Prompt: Flockentanz
Warnungen: Krankheit, Fieberwahn, Tod(?)
"Lenchen?"
"Leeeeni?"
"Liebling?"
Ich hörte meine Mutter zwar rufen, aber ich war viel zu beschäftigt, als das ich ihr hätte antworten können oder wollen. Sie musste gerade vom Einkaufen heimgekommen sein und nun lief sie durchs Haus, um mich zu suchen. Dabei war das doch gar nicht so schwer. Immerhin saß ich direkt vor dem großen Fenster der Dachterrasse und beobachtete die Schneeflocken, wie sie langsam vom Himmel herab kamen.
Tanzend.
Lachend.
Voller Freude, wenn der Wind sie durcheinander blies.
Ich kicherte und presste meine Hand vor den Mund, damit Mama mich nicht sofort fand. Sie würde mich bestimmt zurück ins Bett scheuchen, weil "Mit einer Bronchitis nicht zu Spaßen ist, Magdalena" wie sie immer sagte. Ich hustete in meine Armbeuge und wandte meinen Blick dann wieder den weißen Flocken zu. Sie waren unterschiedlich groß, weiß, wunderschön und sie tanzten getragen vom Wind.
Ich streckte meine Hand nach ihnen aus und folgte ihnen mit den Fingerspitzen, wenn sie an der Fensterscheibe entlang hinab zur Fensterbank rutschten. Ein erneuter Hustenanfall schüttelte mich und ich zog meine Decke enger um mich. Mir war kalt, dabei fühlte ich, dass ich schwitzte. Dennoch wollte ich nicht von meiner einzigen Unterhaltung weg.
Denn lesen, Musik hören oder Fernsehen, alles war zu anstrengend in den Augen des Arztes. Von Videospielen oder so etwas wollte er erst gar nichts hören. Ich sollte schlicht im Bett liegen und mich auskurieren, meine ganze Kraft in meine Gesundung stecken und mich dabei zu Tode langweilen. Nicht dass der letzte Teil zu seiner Aussage gehörte. Das war mein Gedanke dazu.
Meine Mutter hatte mir alles abgenommen, was ich sonst benutzte, um mich zu unterhalten und mich ins Bett gesteckt. Genau zwei Tage hatte ich durchgehalten, weil mein Fieber so hoch war, dass ich die meiste Zeit ohnehin schlief, aber heute ging es mir etwas besser und als sie kurz einkaufen gegangen war, hatte ich mich mitsamt meiner Decke aus dem Bett und die Treppe hinauf zu meinem zweiten kleinen Reich geschleppt. Dort oben unter dem Dach hatte ich mein kleines Atelier, wo ich bastelte, malte und schneiderte.
Es war der Ort, wo ich Zuflucht vor der Welt suchte und wo ich meist ungestört blieb, weil meine Hobbys sonst niemanden in der Familie interessierten. Heute natürlich blieb ich nicht ungestört.
"Magdalena! Was zum Teufel machst du da? Du sollst im Bett liegen und dich auskurieren!!!", fauchte meine Mutter mich an, nachdem sie ohne anzuklopfen den Raum betreten hatte.
Meine Laune stürzte hinab in den Keller und mein Blick verfinsterte sich.
"Ich beobachte den Flockentanz … mehr nicht. Du hast mein Zimmer ja … komplett leer geräumt, damit ich auch ja nicht … mehr tun kann, als mir dabei zuzuhören, … wie ich an meinem Husten halb … ersticke und wie mein Atem rasselt", brachte ich zwischen mehreren Hustenanfällen hervor und lehnte mich schwer gegen die kühle Scheibe. Das fühlte sich gut an und ich seufzte.
"Magdalena … Lenchen … du hast Fieber, Kind. Du gehörst ins Bett und Ruhe hilft dir nun mal am Besten", versuchte sie mich zu beschwichtigen.
"Bin kein Kind mehr … bin dreiundzwanzig", nuschelte ich und richtete meinen glasigen Blick auf sie. "Den ganzen Tag allein, ohne irgendwas zu tun ist … Folter … ich will meine Bücher … meinen Fernseher … meinen Computer und mein Handy zurück … diese Stille … macht mich … wahnsinnig"
Sie schüttelte den Kopf. "Nicht, bevor du nicht gesund bist", sagte sie, "Du hast gehört, was der Doktor gesagt hat."
Ihr Insistieren ließ mich kehlig knurren und dann hustete ich abermals. So heftig, dass ich etwas feuchtes in meiner Hand spürte. Als ich sie weg nahm, sah ich Blut. Meine Mutter begann panisch zu kreischen und die Treppe hinunter zu laufen, um zu telefonieren, aber ich blieb zurück.
Die Hitze des Fiebers brachte mich dazu meine Decke abzustreifen und dann schob ich die Balkontüre auf. Ein Schwall eisiger Luft umspülte meinen erhitzten Körper, spielte mit meinem langen Nachthemd und entlockte mir ein Lächeln. Es fühlte sich gut an.
Ohne Nachzudenken ging ich barfuß hinaus in den Waden hohen Schnee, der sich auf dem Balkon gesammelt hatte. Es war, als riefe jemand nach mir und ich folgte dem Ruf ohne zu Zögern. Der Balkon war breit und die Brüstung alt. Ich stützte mich darauf ab, um zu sehen, wer mich da rief, als sie nachgab und ich mich plötzlich im freien Fall befand.
Einen Moment lang tanzte mein Körper mit den Flocken, bevor mich erlösende Kälte umfing, meinen erhitzten Körper abkühlte. Ich starrte hinauf in den gräulichblauen Himmel und beobachtete die unschuldigen, reinweißen Schneeflocken weiterhin bei ihrem Tanz. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Schnee unter mir sich rot verfärbte, aber ich maß dem keine Bedeutung bei. Wichtig war nur der Flockentanz. Bald schon würde ich endgültig ein Teil davon sein.
Der Gedanke entlockte mir ein Lächeln.
Bald würde ich frei sein, wie die Schneeflocken. Nur getrieben vom Wind und ansonsten sich selbst überlassen, zumindest bis sie am Boden aufschlugen.
Ich versuchte den Gedanken weiter zu spinnen, aber es gelang mir nicht.
Er war so weit entfernt …
Nicht mehr greifbar …
Zu Ende … wie mein Leben …
Der Gedanke war da und direkt wieder fort … und er nahm mich mit sich.
Mit der Aufforderung zu einem Tanz.
~Ende~