Nachdem ich die Nacht in langsamem Tempo durchgelaufen bin, befinde ich mich kurz vor dem Dorf, als mir ein schriller Flötenton durch Mark und Bein geht. Und nicht nur mehr – auf den unvermittelten Schrei hin flüchten mehrere Vögel und die Scheiben eines nahen Hauses bersten.
Ich sehe mich panisch um. Nicht, dass das so ein Wolfsalarm ist! Aber dann fällt mir ein, dass ich die Tarnkappe immer noch trage. Die wollte ich erst im Dorf abziehen, denn es ist echt von Vorteil, unsichtbar zu sein. Jetzt fühle ich mich darin bestätigt und nehme Abstand von dem grässlichen Pfeifer.
Schon seit einer Weile kann ich intensiven Blumenduft wahrnehmen. Da kam mir die Idee, dass ich meinen Eigengeruch wenigstens kaschieren könnte. Nachdem beim Dorf nun so schrill geflötet wird, halte ich es für das beste Vorgehen, die Sache mit dem Geruch zuerst zu klären – in der Hoffnung, dass der Lärm danach aufgehört hat.
Die Blumen wachsen am Flussufer, scheinbar direkt außerhalb des Bereichs, der für die Menschen noch als zum Dorf zugehörig empfunden wird. Weiter flussaufwärts beginnen die Felder, Obstwiesen und Weiden. Und auch die scheinbar verwilderten Flächen tragen Spuren der Menschen. Da wachsen zu wenig Brennnesseln oder Pflanzen wie diese Blumen, die einen unfassbaren Aasgestank ausströmen. Ihre weißen Blüten sind vielleicht schön anzusehen, aber die Menschen wollten sie sicher nicht dulden.
Das ist nicht der hübsche Blütenduft, den ich mir aussuchen würde, wenn ich könnte, aber der Gestank wird sehr viel intensiver sein und länger vorhalten. Es ist eine objektiv vorteilhafte Wahl. Subjektiv dagegen … ich wünschte, ich wäre nicht dazu gezwungen!
Widerwillig rolle ich mich durch das Blütenmeer, kleistere mich vollkommen mit dem Gestank ein. Danach sieht der Fluss für mich trotz all der unangenehmen Abenteuer schon fast wieder verlockend aus. Fast! Ich weiß, dass ich mit dem Bad auf jeden Fall noch warten muss.
Schließlich kehre ich etwas stinkender zurück auf den Weg, der zum Dorf führt. Das Gedudel ist allerdings immer noch nicht verstummt. Mit angelegten Ohren biege ich vom Weg ab und folge dem Lärm. Den Gestank kann ich ja ertragen, aber das Piepsen will ich mir nicht antun!
Ich erreiche auf meiner Suche nach dem Übeltäter ein kleines Tal im Hügelland weiter vom Job entfernt. Hecken und einige Birnbäume schaffen eine gut geschützte Laube, in der ein einzelner Mann auf einer Bank sitzt und … Flöte spielt.
Ich bleibe stehen. „Du bist für den Lärm verantwortlich!“
Der Mann lässt seine Flöte fallen und stürzt von dem Baumstumpf, auf dem er saß. „Was?“
Oh. Ich bin noch unsichtbar. Etwas umständlich streife ich die Tarnkappe von meinem Kopf.
„Oh.“ Der Mann hat sich wieder auf die Knie aufgerichtet und starrt mich an. „Ich … muss so ins Flötenspiel versunken gewesen sein, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass es endlich wieder funktioniert.“
„Was funktioniert?“ Er macht das absichtlich?!
„Meine Flöte!“ Der Mann hebt einen längeren Ast mit regelmäßigen Löchern drin. Dabei klimpern diverse Glöckchen, die an seiner bunten Kleidung befestigt sind.
„NEIN!“, quieke ich. „Nicht wieder spielen.“
„Oh. Es … es funktioniert doch nicht.“ Traurig klimpernd sieht der Musiker zur Erde.
„Kommt drauf an. Wolltest du alles Leben im Umkreis verschrecken?“
„Nein! Ich wollte Tiere anlocken. Also, spezielle Tiere. Ratten. Eigentlich sollte die Flöte sie anlocken, aber sie ist verstimmt. Einen Moment.“
Er holt ein merkwürdiges Gerät hervor, einen kleinen, zweigeteilten Stab aus Metall, den er gegen einen Stein schlägt. Ein helles Klingeln folgt, das in meinen Ohren schrillt. Der Musiker hebt die Flöte mit der freien Hand an die Lippen und versucht, den Ton nachzumachen.
„Was ist das?“, frage ich schnell, um ihn zu unterbrechen.
„Die Flöte?“
„Nein, das andere Ding.“
Er hebt das kleine Objekt ins Sonnenlicht. „Das? Das ist eine Stimmgabel. Sie gibt einen speziellen Ton vor, der als Basis für alle Töne der Flöte gelten wird. Wenn ich den Grundton nicht hinkriege, ist alles verloren.“
Er tutet ein paar Mal in das Röhrchen der Flöte und beugt sich dann mit einem kleinen Messer darüber. Offenbar stimmt man Flöten auf die Weise. Ich bin nur froh, dass er gerade nicht spielt.
Während ich hinsehe, britzelt das Halsband warnend. Ach wie schön, der Kitteltyp lebt also auch noch! Diesmal jagt er mir keinen Stromstoß in den Leib, er erinnert mich nur daran, dass meine Zeit abläuft.
„Verzeihung, Herr Instrument-Folterer?“
Der Flötenspieler sieht auf. „Ja?“
„Nur eine Frage … weißt du, wie lange es her ist, dass dieser Typ mit dem Kürbiskopf im Dorf war?“
„Oh, das ist jetzt acht Tage her! Ich stelle immer sicher, dass ich frühestens eine Woche später hier bin!“
Ich japse nach Luft. Acht Tage! Ich bin schon acht Tage unterwegs.
Das heißt, mir bleiben noch zwanzig, um den Götterzorn zu kriegen. Was, angesichts meiner bisherigen Fortschritte, durchaus machbar erscheint. Trotzdem überrascht es mich, wie viel Zeit vergangen ist. Diese zwischenzeitigen Aussetzer sind … nicht hilfreich!
„Danke“, murmele ich. Jetzt habe ich immerhin wieder eine Vorstellung von meinem Zeitplan. Zwanzig Tage. Das ist ja eine halbe Ewigkeit!
„Gern geschehen. Sag mal, klingt das jetzt besser?“ Ohne weitere Vorwarnung spielt der Flöter wieder. Ich höre eine letzte Scheibe irgendwo in den naheliegenden Häusern bersten. Und es ist, als würden sich alle Punkte plötzlich zu einem größeren Ganzen verbinden und sich zu einem Bild zusammensetzen.
Es ist so logisch!
Ich springe vor, packe die Flöte und reiße sie aus dem Griff des gescheiterten Musikers. Dann renne ich los, ehe die schellenbesetzten Hände mich greifen können.
„Hey! Komm sofort zurück! Wie soll ich das Rattenproblem hier ohne Flöte lösen?“
Ich denke nicht mal im Traum daran, umzukehren. Nein, ich habe endlich, was ich brauche. Diese Flöte kann Glas zerspringen lassen – also mit Sicherheit auch ein Heiliges Swear Glass!
Ich habe endlich einen Weg gefunden und noch massig Zeit. So gut wie jetzt sah es schon lange nicht mehr aus!