit der Hand gegen eine Karaffe auf dem winzigen Tischchen, und sie fiel und zerbarst mit einem lauten Splittern auf dem Boden. Innerhalb von Sekunden war sie weg. Zurück in diesem einen schrecklichen Moment.
Oh Gott nein bitte nicht bitte nein ich bitte nein ich wollte nicht ich kann nicht bitte nicht nein nein nein
Sie wusste nicht einmal wie lange sie weg war, ob sie vielleicht nur die Augen geschlossen hatte, aber im nächsten Moment war Jadzia da. Es klatschte einmal, ein gewaltiger, donnernder Laut, und als sie die Augen öffnete war Valion auf der anderen Seite des Raumes, und Jadzia hatte sich drohend vor ihm aufgebaut. Wie jedes Mal. Tränen stiegen Anya in die Augen. Jadzia. Sie brauchte jetzt Jadzia. Ihre Hände griffen reflexartig nach ihrem Arm, während die Tränen zu fließen begannen, und ihr ganzer Körper zitterte. Jadzia zitterte ebenfalls, ihr Körper bebte vor Wut und Abscheu. Sie war eine schmale, weiche Person, aber in diesem Moment war sie Eisen und Feuer, wütend und furchteinflößend. Sie starrte Valion hasserfüllt an, und ihre Stimme waren tonlos und eiskalt. Nichts war an ihren Worten noch sanft oder gewählt. „Wenn du sie jemals anrührst bringe ich dich um. Und wenn du jetzt versuchst dich zu rechtfertigen für dein Verhalten, verpasse ich dir gleich noch eine, ist das klar?”
Valion lehnte an der Wand, völlig perplex, die Hand gegen die feuerrote Wange gepresst. Er war wieder er selbst, ein junger Mann, fast noch ein Kind, klein, verletzlich, und eingeschüchtert. Sie sah Erstaunen in seinen Augen, aber auch Reue. Er begriff plötzlich. Er begriff zum ersten Mal, wieviel Macht er haben konnte, und er hatte nicht damit gerechnet, und je länger er da stand, je länger Jadzia ihn fixierte, desto mehr schien ihm aufzugehen, wie er sich verhalten hatte. „Ich wollte nicht-”, begann er, und plötzlich näherten sich dem Wagen Schritte.
Bevor irgendjemand von ihnen reagieren konnte betraten drei Männer den Wagen, einige von den jüngeren, weniger erfahrenen Wächtern. Sie starrten verwundert auf das, was sich abspielte, bis Jadzia sich ungehalten zu ihnen umdrehte und den Anführer der drei fragte: „Was zum Teufel…?!” Sie brach ab, weil er ein erschrockenes Gesicht macht, atmete durch und fragte noch einmal, wesentlich sanfter: „Was macht ihr hier?”
„Wir sind hier, um auf Eraviers Befehl alles zu durchsuchen. Jegliche Waffen, Gegenstände von fragwürdiger Bedeutung, und jegliche Verbindungen zu rebellischen Aktivitäten müssen wir melden”, spulte er aus dem Gedächtnis ab, und er war sichtlich froh, als Jadzia ihn mit einer Handbewegung bedeutete, dass er freie Hand hatte. „Wir werden euch nicht im Wege stehen. Wir haben nichts zu verbergen. Sucht, so lange ihr wollt. Wir werden einen Abendspaziergang unternehmen.”
Damit ergriff sie Anyas Hand, und ohne sich noch einmal umzusehen führte sie sie nach draußen, sanft und geduldig. Anya folgte ihr, und sie wagte nicht aufzusehen. Tränen schimmerten durch ihr langes rotes Haar, das ihre Wangen verdeckte. Im nächsten Moment waren sie verschwunden.
„Was ist denn mit denen los?”, murmelte einer der anderen Wächter, aber ihr Anführer zuckte nur mit den Achseln und befahl: „Los, wir haben einen Befehl. Du willst nicht gehen?”, fragte er den immer noch verdatterten Valion, und er schüttelte den Kopf. „Ich darf nicht”, erklärte er.
Natürlich wurde Valion durchsucht, und auch der ganze Rest des Wagens. Aber es gab nichts, was die Wächter finden konnten. Keine Glassplitter, kein Metallstück, das als Waffe dienen konnte. Keinen leeren Spiegelrahmen, in dem noch vereinzelte Spiegelscherben hingen.
Jemand hatte Bescheid gewusst. Man hätte fast meinen können, dass es dieser jemand gut mit Valion meinte. Oder dass jemand noch Pläne mit ihm hatte. Während Valion da saß und das Chaos ignorierte, das die Wachen um ihn schufen, während sie alles auf den Kopf stellten, musste er jedoch über mehr nachdenken als das. Darüber, wie es sein konnte, dass er so wütend geworden war. So gewalttätig. Er hatte Anya nicht geschlagen, aber er war kurz davor gewesen. Er hatte sie angeschrien, weil ein kleiner Bestandteil seines Lebens abhanden gekommen war. Wie konnte er das tun? Was wurde hier aus ihm, an diesem Ort? Es war so viel angestaute Wut ihn ihm, so viel Hass auf alles, was geschehen war. Und Verwirrung, unendlich viel Verwirrung. Wie sollte er nur damit fertig werden? Das war nicht er selbst. Nicht die Person, die er sein wollte.
Aber wer war er dann?
Als die Sonne gesunken war und der Abend anbrach wurde der Rebellionspion gefasst. Er war der einzige Mann, der einen gebrochenen Arm und mehrere blaue Flecken vorzuweisen hatte, und dazu kam, dass er einer der neuen Diener war, die Faure vor seinem Tod angestellt hatte.
Er beteuerte tausendmal seine Unschuld, und behauptete, dass er nur betrunken gewesen sei und eine schattenhafte Gestalt ihn überfallen und zusammengeschlagen hätte. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte hätte er einen gebrochenen Arm gehabt und aus Angst geschwiegen.
Natürlich glaubte ihm niemand. Während er fluchte und schrie, wurden ihm die Augen verbunden, und dann wurde er den drei verbliebenen Händler vorgeführt und erschossen. Zwei Paar Augen wandten sich entsetzt ab; aber das dritte verfolgte jedes letzte Zucken, bis der Körper endlich still lag. Eravier lächelte.
Karvash kehrte an diesem Abend bleich zu seinen Frauen zurück, und sie versuchten ihn zum Sprechen zu bringen, aber er wandte sich nur ab und schwieg. Er ging ohne Abendessen zu Bett, völlig untypisch für ihn. Sophie, seine zweite Frau, ließ sich daraufhin ungehalten zum Essen nieder, und als ihre Dienstmagd, ein stummes Mädchen namens Fleurie, ihr den Wein reichte, glitt ihre Hand aus. Sie war ungewöhnlich steif und ungelenkig. „Was ist nur los mit dir, Mädchen?!”, fragte sie herrisch, und Fleurie entschuldigte sich tausendmal in ihrer Sprache, die nur aus Handzeichen bestand, und gab ihr gestikulierend zu verstehen, sie hätte sich den Arm an einem Balken gestoßen. Seufzend akzeptierte Sophie die Erklärung, und nach tausend Verbeugungen machte Fleurie sich auf den Weg durch das Lager, um neuen Wein bei den Dienern abzuholen, die die Bestände überwachten und verteilten.
Niemand beachtete sie. Niemand hielt sie auf oder fragte, wohin sie ging. Als sie einen Kapuzenmantel überstreifte, warf ihr nicht einmal jemand einen zweiten Blick zu. Es war Fleurie, die in den Schatten untertauchte. Es war Fourmi, der sich mit nur einem Arm auf das Dach eines Wagens schwang und zusammengekauert die Menge der hin und her eilenden Diener überwachte. Ein Haufen Ameisen, unter denen diese eine Arbeiterin nicht weiter auffiel.
Gerüchte schwirrten durch das Lager, Beobachtungen, Klatsch, Tratsch, Sorgen und Ängste, Halbwahrheiten und düstere Vorraussagen. Fourmi hörte sie alle, als Rebell und als Dienerin, in den Schatten und offen im Tageslicht, übersehen von denen, die ihn für Inventar hielten, für ein atmendes, lebendiges Möbelstück. Mächtige Männer wie Eravier unterschätzten Ameisen, weil sie sie dutzendweise zertreten konnte. Sie unterschätzten, wie viel sie bewegen und wie schnell sie zu einer Plage werden konnte, und jede von ihnen konnte Gift verspritzen. Sollte Eravier doch nach der einen suchen, die ihn verletzen wollte. Er würde Fourmi niemals finden.
So viel Arbeit, so viele Fäden, die bei ihr zusammen liefen. Die Nacht war lang, und die Rebellion noch lange nicht besiegt.