Prompt: Seelensplitter
Warnungen: Erwähnung von Vergewaltigung, Suizid, Misogynie
Maristela starrte mit leerem Blick in den Abgrund vor sich. Sie wippte leicht auf den Fußballen vor und zurück und überlegte, ob sie sich einfach über den Rand der Klippe fallen lassen sollte, um dem allen ein Ende zu setzen. Sie hatte von Anfang an kein leichtes Leben gehabt. Ihre Mutter hatte ihre Geburt nicht überlebt.
Kein Wunder, wenn man bedachte, dass sie praktisch allein in einer Hütte im Wald gewesen war, als die Wehen eingesetzt hatten. Sie hatte es zwar geschafft Maristela auf die Welt zu bringen, war aber kurz darauf in den Armen ihres gerade eingetroffenen Mannes gestorben, weil sie zu viel Blut verloren hatte. Ihr Vater hatte ihr die Schuld am Tod ihrer Mutter gegeben und sie dementsprechend behandelt. Worte des abgrundtiefen Hasses, den er ihr gegenüber empfand, waren ihr kleinstes Problem. Anstatt sie weg zu geben, hatte er beschlossen sie als Boxsack zu benutzen bis sie alt genug war, um ihm die Kinder zu schenken, die er haben wollte.
Gegen ihren Willen hatte er ihr ihre Unschuld geraubt. Wieder und wieder hatte er es getan. Ihre Seele jedes Mal ein wenig mehr zerbrochen und jetzt hatte sie auch noch den Fehler begangen das Kind zu verlieren. Dieses Kind, der einzige Lichtblick in dieser Hölle in der sie lebte, war in ihrem Bauch gestorben, weil ihr Vater sie in den Bauch geboxt hatte. Trotzdem hatte sie das Kind zur Welt bringen müssen und ihre Seele war vollends zersplittert, denn anstatt das ihr Vater ihr half, ihre Seelensplitter aufzusammeln und sie zu trösten, hatte er ihr nur noch mehr Vorwürfe, ohrfeigte sie und schrie sie an.
Maristela war daraufhin zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen ausgerastet. Als sie wieder bei sich war, lag ihr Vater am Boden. Blut überströmt und vor allen Dingen tot. Das Messer steckte noch in seinem Bauch und ihre Hand war noch darum geschlossen. Sie hatte ihn mit großen Augen einen Moment lang angestarrt, bevor ihr klar wurde, was nun passieren würde.
Sobald sie jemand fand, würde es heißen, sie hätte ihren Vater verführt, hätte das Kind verloren, weil sie dumm war und nicht aufgepasst hatte und deswegen hätte sie ihren Vater umgebracht. So war das hier in diesem winzigen Dorf, wo alle streng katholisch waren, Männer das Größte und Frauen das Letzte. Man würde sie ins Gefängnis sperren oder ins Freudenhaus. Je nachdem ob der Richter sie hübsch fand oder nicht. So oder so wäre sie über kurz oder lang tot.
Da erschien es Maristela doch besser, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Im Dorf hatte man anscheinend ihren Vater entdeckt. Sie hörte die Leute schreien und krakeelen. Sie waren auf Blut aus. Wahrscheinlich hatten sie schon die Schippen und Mistgabeln ausgepackt und waren dabei die Fackeln zu entzünden, um sie im Dunklen zu suchen. Maristela lachte noch einmal auf, drehte sich um, während sie die ersten Leute aus dem Dickicht treten sah. Sie gab ihnen ein Zweifinger-Salut und ließ sich fallen.
Ihre Seelensplitter fielen mit ihr in die Tiefe und als ihr Körper am Grund der Klippen aufschlug, war ihre Seele schon auf dem Weg in die Sterne. Dorthin, wo sich die Nornen ihre Seele wieder zusammenfügen und erneut auf die Reise schicken würden.