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Warnungen: keine

Melinda blickte auf den Brief in ihrer Hand. Nun ja, eigentlich war es nicht wirklich ein Brief, viel mehr war es ein Brief, der auf die Rückseite eines Fotos geschrieben war, welches ein geöffnetes Tor und einen verschneiten Wald dahinter zeigte. Der Brief verriet ihr auch nur wenig über das Ziel ihrer Reise.
Sehr geehrte Frau Melina Oxford,
Finden Sie sich bitte am 24. Dezember 201x an dem Ort ein, der ihnen auf dem Bild gezeigt wird.
Hinter dem Tor erwartet sie eine Überraschung.
Mit freundlichen Grüßen,
Harold Cornelsen
Melinda war ziemlich verwirrt, ob des Schreibens. Allerdings kannte die den Ort nur zu gut. Es war das Tor zum Anwesen ihres Großvaters, dem Grafen von Oxfordshire, der schon vor Jahren den Kontakt zu ihrer Seite der Familie abgebrochen hatte. Warum genau wusste Melinda nicht. Sie war mit ihren 15 Lenzen damals noch viel zu jung gewesen, als das man ihr solche Dinge erzählt hätte. Der 'Brief' jedenfalls war vom Verwalter des Anwesens gekommen, was Melinda stutzig gemacht hatte. Neugierig, wie sie nun einmal von Natur aus war, hatte Melinda sich auf den Weg gemacht ohne ihren Eltern etwas davon zu sagen.
Als sie am Anwesen ankam, stand das Tor wie auf dem Bild offen und dahinter war der malerische, verschneite Wald zu sehen. Melinda stellte ihren Wagen ab und stieg aus. Sie atmete die frische Luft ein und lächelte. Hier roch man tatsächlich nur Natur und keine Auto- oder Industrieabgase. Allerdings war es auch deutlich kälter als in London. Melinda zog ihre Jacke enger um sich und setzte sich die Beanymütze auf, die sie sich vorsichtshalber mitgebracht hatte. Ihre Füße steckten in festen Wanderstiefeln, welche sie bei den gut 20 cm Neuschnee, die hier lagen, gut gebrauchen konnte.
Mit einem Lächeln auf den roten Wangen, begann sie den Weg, der hinauf zum Haupthaus führte, entlang zu stapfen. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln und es schneite noch mehr. Der leichte Wind raschelte an den Ästen der Bäume und bis auf das leise Zwitschern einiger dagebliebener Vögel und dem Geräusch ihrer Schritte im Schnee war es still. Diese Stille tat nach der Hektik ihres Stadtlebens mehr als nur gut und war Balsam für ihre Seele.
Melinda ließ sich Zeit, sah sich immer wieder um und genoss die Zeit in der freien Natur mehr, als sie es vor ihren Freunden, die immer für Action in Clubs zu haben waren, zugeben wollte. Im Allgemeinen tat sie viele Dinge in ihrem Leben nur, weil sie von ihr erwartet wurden, nicht, weil sie es genoss sie zu tun. Der Weg hinauf zum Haus ließ sie deutlich sehen, wie weit entfernt die Person, die sie nach Außen hin darstellte, von der Person war, die sie wirklich war.
Mit einem leisen Seufzen ging sie die Treppen hinauf. Diese waren gekehrt und gestreut, so dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte. Sie blickte sehnsüchtig zurück zu dem Waldstück, das sie gerade durchquert hatte, während sie an der Tür läutete. Ihr Blick schweifte gen Himmel, der weiß von dicken Wolken war, welche wohl schwer mit Schnee waren. Es würde heute sicher noch viel mehr Schnee fallen, als die 20 cm, die schon lagen.
"Ah … Miss Oxford, herzlich Willkommen. Wir haben sie schon erwartet", wurde sie von einem freundlich aussehenden älteren Herrn in einem schwarzen Anzug begrüßt. Da seine Hände in weißen Handschuhen steckten, mutmaßte sie, dass es der Butler war.
"Guten Tag, Herr …", Melinda stoppte, da sie seinen Namen nicht kannte, und sah ihn fragend an.
"James, Madam", erwiderte er nur lächelnd. "Einfach nur James. Ganz so wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen waren und hierher kamen."
Melinda nickte. "Danke, James."
"Kommen sie herein, draußen ist es furchtbar kalt", merkte James an und zog sie in den Eingangsbereich, wo er ihr die Jacke abnahm und ihr empfahl die Winterstiefel auszuziehen, während er rasch ein Paar Pantoffeln in ihrer Größe holen würde. Nachdem das geschehen war, begleitete er sie zum Arbeitsraum ihres Großvaters. Sie konnte sich noch schwach daran erinnern, wie beeindruckt sie als Kind von dem Raum war, weil es dort so unendlich viele Bücher gab von denen ihr Großvater etliche verfasst hatte.
In dem Büro erwartete sie allerdings nicht ihr Großvater, sondern ein anderer, älterer Gentleman.
"Herzlich Willkommen, Miss Oxford. Ich wünschte, wir würden uns unter besseren Umständen kennen lernen", sagte er und schüttelte ihre Hand, bevor er in Richtung des gemütlichen Sofas deutete, welches bei den Bücherregalen nahe des Kamins stand und welches sie als Kind schon so geliebt hatte. Genau wie früher schlüpfte sie aus den Schlappen und zog ihre Füße unter ihren Po, kaum dass sie auf dem Sofa saß. Das Feuer prasselte warm im Kamin und sie konnte durch die großen Fenster sehen, wie der Schnee draußen fiel und die Landschaft unter einer weißen Decke begrub. Alles in allem war es ein malerisches Idyll, aber die Aussage des Mannes ihr Gegenüber sagte ihr, dass dieses Idyll trügerisch war.
"Wie genau sind die Umstände denn?", erkundigte Melinda sich.
"Nun, Miss Oxford. Ich bin Hugo Smith, der Testamentsvollstrecker ihres Herrn Großvater, dem kürzlich verstorbenen Graf von Oxfordshire. Es tut mir leid, dass ich sie ausgerechnet am Heiligen Abend von seinem Tod in Kenntnis setze, aber all dies geschieht auf Anweisung des Herrn Grafen höchstpersönlich. Er wollte auch, dass ausschließlich sie hierher aufs Landgut kommen und dann sollte ich ihnen einen Brief aushändigen", entschuldigte sich Herr Smith.
Melinda schluckte schwer und nahm beinahe geistesabwesend den Brief entgegen.
"Möchten sie etwas zu trinken, Miss Oxford?", erkundigte Smith sich.
"Einen Kakao … James wird sich sicher daran erinnern, wie ich ihn am Liebsten trinke", erwiderte Melinda.
Herr Smith ließ sie allein und Melinda atmete tief durch und betrachtete den Brief. Sowohl der Umschlag, wie auch der Brief selbst, schienen aus dickem Büttenpapier von außerordentlich guter Qualität zu bestehen. Ganz so, wie ihr Großvater es immer bevorzugt hatte. Sie merkte, wie sich ihre Brust ein wenig zu zog und wischte sich einige Tränen von den Wangen, bevor sie den Brief öffnete.
Auf dem dicken Papier stand in der elegant geschwungenen Schrift ihres Großvaters folgendes zu lesen:
Liebe Melinda,
Gräme Dich nicht, mein Kind, dass Du erst jetzt von meinem Ableben erfährst. Ich habe Harold und Hugo darum gebeten, dass sie Dich erst kontaktieren, wenn mit der Erbschaft alles geklärt ist. Jetzt fragst Du Dich vermutlich, was ich damit meine …
Nun, mein liebes Kind, ich habe Dich zur Alleinerbin erklärt. Mein Sohn, Dein Vater, und meine Schwiegertochter, Deine Mutter, werden keinen müden Cent von meinem Vermögen bekommen. Auch kein winziges Stück Land. Der Grund, weshalb wir uns damals so gestritten haben, war meine Weigerung Deinem Vater sein Erbe vorzeitig zu überschreiben. Er wollte, dass ich, der gerade erst in Rente gegangen war, in eine kleine Wohnung in der Stadt ziehe, damit er das Gutshaus und das dazugehörige Land an irgendwelche Leute verkaufen konnte, die hier ein Wellnesshotel bauen wollten.
Da ich ihm das verweigert habe, hat er den Kontakt abgebrochen und ich durfte Dich leider nicht mehr sehen.
Sicher weißt Du auch nicht, dass deine Tante, die Schwester deines Vaters, vor 15 Jahren ums Leben gekommen ist. Ich habe deinen Vater damals versucht zu kontaktieren, aber außer einem Brief von seinem Anwalt, jegliche Kontaktversuche aus welchem Grund auch immer zu unterlassen.
Es tut mir leid, dass ich Dich nicht habe aufwachsen sehen. Aber ich habe aus der Ferne über Dich gewacht und ich weiß, dass Du zu einer patenten jungen Frau herangewachsen bist, die ihre wahre Natur vor ihrer Umwelt verbirgt. Deswegen wollte ich Dir einen Ausweg bieten. Einen Weg weg von all dem, dass Dich belastet.
Das Gutshaus, der Gelände, die Pferdezucht, die Harold für mich weitergeführt hat und die 17,4 Millionen Pfund auf der Bank gehören komplett Dir.
Ich weiß, wie sehr Du die Tiere geliebt hast und ich bin mir sicher, dass Dein Vater Dir erzählt hat, ich würde sie weggeben.
Das habe ich nicht getan.
Sie alle sind Dein.
Nun bleibt mir nur zu sagen, dass ich dich liebe, meine Enkeltochter.
Ich werde meiner geliebten Frau bald ins nächste Leben folgen und ich freue mich darauf wieder bei ihr zu sein.
Gib gut auf Dich acht und folge Deinem Herzen.
Ich wünsche Dir ein gesegnetes Weihnachtsfest.
In Liebe,
Dein Großvater
Graf Norman Oxford,
Graf von Oxfordshire
Tränen liefen über Melindas Gesicht, während sie den Brief las. So viele Dinge in ihrem Leben machten auf einmal Sinn. Auch der Unmut ihrer Eltern ihr gegenüber in den letzten Monaten. Sie wusste lediglich, dass ihre Eltern bei Gericht hatten erscheinen müssen, aber sie hatten es nicht für nötig gehalten, sie zu unterrichten weshalb. Jetzt wusste sie es und sie verstand nur zu gut. Die Gier ihres Vaters nach Geld und Besitztümern ging weit über jegliche familiäre Verbindung heraus.
Die Tür knarzte leise, als James sie aufschob.
"Entschuldigen sie, Miss Oxford … ihr Kakao", sagte James und reichte ihr die Tasse. Er ignorierte ihre Tränen, wofür sie sehr dankbar war.
"Melinda, James. Ganz wie früher, bitte", erwiderte sie und lächelte.
"In Ordnung, Miss Melinda"
James wollte schon gehen, als sie ihn zurückhielt.
"Ist Harold Cornelsen heute vor Ort oder ist er schon bei seiner Familie?", hakte sie nach und wischte sich die Tränen nach einem Schluck Kakao mit dem Ärmel ihres Pullis aus dem Gesicht.
"Herr Cornelsen ist vor Ort. Wenn sie möchten, hole ich ihn her", erwiderte James.
"Bitte", sagte Melinda mit einem traurigen Lächeln.
Wenige Minuten später knarrte die Tür erneut und Melinda erstarrte, als sie den Mann sah, der den Raum betreten hatte. Das war nicht der alte Harold an den sie sich von damals erinnerte. Nein, im Gegenteil. Das war Harry, der Stallbursche mit dem sie zusammen immer ausgeritten war, wenn sie hier auf dem Landgut ihre Ferien verbracht hatte. Das war Harry, in den sie so verliebt gewesen war, als Teenager und mit dem sie ihren ersten Kuss geteilt hatte.
Melinda sprang auf und überwand den kurzen Abstand zwischen ihnen.
"Melinda", sagte Harry und lächelte vorsichtig.
"Harry", erwiderte sie und umarmte ihn fest.
Die Chemie zwischen ihnen flammte heiß wieder auf, war noch intensiver als sie damals gewesen war. Er blickte ihr in die Augen und während sie ihre Lider beinahe keusch niederschlug, berührten seine Lippen schon zart die ihren. Die letzten zwanzig Jahre waren wie weggeblasen und Melinda wusste, dass sie den Rest ihres Lebens hier auf dem Landgut verbringen würde. Vorzugsweise mit Harry an ihrer Seite und dieser schien keinerlei Einwände zu haben.
Wie sie ihre gemeinsame Zukunft organisieren würden, darüber konnten sie später sprechen. Erst einmal setzten sie sich vor den Kamin und schwelgten in Erinnerungen, während der Schnee seine weiße Decke über der Welt ausbreitete.
~Ende~