Habt ihr schon mal ein Seil durchgebissen? Wahrscheinlich nicht – die meisten meiner Leser haben wohl diese Dinge, die man Daumen nennt. Eine unfassbar praktische Erfindung, das macht ihr euch gar nicht bewusst! Damit kann man zum Beispiel Knoten lösen.
Ich muss mich auf meine Zähne verlassen. Damit komme ich meist gut zurecht, aber während eines Vulkanausbruchs habe selbst ich noch nie ein Seil durchgebissen.
Die Erde bebt. Eine dichte, schwarze Qualmwolke verdeckt den Himmel. Beißender Gestank liegt in der Luft, Brocken brennenden Gesteins prasseln auf die Erde und die Lava, die aus dem Krater spritzt, kriegt langsam in unsere Richtung.
Manchmal frage ich mich ja, wo ich im Leben falsch abgebogen bin, um immer wieder in solchen Situationen zu landen!
Endlich habe ich das Seil durchgekaut, die Enden fallen zur Erde und die Opfergabe stolpert erleichtert fort vom Pfahl. Sie rennt bergab, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Nun gut, sie nimmt vermutlich an, dass ich ihr folgen würde, wie es jeder vernünftige Wolf in dieser Situation täte. Und ein wachsender Hundeteil in mir will wirklich seinem zweibeinigen Rudel folgen. Ein noch größerer Teil von mir möchte flüchten, aber irgendwie schafft es der störrische Teil mit dem Plan, stehen zu bleiben.
Ich kann noch nicht gehen. Nicht ohne den Gotteszorn!
Entschlossen nehme ich eine Kokosnussschale auf, die neben meinen Pfoten liegt, ein Teil des Stapels an Opfer-Obst. Dann funkele ich über die Schale in meinem Maul entschlossen zur Lava, als ich merke, dass es irgendwie still geworden ist.
Tatsache – das Rumpeln verklingt langsam. Die Rauchwolke hängt zwar noch über mir, regnet aber keine Geschosse mehr ab. Sogar die Lava kriecht irgendwie langsamer voran.
Ich richte mich auf und lege ein Ohr an. Ist das diese berüchtigte Ruhe vor dem Sturm?
Sogar die junge Frau unten hat angehalten. Verwirrt sieht sie wieder nach oben.
Dann erklingt ein Brausen, das ich zunächst für den Wind halte – bis ich ein Wort in dem langen Atemzug erkenne: „Daaaaaaaankeeeeee.“
„Danke?“ Ich lasse die Kokosnussschale zum Sprechen fallen. „Danke wofür?“
„Daaaaass duuuuu siiiiieeee geeeereeeeeeeeeetteeeet haaaaast.“
Der Unbekannte spricht langsamer als Baumbart. Seine Stimme erinnert eher an ein langes Stöhnen. Es fühlt sich an, als würde man im stetigen Strom eines Mundgeruchs stehen. Nur dass dieser Atem nach Schwefel riecht.
„Wer … bist du denn?“ Ich habe einen Verdacht. Hoffentlich täusche ich mich.
„Deeeeer Vuuuuulkaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan.“
Mist. Und uff, was für ein Gestank! „Bist du nicht sauer? Weil ich deine Opfergabe gestohlen habe?“
Die junge Frau kommt gerade sogar wieder nach oben. Sie hält sich einen Arm vor das Gesicht. „Du wolltest mich gar nicht töten?“
„Neeeeeiiiiin. Daaaaas deeeeenkeeeeen diiiieeee Meeeeenscheeeeen nuuuuur. Iiiiiiiiich haaaaaasseeeeeee Ooooopfeeeeeeruuuuungeeeeeeen.“
Okay, den Rest fasse ich mal zusammen. Muss ja nicht jeder diesen Rachengully ertragen, und es sieht geschrieben auch echt nicht hübsch aus!
Wie sich herausstellt, wollte der Vulkan nie, dass ihm Opfer erbracht werden. Die Bewohner des Dorfes haben nur irgendwann erfahren, dass hier, relativ nah, ein Vulkan steht. Da sind sie davon ausgegangen, dass sie diesen besänftigen müssen, weil man das eben so tut. Wenn der Gott sie zornig zurückrufen wollte, sind sie geflohen, statt auf ihn zu hören.
Die junge Frau bietet sofort an, ihr Dorf aufzuklären, um die Leben anderer junger Frauen zu retten. Offenbar wird alle zehn Jahre eine geopfert, was für die Menschen im Dorf ein vernünftiger Preis erschien. Andere Vulkane kriegen bis zu drei Frauen jährlich!
Der Vulkan meint dazu, dass er wohl noch Glück gehabt hat.
„Ich werde das beenden“, sagt die junge Frau entschlossen. In diesem Moment platzt mein Frust aus mir heraus.
„Dann bist du nicht mehr wütend? So ein Mist!“
Die gerettete Opfergabe sieht mich an. „Was?“
„Waaaaaaaaaaaas?“, fragt auch der Berg.
„Ich wollte dich wütend machen, nicht helfen!“, erkläre ich aufgebracht. „Du solltest dich ärgern, dass dein Opfer weg ist! Ich brauche dringend eine Portion Gotteszorn, kein gutes Karma.“
„Wiiiiiiieeeee biiiiiitteeeeee?“
„Wie bitte?!“, quiekt auch die Frau.
Boah, die beiden sind ja ein Dreamteam. Muss ich das jetzt echt nochmal erklären?
„Du wolltest mir gar nicht helfen? Das hast du nur getan, weil es den Berg wütend machen sollte?“
„Ach, du hast es ja doch verstanden!“ Menschen sind so klug! – Mist, Klappe, Hundefluch!
Im nächsten Moment ducke ich mich unter einer fliegenden Papaya hinweg. Jetzt ist die falsche Person wütend. Wieso muss immer alles so schieflaufen?
„Du Mistkerl! Ich dachte, du wärst nett!“ Zornig dreht die gerettete Frau ab und stapft den Berg wieder runter.
Hier oben ist die Lava bereits erkaltet. Mutlos lasse ich den Kopf hängen. Das war es wohl mit meinem Gotteszorn.
„Koooooooopf hooooooch.“
Ich sehe auf. „Danke, dass du mich nicht auch anschreist.“
„Daaaaaaas wüüüüürdeeee iiiiich niiiiieeee maaaaaacheeeeeen. Duuuuu haaaaaast ooooooffeeeeensiiiiichtliiiiich viiiieeeeeel Streeeeesss. Uuuuuuund eeeeeiiiiigeeeeentliiiiich biiiiin iiiiiich eeeeeeiiiiin neeeeetteeeeer Keeeeerl. Woooooofüüüüüüüür braaaaaauuuuuchst duuuuu deeeeeeen Zooooooorn deeeeeeenn?“
Zögerlich berichte ich dem Berg von meiner Queste. Für einen Vulkan ist er echt verständnisvoll, obwohl ihm viele Sachen nichts sagen. Als Berg ist er nicht so viel herumgekommen und weiß deshalb wenig mit Meerjungfrauen oder Wichtelvölkern anzufangen. Aber der Regen hat ihm offenbar oft von fernen Ländern erzählt.
Schließlich sagt – oder haucht – der Berg etwas, das mich auf eine neue Idee bringt. Wie wäre es, wenn ich die Götter nicht auf mich zornig mache, sondern auf jemand anderen? So muss ich nicht gleichzeitig als Köder und Zorneinsammler fungieren, sondern kann mich auf eine Sache konzentrieren.
Und er rät mir, zunächst etwas zu suchen, was alle Götter sauer machen würde. Was auch echt logisch klingt. Dann brauche ich mir nicht jedes Mal einen speziellen Plan ausdenken, sondern kann immer auf meinen Masterplan zurückgreifen.
„Und was hassen alle Götter?“
„Daaaaas muuuuuuusst duuuuu seeeeelbst heeeeeraaaaauuuusfiiiiindeeeen. Iiiiich treeeeeeffeeeee diiiiieeee aaaaaandeeeereeeeen Gööööötteeeeer leeeeeeiiiiideeeer niiiieeee.“
Klar. Hätte ich draufkommen können. Was soll er auch machen, zum Tee vorbeiwandern? Und dabei ganze Landstriche verwüsten?
„Jedenfalls vielen Dank. Und, ähm … Ich hoffe, das Dorf besinnt sich jetzt und ich konnte immerhin etwas Gutes bewirken.“
Mein merkwürdiges Gespräch endet, wie es begonnen hatte: „Daaaaaaaankeeeeee.“