Prompt: Schau nie zurück
"Weiß jemand, wo Fiona ist?", fragte Denis in die Runde. Der junge Mann hatte seine Zwillingsschwester schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen und machte sich Sorgen um sie. Er wusste, die dunkle Jahreszeit und besonders Halloween machten ihr immer sehr zu schaffen. Denn zu dieser Jahreszeit erreichte ihre Magie ihren Höhepunkt und verlangte benutzt zu werden.
Peter sah auf und hob eine Augenbraue. "Du weißt schon, welcher Tag heute ist, oder Denis?", erwiderte er.
Denis' Blick fiel auf den Kalender. Dieser machte ihm deutlich, dass heute der 31. Oktober, Halloween, war. Denis schluckte.
"Fuck!", entfuhr es ihm.
"Was?", fragte Angela.
"Wenn sie nicht im Haus ist, haben wir ein Problem", sagte Denis und begann das Haus vom Dachboden bis zu den Kellerräumen zu durchsuchen, wobei er sich sicher war, dass Fiona nicht im Haus sein würde. Er warf noch einmal einen Blick in ihr Zimmer und stellte fest, dass ihr bordeauxroter Umhang mit Gugel nicht wie sonst an der Tür hing.
Er schluckte noch schwerer und schloss für einen Moment die Augen, bevor er in sein Zimmer ging und eine hölzerne, mit Eisen beschlagene Kiste unter dem Bett vor holte. Denis schloss sie auf und holte einen Dolch heraus, befestigte diesen an seinem Gürtel, bevor er die Kiste wieder verschloss und unter dem Bett verbarg.
"Peter … gib auf Angela acht. Ich gehe Fiona suchen", sagte Denis und bevor einer der beiden auch nur ansatzweise protestieren konnte, war er aus dem Haus verschwunden.
Zielsicher ging er durch die Straßen ihres Heimatortes in Richtung des alten Waldfriedhofs.
Schon aus einiger Entfernung hörte er Fionas liebliche Stimme, wie sie sang:
"Come little children
I'll take thee away
Into a land of enchantment
Come little children
The time's come to play
Here in my garden of shadows
Follow sweet children
I'll show thee the way
Through all the pain
And the sorrows
Weep not poor children
For life is this way
Murdering beauty and passions
Hush now dear children
It must be this way
Too weary of life
And deceptions
Rest now my children
For sson we'll away
Into the calm and the quiet
Come little children
I'll take thee away
Into a land of enchantment
Come little children
The time's come to play
Here in my garden of shadows"[1]
Er beschleunigte seine Schritte und sah wie etliche Kinder sich um Fiona gescharrt hatten und ihr auf den Friedhof gefolgt waren. Er sah, wie ihre Augen glasig waren und ausschließlich auf Fiona gerichtet waren, die sie in ihrem Bann hielt.
"Fiona!", rief er laut in der Hoffnung, seine laute Stimme würde den Bann brechen, aber zu dicht waren die Stränge von Fionas Magie schon gewoben und fest um die Kinder geschlungen. Keines der jungen Wesen zeigte auch nur eine minimale Reaktion auf seine Stimme.
Denis schloss seine Augen für einen Moment, um sich zu sammeln. Was er nun tun musste, tat ihm in der Seele weh, aber es ging nicht anders. Er konnte nicht die Leben all dieser Kinder verwirken, um das Leben seiner Zwillingsschwester zu retten. Im letzten Jahr war es ihm noch gelungen den Bann mit seiner eigenen Magie, die hauptsächlich in seiner Stimme lag, zu brechen.
Dieses Jahr allerdings schien dies ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Er biss sich auf die Unterlippe und ging auf Fiona zu. Als ihr Blick sich endlich auf Denis richtete, konnte er rein gar nichts mehr von der Persönlichkeit seines Zwillings sehen. Da war nur Dunkelheit und kalte Grausamkeit. Ihre Hände waren zu Klauen geformt und sie zog eines der kostümierten Kinder in ihre Arme, drohte ohne Worte es zu töten.
Denis dachte nicht nach. Seine eigene, weiße, Magie schwoll mit einem Mal in ihm an und er bewegte sich schneller als jemals zuvor. Er riss das Kind von Fiona weg, packte sie und dann zuckte die Klinge durch die Dunkelheit. Ein roter Regen ergoss sich über die Kinder, die sich mit einem Mal verwirrt umsahen und nicht verstanden, wo sie waren.
"LAUFT!!!", rief Denis ihnen zu und zum Glück gehorchten sie.
Fionas dunkle Magie schwoll an, versuchte sie zu retten, aber Denis packte ihr Haar und verhinderte, dass die Magie die tödliche Wunde, die er ihr versetzt hatte, heilen konnte. Dabei rannen Tränen über Denis' Gesicht und er murmelte nur immer wieder leise, dass es ihm leid tue. Als die dunkle Magie merkte, dass sie sich nicht in einem toten Körper manifestieren konnte, schoss sie hinauf in den Himmel und Denis wusste, was er zu tun hatte.
Er bettete Fiona in der verfallenen Kapelle auf den Altar, deckte sie mit dem halb verrotteten, mottenzerfressenen Leinentuch zu und setzte ihren Körper in Brand, bevor er das Weite suchte.
"SCHAU NIE ZURÜCK!"
Fionas Stimme hallte durch die Nacht und Denis gehorchte. Fionas Geist folgte ihm bis zum Rand des Friedhofs. Sie blickte ihm hinterher und lächelte traurig. "Es tut mir leid, Denis … ich danke dir, dass du mich erlöst hast … auch wenn es dich alles gekostet hat", flüsterte sie und zog das Tor des Friedhofs ins Schloss. Sie versiegelte es mit dem letzten Hauch Magie, der ihr noch verblieben war, und nahm der dunklen Magie damit ihre Heimstatt in dieser Stadt. Immerhin war Fiona die letzte dunkle Magierin, Hexe, gewesen, die hier lebte.
Die restlichen Magier hatten alle nur weiße Magie und sie alle hatten versucht ihr zu helfen, aber letztendlich war es vergebens gewesen. Das es ausgerechnet ihr eigener Zwilling war, der ihr das Leben nehmen musste, um die Opferung der Kinder der Stadt zu verhindern, war tragisch, aber vielleicht auch genau das, was gebraucht wurde.
Sie würde nun bis in alle Ewigkeit hier auf dem Friedhof gefangen sein und umher spuken, aber sie konnte nicht mehr gegen ihren Willen von der dunklen Magie benutzt werden. Nur durfte Denis nie wieder hierher kommen, denn er war der Einzige, der sie umstimmen und zum Leben nach dem Tod überreden könnte, womit sie diesen Friedhof, die Heimstätte der dunklen Magie wieder freigeben würde, was er aber nicht wissen konnte.
Denis aber rannte, rannte um sein Leben zurück zu seinem Haus, wo Angela und Peter auf ihn warteten. Als sie ihn sahen, wussten sie was geschehen war.
"Nein", flüsterte Angela entsetzt.
Denis sah sie einfach nur an.
Peter drückte seine Schulter. "Es war vermutlich besser so", sagte er seinem Freund.
"Das macht es nicht einfacher", murmelte Denis.
Angela sackte weinend auf die Knie. Peter zog sie in eine schützende Umarmung und starrte Denis an, wartete, was dieser tun würde. Aber dieser stand still wie eine Statue. Innerlich war er mit seiner Schwester gestorben und die Magie in ihm erlaubte seinem Körper ihr zu folgen und ließ ihn zu Stein erstarren. Er würde nie wieder zurück schauen können. Und die Balance der Magie an diesem Ort war wieder hergestellt.
~Ende~
[1] 'Come little children' aus dem Film Hocus Pocus