Wie immer, wenn ich etwas nachlesen muss, steht mein Ziel bereits fest: Die Wikiobiblika!
Dorthin zu gelangen, ist zum Glück nicht zu schwierig. Es gibt eine Menge Wurmlöcher und Weltenrisse, die am Ende in die heiligen Hallen der größten Bibliothek führen.
„Marvin!“
„Marv!“
„Hey, Grau…hund?“
Ich bin fast sofort von Neugierigen umringt und muss die Sache mit dem Halsband und dem Fluch erklären. Dann gibt es Essen und jemand bringt Kakao. Eigentlich mag ich Schokolade nicht. Für Wölfe schmeckt die einfach nur bitter. Aber ich merke, dass ich mich daran gewöhne.
„Hey, Schokolade ist doch giftig für Hunde.“
Wow. Man lernt hier immer was Neues! Ich schlabbere weiter.
Jemand schnappt sich meine Tasse.
„Ey! Ich bin kein Hund!“
„Für Wölfe gilt das sicher auch!“
Schließlich kommt aber die Frage auf, warum ich hier bin. Stimmt ja, da war was mit Zeitdruck und so.
„Ich muss Götter recherchieren.“
„Maaarvin! Was hast du jetzt wieder getan?“
Das verrate ich besser nicht!
Etwas später bin ich umgeben von Bücherstapeln, die eine kleine Burg um mich herum bilden. Bei so viel Lesematerial kann ich mich nicht mal eben in ein Versteck zurückziehen. Zum Glück bilden die Bücher eine Mauer, also ein eigenes Versteck.
Ich sollte mich auch nicht wieder richtig verkriechen. Diesmal habe ich kein ganzes Jahr Zeit!
Also stürze ich mich direkt in die Recherche über verschiedene Götter und Religionen. Wusstet ihr schon, dass es einen ägyptischen Gott namens Aha gab? Der Gott von Tanz und Musik, auch ‚Der Kämpfer‘ genannt, er beschützte Mutter und Kind. Und er hat ein weibliches Pendant namens Ahat.
Aber die beiden sind noch nicht so schlimm wie der Gott Aa.
Und wusstet ihr schon, dass es im Judentum verboten ist, fleischige und milchige Speisen gemeinsam zu verzehren? Je nachdem, wie streng eine Familie das auslegt, haben sie sogar doppeltes Geschirr – Besteck, Teller, Töpfe und so weiter – um wirklich jeden Kontakt auszuschließen. Milchgeschirr und Fleischgeschirr. Fisch gilt dabei als parve, als neutrales Lebensmittel, darf aber nicht zusammen mit Fleischigem gegessen werden. Nach manchen Auslegungen auch nicht mit Milch zusammen. Oder höchstens in Butter gebraten werden. Spannend!
Ähnlich sind die Zahlkategorien im Japanischen. Dort werden zählbare Objekte in Gruppen sortiert, die andere Zahlworte haben. Das gibt es im Deutschen sogar so ähnlich, beispielsweise kann man nicht ‚zwei Tee‘ trinken, sondern ‚zwei Tassen Tee‘. Im Japanischen ist es jetzt so, dass die Tasse Teil des Zahlwortes wird. Und die Kategorien sind lustig. Da gibt es Flüssiges und Festes, aber auch flache Gegenstände – etwa Papier. Wenn man jetzt aber ein Buch hat, gilt das nicht als flacher, sondern als gebundener Gegenstand. Bei Tieren wird zwischen großen und kleinen Tieren unterschieden. Leider schreibt niemand dazu, wo genau da die Grenze gezogen wird. Außerdem gibt es eine gesonderte Kategorie für Fische, und eine für Vögel und Kaninchen. Warum Kaninchen? Zählen Hasen denn dazu? Ist es, weil ihre Ohren wie Flügel aussehen? Ist das, weil die alten Japaner Kaninchen früher nur im Griff von Greifvögel gesehen haben?!
Ich merke selbst, dass ich mich mal wieder vom Thema entfernt habe. An diesem Ort kommt man manchmal ein wenig vom Weg ab. Aber es ist ja nicht ein jeder, der wandert, verlor'n! Also kehre ich schweren Herzens zurück zu den Göttern.
Die griechischen Götter würde ich gerne überspringen. Was die sich an Strafen ausdenken, wenn man sie wütend macht! Allerdings möchte ich auch keine sieben Plagen riskieren. Oder gleich eine weltenvernichtende Schlange! Was müssen Götter auch immer so mächtig sein?
Ich suche und suche. Ab und zu halte ich inne, gerade, wenn Lyssa sich Notizen für Geschichten macht, aber die meiste Zeit lese ich eifrig. Nur das Rascheln umschlagender Seiten erklingt.
So brauche ich eine Weile, um zu merken, dass eine weißgekleidete Gestalt neben mir steht. Die Wikiothek hat sich heute wieder als Mensch präsentiert.
„Marvin …?“
Sie fragt offenbar nicht zum ersten Mal. Schuldbewusst hebe ich den Kopf. „Festgelesen. Tschuldigung.“
„Alles gut. Ich wollte nur fragen, ob du diesmal wieder Zeitdruck hast. Damit ich dir rechtzeitig Bescheid sagen kann. Nicht, dass du wieder zu viel Zeit hier verplemperst.“
„Das ist nett!“ Daran hätte ich mal wieder gar nicht gedacht. „Ich habe noch 15 Tage.“
Die Wikiothek schweigt.
Ich schweige auch und denke nach. Ein paar Mal hat mich das Halsband gekitzelt, seit ich hier bin …
„Von deiner Ankunft hier gerechnet, ja?“
„War das nicht heute?“, frage ich kleinlaut.
Die Wikiothek schüttelt den Kopf. „Vor zwei Wochen. Marvin – du hast noch zwei Tage. Eher einen, denn es ist schon Abend!“
Ich reiße die Augen auf. Was? Wie konnte mir das schon wieder passieren?!
Ich starre zu den gestapelten Kakaotassen an einer Seite meines Nests. Okay, die passen zu zwei Wochen Lesen …
„Ich kann jetzt nicht aufräumen“, meine ich entschuldigend. „Ich muss sofort los!“
„Viel Glück!“, ruft die Wikiothek mir nach. „Keine Angst, wir kümmern uns darum!“
Ich stürme zur Tür und zu meinem vertrauen Wurmloch, das mich gar nicht weit von dem kleinen Dorf entfernt ausspuckt. Dabei rast mein Herz wie verrückt.
Mist, Mist, Mist! Das ist übrigens eines der wenigen Schimpfwörter, die ich noch benutzen kann. Mist, verdammt und zugenäht!
So viel dazu, dass ich noch Zeit hätte. Ich trotte durch hohes Gras, das noch warm ist vom Sonnenschein des Tages. Am Himmel zaubert der Sonnenuntergang ein Panorama aus Violett und Rot und Gold. Als ich mich dem Dorf nähere, reift jedoch ein Entschluss in mir.
Erst einmal ist mir aufgefallen, wie leer die Straßen sind. Aber endlich habe ich auch etwas gefunden, ein Thema, dass sich in den Göttersagen immer mal wiederholt. Etwas, das Götter auf den Tod nicht ausstehen können.
Jetzt muss ich nur hoffen, dass dieser letzte Tag genügt, um meinen Plan umzusetzen!