Morgan saß im Schneidersitz am Boden vor dem großen Fenster. Im Licht der Abenddämmerung konnte sie den Wald sehen, der das Holzhaus dicht umschloss und von der Außenwelt abschnitt. Gerade jetzt im Winter war das Leben hier mitten im Wald ein Abenteuer.
Am Morgen noch hatte sie Holz gehackt und ins Haus getragen und hinter ihr im Kamin loderte prasselnd ein Feuer, welches den Raum warm hielt. Zumindest weitestgehend. Hier am Fenster war es kühler.
Morgan saß auf einem Lammfell und hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt. Sie beobachtete, wie der Schnee in dicken Flocken vom Himmel herab rieselte und das grüne Moos, welches die Lichtung bedeckte, unter einer dichten Schicht begrub, welche das Licht des aufgehenden Mondes reflektierte.
Ihr Blick wanderte über den Horizont und mit einem Mal hielt sie inne. Da war etwas in ihrem Augenwinkel, dass ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Langsam ließ sie ihren Blick wandern und entdeckte mit einem Lächeln auf den Lippen die Eiskristalle, welche sich am Rande der großen Scheibe nahe des Fensterrahmens bildeten.
Sie rutschte ein wenig näher heran und betrachtete die Strukturen, die sich gebildet hatten und es juckte sie in den Fingern, diese für die Ewigkeit festzuhalten. Also stand sie mit einer geschmeidigen Bewegung auf und holte ihre Kamera, sowie ihr Skizzenbuch und das dazugehörige Etui.
Zunächst machte sie einige Aufnahmen mit der Kamera, bevor sie diese zur Seite legte und sich wieder im Schneidersitz vor der Scheibe niederließ. Die Decke war schnell wieder um ihre Schultern geschlungen und dann ruhte das Skizzenbuch auf ihrem Schoß. Morgan öffnete das Etui und suchte sich ihren liebsten Kohlestift heraus, nur um diesen dann direkt auf dem Papier anzusetzen.
Wie von selbst glitt der Stift über das dicke Papier und langsam, aber sicher nahm ein Eiskristall nach dem anderen Form an. Sie breiteten sich auf dem Papier aus wie sie sich auf der Scheibe ausbreiteten und halfen Morgan den Grund zu vergessen, weshalb sie sich hierher zurückgezogen hatte. Obwohl streng genommen eigentlich nicht.
Morgans Skizzen hatten die Angewohnheit ein Eigenleben zu entwickeln und so tat auch diese es. Als ungefähr zwei drittel der Seite belegt waren mit den wundervollen Kristallen, formten ihr Geist, der Stift und das Papier eine Einheit und unter ihnen entstand ein Bild, welches wohl auf immer und ewig in Morgans Retina gebrannt sein würde.
Der leblose Körper ihres Sohnes Ash, wie er auf der Straße lag. Der kleine Mann hatte kurz vor seinem vierten Geburtstag das Rad fahren gelernt und trotz Helm, Wimpel und all den Dingen, die seinen kleinen Körper sichtbar machen sollten, hatte ein Auto ihn angefahren.
Ashs Verlust allein war schon unerträglich für Morgan gewesen, aber die Vorwürfe, welche ihr nun Ex-Mann und sowohl ihre, wie auch seine Familie ihr im Nachhinein gemacht hatten, weil sie darauf bestanden hatte, Ash im Rad fahren zu unterrichten, waren es, die sie hierher in die Hütte ihres Großvaters getrieben hatten. Hier hatte sie alles, was sie brauchte. Selbst Internet und Telefon, wenn sie es denn wollte. Allerdings hatte sie hier vor allen Dingen ihre Ruhe, weil sich keiner aus der Familie hierher wagte.
Das Gelände gehörte Morgan allein und es war nicht nur durch Mauern geschützt, sondern auch durch ein Rudel Pitbull und Staffordshire Terrier, die nur ihr gehorchten und die sie und ihr kleines Geheimnis beschützten.
Leise quäkende Geräusche aus dem Nebenraum ließen Morgan aufmerken. Sie stand auf und legte das Skizzenbuch zur Seite. Abwesend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schob die Tür auf, die ins Kinderzimmer führte. Mit einem Lächeln hob sie den kleinen Körper ihres drei Monate alten Sohnes Jason aus dem Bett. Sie legte ihn sich an die Brust und hüllte ihn mit der Decke ein, damit er nicht fror. Der kleine Mann war wunderschön und sah Ash ähnlich.
"Mein kleines Geheimnis", flüsterte sie und wanderte zurück ins Wohnzimmer, um ihm die Eiskristalle zu zeigen, auch wenn er zu jung war, um zu verstehen, was sie so besonders machte.
Keiner hatte gewusst, dass Morgan schwanger war, als Ash ums Leben kam. Sie hatte all die Probleme, die sie hatte auf Ashs Tod und seine Beisetzung und den familiären Spießrutenlauf geschoben. Als ihr Mann dann die Scheidung verlangte, hatte sie einfach zugestimmt und war direkt nachdem die finale Unterschrift gesetzt war, in die Hütte verschwunden. Da sie ohnehin von zu Hause arbeitete, war es kein Problem, dass sie aus der Stadt heraus in die Hütte nahe des Lake Tahoe gezogen war.
Erst hier oben hatte sie festgestellt, dass da etwas unter ihrem Herzen heran wuchs und sie hatte Jason mit Hilfe einer in der Nähe lebenden Hebamme zu Hause zur Welt gebracht. Es war am Anfang schwer allein mit einem Säugling ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und sich um alles zu kümmern, aber nach drei Monaten hatte sie den Dreh heraus und schaffte es um Jasons Biorhythmus herum zu arbeiten. Es gefiel ihr hier und die Einsamkeit war ihr ganz recht.
Andererseits würde sie, wenn Jason älter war, dafür sorgen, dass sie öfter runter ins Dorf gingen, damit er Freunde fand. Aber bis dahin würde sie die Zeit mit ihrem kleinen Wunder zusammen genießen. Es schien ihr so, als wäre es genau das, was sie brauchte. Sie vermisste aus ihrem alten Leben nur eine Sache und das war Ash. Aber selbst der war in ihrem Herzen immer bei ihr und obwohl sie gedacht hatte, es würde mit seinem Tod zu einem Eiskristall erstarren, so hatte Jason seinem Namen alle Ehre gemacht und es geheilt.
Jasons leiser Protest ließ sie aufmerken und sie machte es sich vor dem Feuer gemütlich, um ihn zu stillen und ihm dabei von den Abenteuern seines großen Bruders zu erzählen. Abenteuer, die sie auch in Form eines Kinderbuches festhielt, damit Ash für immer greifbar blieb.
~Ende~