Der etwas weniger einfachere als der ganz einfache Weg stellt sich als ziemlich trickreich heraus. Der Sturm ist jetzt voll aufgezogen und wütet um den Berg herum. Ein bisschen erinnert es an ein wütendes Kind, das im Raum herumstampft, nachdem es geschimpft wurde. So ein Kind, das nicht weiß, wohin es mit seinem Ärger soll, und einen treuen Hund an seiner Seite bräuchte, um …
Was denke ich da schon wieder? Ich muss mich definitiv mit dem Evolutionsgott wieder gut stellen!
Erst einmal muss ich aber überleben. Ringsum stürzen Regenmassen wasserfallartig über die Berghänge. Mein Fell ist völlig durchtränkt. Schnee und Hagel wirbeln mit den Tropfen um die Wette, Blitze fassen nach jedem höheren Ästchen der Bäume, die ihr Leben erst mühsam von der hohen, kargen Bergseite erkämpft hatten.
Die Luft schmeckt metallisch auf der Zunge und meine Haare stehen zu Berge. Ich suche die Deckung größerer Felsen und schlage einen Bogen um alleinstehende Bäume. Zu recht: Nicht weit entfernt schlägt ein Blitz ein und spaltet eine alte Kiefer, deren Stamm zerspringt. Im Inneren glüht Feuer, dessen Knacken ich selbst durch den Sturm höre.
Nein, das möchte ich mir wirklich nicht aus der Nähe ansehen! Schon jetzt sind meine Augen von dem Einschlag geblendet, und ich war ein ganzes Stück entfernt und habe nicht mal richtig hingesehen!
Ich finde einen tröstlichen Graben, der sich durch das Gestein zieht. Jetzt ist es natürlich ein Bachlauf, der sich vom Regen gebildet hat, und das strömende Wasser reicht mir bald bis zum Bauch. Ich habe mich aber, zugegeben, auch etwas geduckt. Trotzdem bin ich immer noch lieber nass als tot.
Über den Weg erreiche ich den tiefer gelegenen, dichteren Wald, wo ich mich schließlich aus dem Bachbett wage. Die Bäume werden vom Wind geschüttelt, der Regen rausch immer noch in Strömen und der Boden ist durchtränkt. Ich hoffe darauf, dass kein Blitz in meiner Nähe einschlägt. Eigentlich müsste ich ja auch sicher sein, immerhin ist die Wahrscheinlichkeit, zweimal vom Blitz getroffen zu wird…
Brrrzzzzt!
Als ich wieder zu mir komme, ist der Sturm ein Stück weitergezogen. Ich fühle mich … erstaunlich lebendig. Langsam richte ich mich auf und schüttele etwas Erde aus dem Fell.
Neben mir kokelt ein Baum vor sich hin, der offenbar die Hauptlast des Blitzes abgefangen hat. Ich neige respektvoll den Kopf, um ihm für sein Opfer zu danken. Dabei ziept das Halsband mehr als üblich. Ich hebe eine Hinterpfote und versuche, mich zu kratzen.
„Au!“ Ein Stromstoß lässt mich hüpfen. Höh? Das muss ich sofort nochmal probieren!
„Au! Au! Verstanden, es klappt! Au!“
Was meine direkte Rede damit indirekt ausdrücken will, ist Folgendes: Ich kann die Stromstöße triggern. Dazu muss ich nur etwas am Halsband zupfen, das offenbar beim Blitzeinschlag auch einen abgekriegt hat. Warum ich das weiterhin teste? Das kann ich leider auch nicht erklären. Ich schätze, damit ich in Zukunft genau weiß, wie ich mich nicht am Hals kratzen sollte!
Nachdem das zur Genüge getestet ist, sehe ich mich um. Der Regen lässt allmählich nach. Also kann ich zum Fluss zurückkehren. Das hohe Gras ringsum duftet wunderbar nach Regen, ebenso schön ist der Geruch der nassen Erde. Den Bergpass habe ich bei meinem Ausflug hinter mir gelassen und sehe nun wirklich das kleine Dorf vor mir, in dem der kopflose Reiter spukt.
Ich muss nur ein paar Schmerzen ertragen. Nach dem zweiten Blitzeinschlag tut meine Haut nämlich doch etwas weh. Nichts, was sich nicht rauslaufen würde, aber dieses Abenteuer hat mir zu denken gegeben.
Ja, die Nummer mit der Bergspitze im Sturm ist ein Klassiker, aber vielleicht sollte ich mir etwas anderes überlegen. Langsam habe ich das Gefühl, dass ich die Sache falsch angegangen bin. Ich sollte es mir nicht wahllos mit allen mächtigen Wesen verscherzen – auch wenn ich scheinbar nichts anderes tue. Vielleicht wäre es eine bessere Lösung, mit kleinen Göttern anzufangen.
Ja, jetzt, wo ich es laut denke, kommt es mir auch logisch vor. So ein kleiner Gott kann mich nicht mal eben verfluchen. Oder mich mit einem nachlässigen Blitz, der nicht mal auf mich zielte, töten! Kleinere Götter schnipsen einen auch nicht mal eben in den Ozean, wenn man unbequeme Fragen stellt. Ich meine, so ein kleiner Gott, was kann der schon? Ich halte das für einen perfekten Plan. Ich suche mir jemand neuen, in meiner Gewichtsklasse sozusagen. Einen Gott auf Augenhöhe.
Wieso höre ich das fiese Geflüster von wegen, dann sollte ich mir den Gott der Haselmäuse suchen?
Während ich weiterhin auf das Dorf zulaufe, meldet sich allerdings Lyssa. Meine Fantasie ist wie immer sofort Feuer und Flamme, wenn sie hört, dass es Pläne zu schmieden gibt. Also malt sie fleißig Götter, die sicherlich alle fiktiv sind, und dramatische Kampfszenen, in denen ich gegen diese vorgehe.
Ein Kampf vom Grauwolf gegen den Gott der Essstäbchen, untermalt von Musik aus altmodischen Kung-Fu-Filmen. Der Wettstreit gegen den Gott des Schachspiels – der ist wohl wiederum zu groß, denn ich verliere. Ein Rapbattle gegen den Gott der Reime. Bällchen-Bombardement im Heiligen Bällebad des Gottes vom Småland.
„Lys? Jetzt wird es unrealistisch.“
Die Bilder wechseln zu einem Wolf auf der Spitze eines Berges, der einem hammerbewehrten Gott einen Ast mit daran befestigter Fluchmünze entgegenhält.
„Schon in Ordnung!“, lenke ich rasch ein. „Also gut, wenn wir hier nichts finden, wird es das aus branchenrechtlichen Gründen nicht näher benannte Möbelhaus!“
Zufrieden kehrt Lyssa zu den ausgemalten Kampfszenen zurück. Sie driftet allerdings ab. Eine blonde Elfe auf einem großen, pechschwarzen Drachen führt eine Armee gegen eine Art riesigen Dämon aus Flammen und Dunkelheit. Ein geflügelter Löwe an der Spitze einer riesigen Gruppe verschiedenster Tierarten rennt über eine Autobahn, ihre Pfoten, Hufe und Krallen, von einem unwirklichen Licht umhüllt, reißen das Pflaster auf, sodass sprießendes Grün darunter zum Vorschein kommt. Ein junges Mädchen mit bandagierten Augen tritt auf einem Berg aus einer Höhle heraus und scheint blind über das Land zu sehen …
„Lys! Spoiler!“ Die Geschichten will ich mir für später aufheben.
Beleidigt verzieht sich meine Fantasie ein Stück und kritzelt nur noch in meinen beiden Augenwinkeln kleine, kritzelige Strichmännchen im Schwertkampf.
„Wo warst du überhaupt die ganze Zeit? Ich hätte ein wenig Input gebrauchen können!“
Im nächsten Moment fürchte ich eine Sekunde, dass ich blind geworden bin. Erst langsam weicht der blaue Balken vor meinen Augen zurück, sodass ich seine Form erkennen kann. Es ist ein Pfeil in Lyssablau, der zur Seite zeigt.
Auf eine Mühle, die an einem Seitenarm des Flusses steht. Das leise Quietschen des Mühlrads ging mir schon eine Weile auf die Nerven. Krähen kreisen über dem schiefen Dach des düsteren Baus und krächzen unheilverkündend. Die Fenster sind dunkel, das Holz angelaufen, das Gras ringsum verwildert, und doch kann ich Bewegung erahnen. Da huscht ein Schatten am Fenster vorbei, dort hallt eine zuschlagende Tür. Mehl weht wie Sand über den Hof und bildet geisterhafte Gestalten, die Lyssa sofort zu gruseligen Horrorwesen weiterzeichnet.
Ich schlucke. „Verstanden.“ Dann werde ich mal in der Gruselmühle nachsehen und nach dem Weg zum nächsten kleinen Gott fragen!