Ich schlage am Fluss nicht den Weg zum Dorf ein, sondern gehe nochmal zurück Richtung Meer. Bei meinem Abenteuer im Gebirge hatte ich dort nämlich etwas gesehen. Damals war es zu stürmisch, um sich das genauer anzusehen, doch heute, bei friedlichem Wetter, entdecke ich schließlich ein großes Portal mit riesigen Torflügeln, umrahmt von einem reich verzierten Bogen.
In Bergen nahe an großen Flüssen kann man sich normalerweise nicht vor solchen Anlagen retten, und auch dieser Berg ist keine Ausnahme!
Ich steige hinauf bis vor die riesigen Türen. Die Dinger sind wohl für Trolle gebaut, und zwar so, dass die Trolle sich klein und unbedeutend fühlen. Das sind sicherlich zwanzig Meter Höhe! Unfassbar. Ob sich die Türen überhaupt bewegen lassen?
Ich drücke versuchsweise dagegen. Nichts. Also sehe ich mich nach Klinken, Knäufen oder einem nur im richtigen Mondlicht sichtbaren Schlüsselloch um. Doch es ist nichts zu sehen. Die Türen sind vollkommen glattpoliert, weiß mit einer bläulich-grauen Maserung. Und es scheint wohl nicht das richtige Licht für Zauberrunen zu herrschen – falls hier was ist.
Ich trete ein wenig zurück und versuche eine Taktik, die mir seit einer Weile immer natürlicher vorkommt: Ich hoffe, dass ein Mensch das Problem lösen kann! Ja, es ist immer noch der Hundefluch. Irgendwann wird der mich noch in ernste Schwierigkeiten bringen!
„Hallo?“, rufe ich. „Ist da jemand? Könntet Ihr die Tür öffnen?“
Zur Unterstützung – falls ich auf jemanden stoße, der mich doch nicht versteht – kratze ich am Steinportal.
„Hallo? Hilfe! Ich brauche Unterstützung!“
„Ja, ja, ja!“, kommt eine genervte Stimme von drinnen. „Geh mal ein Stück zurück, sonst kann ich nicht aufmachen!“
Ich tapse verwundert nach hinten. Die Torflügel schwingen auf – und zwar nach außen. Federleicht und nahezu lautlos, nur begleitet von einem leisen Windgeräusch, als die Luft im Inneren entkommt.
Gut. Vielleicht hätte ich das auch selbst hinbekommen …
In dem breiter werdenden, dunklen Spalt der hohen Torflügel marschiert eine bärtige Gestalt heraus, die mir kaum bis zur Brust reicht. Der Zwerg bleibt stehen, hebt den Kopf und blinzelt finsteren Blickes zu mir herauf. Er stemmt die kleinen Fäuste zu beiden Seiten seines runden Bauchs in die Taille. „Ein Wolf? Und da quäkst du so elendig um Hilfe?“
Immerhin erkennt er mich als Wolf! Das ist schon nicht mehr selbstverständlich zwischen all diesen Meerjungfrauen und Prinzessinnen! Aber der Rest … „Na, hör mal, ich habe doch nur in einem ganz vernünftigen Tonfall …“
„Vernünftig? Gewinselt wie ein frierender Welpe hast du!“
Autsch. An dem Zwerg hätte der Gott der kreativen Beleidigungen sicherlich auch seine Freude.
„Bist du verletzt?“, fragt der Zwerg unfreundlich.
„Ähm. Nein, nicht wirklich.“
„Dann war der Tonfall auch nicht angemessen! Eine freundliche Bitte hätte es getan.“
Für einen kurzen Moment dachte ich ja, der Zwerg wäre auf mürrische Art hilfsbereit gewesen. Ich lege die Ohren an. „So freundlich wie du gerade, meinst du, hm? Was ist, habe ich dich beim Zählen deiner Goldmünzen gestört? Bist du mit dem falschen Holzschuh aufgestanden oder hast dir den Bart noch nicht richtig gewickelt?“
Ich höre den Zwerg erschrocken nach Luft japsen. Dann wird sein Blick so finster, dass es prompt zu schneien beginnt. „Was willst du hier?“, fragt er mit einer Stimme wie gefrorener Stahl und so ruhig wie das Watt, von dem sich das Meer für einen ausgewachsenen Tsunami zurückgezogen hat.
Ich schlucke. War da nicht was mit einem Plan, für den ich vielleicht etwas subtiler vorgehen sollte? Die meisten Zwerge reagieren nicht sehr positiv darauf, wenn man ihnen die Tarnkappe klauen will.
„Also, ähh … ich wollte mal Hallo sagen.“
„Hallo.“ Der Zwerg versucht, mich rauszuschieben, zweifellos, damit er die Tür schließen kann. Zum Glück habe ich mich rechtzeitig in die Öffnung gepflanzt.
„Ich bin Tourist und würde gerne mehr über diesen Ort erfahren.“ Ich nehme die Pfote nach hinten, gegen die er drückt. „Ist das hier eine Art Kirche?“
Der Zwerg setzt sich vor Schreck auf seinen Hosenboden. „Eine Kirche? Eine Kirche! Hier ist der berühmte Nie-gelungen-Schatz verborgen! Ich bin sein Hüter!“
„Und die Aufgabe nimmst du sehr ernst, nicht wahr?“ Ich schmunzele, stolz darüber, wie es mir gelungen ist, die Wahrheit aus ihm herauszukitzeln. Ein bisschen gespielte Naivität wirkt manchmal Wunder.
Der Zwerg bemerkt mein Grinsen allerdings – er hat ein echt gutes Verständnis von Wolfsmimik, an solche Gesprächspartner bin ich nicht gewöhnt – und sieht mich argwöhnisch an.
„Nur, damit das klar ist, Fenrir-Spross, dieser Schatz wird bewacht und geschützt. Denk nicht mal daran, auch nur eine Münze klauen zu wollen!“
„Was soll ich denn mit einer Münze?“ Die letzte, die in meinem Besitz war, hat mich grundlegend von allen Bedürfnissen nach Gold geheilt. „Ich bin doch nicht wegen des Schatzes hier.“
„Sondern …?“
Oh-oh. Themenwechsel! „Außerdem habe ich nichts mit Fenrir am Hut!“
„Du bist ein Wolf. Alle Wölfe sind Nachkommen von Fenrir.“
„In dieser Welt vielleicht, aber ich bin, wie gesagt, Tourist.“
Das scheint den Zwerg nun doch zu beeindrucken. „Du kommst also nicht von hier.“
„Genau. Und deshalb habe ich auch kein Interesse an eurem Gold. Das ist in anderen Dimensionen sicher wieder wertlos oder löst sich sogar auf.“ Gold hat einfach diese nervige Eigenschaft. Ganz zu schweigen von so Sachen wie Inflationen, die durch zu viele Weltenwanderer, die Gold schmuggeln, ausgelöst werden.
„Was willst du dann?“
Oh, Mist. Die Ablenkung hat nicht geklappt. „Ähh, also … ich interessiere mich mehr so für … Türen?“ Ich sehe den Zwerg unschuldig an.
Der kauft mir das aber nicht ab. Stattdessen ergreift er seinen Hut mit beiden Händen. „Du bist hinter meiner Tarnkappe her!“
„Wer, ich? Neeeiiin!“
Der Zwerg wird vor meinen Augen unsichtbar. Dafür höre ich das Geräusch eines scharfen, wenn auch kurzen Schwertes, das sirrend aus der Scheide gezogen wird.
„W-was wird das?“, frage ich das Nichts vor mir ängstlich.
„Dieser Schatz wird bewacht!“ Die Stimme des Zwergs kommt von der Seite. „Und ich werde keine Diebe hier dulden!“
Ehe ich reagieren kann, spüre ich kalten Schmerz in der Brust. Aua! Das … das darf nicht sein! Ich bin doch erst in der Hälfte vom zweiten Buch, es darf jetzt nicht vorbei sein. Ich habe noch so viel Unsinn zu tun, so viel Chaos zu stiften!
Stattdessen wird es dunkel vor meinem Blick. Ich höre nur noch das zufriedene Schnaufen meines unsichtbaren Mörders.
„Es ist noch nie jemandem gelungen, den Nie-gelungen-Schatz zu stehlen!“
All diese Mühen, seitdem ich damals von der Klippe gerettet wurde, nur, damit die Große Jagd für mich so endet!