Am nächsten Morgen wage ich mich todesmutig zurück zum Dorf. Oder jedenfalls zum Fluss, den der Reiter offenbar nicht überqueren konnte. Und auch erst, nachdem die Sonne schon lange aufgegangen ist und die Geräusche aus dem Dorf herüberhallen: Das metallische Schlagen eines Schmieds auf dem Amboss, Kirchenglocken, Kinderlachen, all dieser Kram.
Der kopflose Reiter scheint wirklich fort zu sein. Erleichtert glättet sich mein Fell. Jetzt muss ich mir nur bis zum nächsten Abend eine Falle überlegen, und ich bin wenigstens einen Punkt auf meiner Einkaufsliste los!
Als ich den Fluss hinter mir lasse und zum Dorf laufe, sehen die Menschen mich schon wieder so misstrauisch an. Immerhin geht diesmal niemand mit einem Besen auf mich los. Ich suche nach jemandem, der auch mit mir reden würde. Keiner der Menschen, logischerweise, eher ein vernünftiges Tier. Das am besten etwas abseits der vielen Menschen steht. Man weiß nie, wann die plötzlich einen Besen finden! Doch zum Dorf muss ich: Ich muss ein wenig mehr über den Reiter wissen. Zum Beispiel, wie leicht er sich ködern lässt.
Bevor ich das Dorf allerdings erreiche, spüre ich auf einmal ein Kribbeln am Hals. Huch! Habe ich mich aus Versehen in Ameisen gelegt? Oder bin durch das falsche Unterholz gekrochen? Oh, Moment, das ist …
Es blitzt und brzzt, ich verliere die Kontrolle über meine Glieder. Kurz wird mir sogar schwarz vor Augen, als Strom durch meinen Körper jagt. Ich finde mich auf der Erde wider, neben einem Hühnerstall, und krieche verzweifelt in die Deckung.
Dieser verdammte Kittelträger! Es wird höchste Zeit, dass ich das Halsband loswerde.
Ich kann mich in den Schatten schleppen. Der nächste Stromstoß beweist mir, dass ich bisher völlig falschen Vorstellungen in Bezug auf diese merkwürdige Menschenkraft erlegen war. Ich dachte immer, Strom macht das Licht an. Nun, dieser Stromstoß knipst bei mir erst einmal die Lichter aus.
*
Als ich zu mir komme, liege ich im Stroh. Das ist nicht halb so weich, wie man meinen könnte, sogar im Gegenteil recht pickselig. Ehe ich jedoch ins Jammern geraten kann, bemerke ich, dass ich beobachtet werde.
Ich öffne die Augen vorsichtig ein wenig weiter und … habe einen Flashback zu dem brüllenden Monster, das aus der Tausendfarbengrotte ausgebrochen ist, die Bestie im Eis. Wie hat der Mensch es noch genannt? Tii-Recks?
Es sind viele Biester, allerdings sind sie ein Stück kleiner, und nachdem ich mich einmal von der Mordlust in ihren Augen losgerissen habe, fallen mir noch mehr Unterschiede auf. Diese Wesen haben Schnäbel und weißes Gefieder und wirken sogar ziemlich … plump?
„Book?“
Ich schlucke. Sie haben gemerkt, dass ich wach bin!
„Book book?“
„Ähm. Hallo.“
„Oh, hallo.“ Statt Gegacker antwortet eine braune Henne in bester Tiersprache. „Alles in Ordnung? Du bist hier zitternd reingekippt.“
„Tut mir leid, falls ich euch erschreckt habe.“ Ich stocke kurz, bevor ich mich erkläre, und sehe die Hühner an. Sie wirken neugierig, aber nicht erschrocken. Kein bisschen erschrocken. Einige gucken ein wenig hungrig. Nervös fahre ich fort. „Liegt an diesem Ding hier.“ Ich deute mit der Hinterpfote auf das Halsband. „Ich bin es aber bald los!“
„Echt? Du kannst ein Halsband öffnen?“
„Öffnen nicht direkt. Aber ich habe einen Deal mit dem Besitzer.“
„Mit deinem Besitzer, meinst du?“ Die Hühner sehen mich mit schiefgelegten Köpfen auf Vogelweise an. Sie nicken dabei unregelmäßig, immer wieder zieht eines ruckartig den Kopf ein und streckt ihn wieder. Das ist irgendwie unheimlich. Außerdem verstellt mir die Hühnermasse den Weg nach draußen.
Die Federviecher brauchen keine Basilisken, um gruselig zu sein!
„Nein, nein, der Kerl besitzt nur das Halsband, nicht mich!“
„Armer Wolf … das ist doch das gleiche.“
„Ist es nicht!“ Das fehlt mir ja noch. Ich bin ein Wolf, kein Hund! Ich rühme mich zwar, dass ich die Haushunde nicht halb so sehr verachte wie andere Wölfe, aber das heißt noch lange nicht, dass ich einer von ihnen werden möchte. Leben und leben lassen!
Die Hühner gucken mich immer noch unverwandt an.
„Nein, ich bin und bleibe ein freier Wolf!“, erkläre ich mit fester Stimme. „Und das Halsband bin ich auch bald los. Ich muss nur an die feuerfesten Augen von diesem kopflosen Reiter kommen, damit kann ich mich nämlich freikaufen.“
„Also besitzt er dich noch, bis du dich freikaufen kannst“, sagst ein satanisch aussehendes, schwarzes Huhn. „Mindestens noch einen Monat.“
„Er besitzt mich nicht, sondern … warte, was hattest du gesagt?“
Die Hühner tauschen Blicke. „Er besitzt dich, bis …“
„Nein, das danach. Wieso ein Monat?“
Die Hühner tauschen schon wieder Blicke. Oh-oh. „Na, weil“, ergreift ein weißes Huhn das Wort, „der Kopflose Reiter nur einmal im Monat auftaucht.“
„Nein!“ Fassungslos sehe ich die Vögel an. Das darf doch nicht wahr sein! Ich hätte es gestern aktiver versuchen sollen … Einen Monat mit Halsband? Das geht nicht! Wenn mich jemand sieht …!
Ich schiebe die Hinterpfote unter das Halsband und zerren mit aller Macht daran. Das. Ding. Muss. Weg!
Eine Weile sehen die Hühner meinem dreibeinigen Gehopse zu.
„Hör mal, vielleicht kann dir jemand helfen“, schlägt eines dann vor. „Jemand mit Daumen.“
„Das wäre besser, ja“, gebe ich außer Atem zu.
„Wir kennen da jemanden.“
„Echt?“ Ich hoppele etwas näher. Das eine Bein klemmt noch im Halsband. „Wo? Ist es weit?“
Die Hühner verneinen. „Komm einfach mit!“ Dann führen sie mich tiefer in den Hühnerstall, durch eine kleine Klappe auf einen Innenhof, der von Ställen eingegrenzt wird. Gräser blühen unter flatternden Schmetterlingen. Kühe und Ziegen schauen aus den Ställen und kauen Stroh, an der Seite trinkt ein Pferd laut Wasser aus einem dunklen Plastikeimer, den es offenbar bis zu seiner Stallbox gezogen hat. Eine Katze sonnt sich auf dem Stalldach und behält mich unauffällig im Auge. Da ich mein Hinterbein immer noch nicht freibekommen habe, sehe ich wohl nicht wie eine Bedrohung aus.
Und in der Mitte des Hofes sitzt der mysteriöse Helfer, der sofort von den Hühnern umringt wird. Allerdings ragt er über das Federgetier.
„Komm schon, Wolf!“
Ich bin allerdings wie angewurzelt stehen geblieben. Der Helfer ist ein Mensch! Einer mit einer Harke, die neben ihm am Schaukelstuhl lehnt.
Gut, im Nachhinein betrachtet hätte ich bei der Erwähnung von ‚Daumen‘ schon darauf kommen können.
„Das hättest du!“, antwortet der Unbekannte auf meine Gedanken.
Iek! Noch jemand, der in meinem Kopf herumwühlt!
„Du hast offenbar schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, doch hab keine Angst vor mir.“ Der Fremde beugt sich vor und lächelt warmherzig. „Ich sehe zwar so aus, aber ich bin kein Mensch. Ich bin ein Gott!“