Langsam trete ich näher an den Sitzenden heran. Aus so einem Stuhl kann er ja sicher nicht plötzlich aufspringen, um mich zu fressen.
„Eine wunderschöne, gute Wendung zur Sonne hin, wünsche ich“, begrüßt mich der Herr.
Ich sehe zum Himmel. „Ähm …“
„Du würdest wohl von einem Morgen sprechen und davon, dass die Sonne aufgegangen ist.“
„Ah, so meinst du das! Nein, wir Wölfe sagen eher, dass Sols Wacht begonnen hat und sein zürnender Blick die Welt beleuchtet!“ Leider ist diese Welt eine Welt der menschlichen Mythen, ansonsten wäre es gar nicht schwierig, ein wenig Gotteszorn abzuzapfen.
Hier sieht das anderes aus. Der Gott mir gegenüber jedenfalls lacht mit einem Mal herzhaft los. Das ist die ganz falsche Richtung!
„Goldig! Ich liebe diesen Drang in euch vernunftbegabten Wesen, euch die Welt erklären zu wollen! Eure Kreativität.“
„Hey!“, rufe ich beleidigt. „Das ist meine Religion!“
„Verzeih, mein canider Freund. Bitte, beuge deine Hinterbeine … ähh … setz dich doch! Wie kann ich dir helfen?“
Ich suche einen Platz zwischen dem unheimlichen Geflügel. Irgendwas stimmt mit diesen Hühnern nicht. Ich habe nicht einmal Hunger! Stattdessen fällt mir wieder und wieder auf, wie spitz diese nervigen Schnäbel eigentlich aussehen. Brrr! Sind das Zähne?
„Ja, also …“ Ich räuspere mich. Das Halsband fühlt sich mit einem Mal viel enger an als bisher. Wird höchste Zeit, dass ich das loswerde! Aber eines nach dem anderen. „Es ist so, ich … benötige eine sehr seltene Zutat.“
„Ach ja?“ Der Gott sieht mich nachdenklich an. Glaube ich. Sein Gesicht kann ich nämlich gar nicht sehen, nur ein gewisses Strahlen über dem Kragen seines Holzfällerhemds. Götter sind da manchmal sehr auf ihre Privatsphäre bedacht. Allerdings glaube ich, den Ursprung des Strahlens etwas vor seiner Stirn zu sehen, als hinge dort eine kleine Laterne an einem Tentakel, wie bei diesen Tiefseefischen. Tja, ich schätze, dieser Gott schätzt eine halbwegs logische Erklärung!
„Vielleicht kann ich dir sagen, wo das wächst?“
„Wachsen? Ich suche ja kein Kraut oder so.“
„Sondern?“
Ich schlucke. „Ich brauche … Zorn … von einem Gott.“
Dieser Gott lacht schon wieder los, als hätte ich den besten Witz der Welt gemacht. „Das ist ja sicher nicht schwierig. Götter sind ständig zornig. Das liegt in ihrer Natur – immerhin müssen sie als Personifizierungen von Vulkanen und Donner herhalten.“
Hoffnungsvoll spitze ich die Ohren. „Dann kannst du mir den Zorn geben?“
„Ich?“ Weiteres Lachen. Langsam geht mir diese Heiterkeit auf die Nerven. Ich stehe aber halt auch unter Strom, manchmal wortwörtlich.
„Wieso nicht? Du bist doch ein Gott.“ Ich sehe tapfer ins Licht.
„Ja, aber ich bin keiner der schlichten Götter des Altertums. Nein, diese jungen Burschen sind impulsiv, aber ich doch nicht!“
Das klingt jetzt nicht so ermutigend. „Du musst doch auch mal wütend werden. Niemand ist immer freundlich!“
„Ach, ich sehe Wut als einen evolutionären Vorteil für niedere Wesen, die sich ihres Lebens erwehren müssen. Ich habe keine natürlichen Feinde – also gab es auch keinen Grund für mich, diese Emotion zu entwickeln.“
Ich seufze. „Aber die anderen Götter haben … Moment mal, keine natürlichen Feinde?“
„Natürlich nicht. Ich bin Gott.“
„Ja, aber ein Gott.“ Ich sehe mein Gegenüber scharf an. Das blendet!
Der Gott zögert einen Moment, ehe er antwortet. „Ich bin aber schon ein wichtiger Gott.“
„Ich habe nie von dir gehört.“
„Du bist ja auch ein Wolf.“
„Aha. Also bist du ein Menschengott? Nur für eine Spezies? Das ist ja jämmerlich! Und das als Gott der Evolution.“
„E-ey!“ Verdattert dreht der Gott seinen Oberkörper mir zu und löst dabei die überschlagenen Beine. „Ich bin natürlich auch der Gott der Wölfe. Eben der Gott.“
„Hm. Sehe ich jetzt nicht so.“ Eigentlich ist der Mann ja sehr freundlich, weshalb es mir auch leidtut, ihn so zu ärgern. Aber ich brauche eben den Zorn. Diesmal scheine ich ja einen wunden Punkt gefunden zu haben. Das ist eigentlich meine Spezialität, doch wenn man es absichtlich macht, ist es irgendwie ganz schön schwierig, alle wütend zu machen. Egal, ich bin endlich wieder im Rennen. Hat ja auch nur fast acht Kapitel gebraucht!
Der Gott ringt die Hände mit den praktischen Daumen. Daumen. Oh. Ich wollte ihn gar nicht wütend machen, sondern mein Halsband loswerden! Verflixtes Siebgedächtnis!
„Ich bin aber sicher, dass du ein ganz toller Gott bist“, sage ich rasch, um zu retten, was zu retten ist. „Sehr mächtig und … ähh … mythisch.“
„Mythisch? Mythisch?“, brüllt mein Gegenüber zornig. „Ich bin ein Gott der Wissenschaft! Ich habe nichts mit … mit … mit Mythen am Hut!“
Oh-oh, er verhaspelt sich. Was ist denn los? Ich habe doch gesagt, dass er toll ist. Wird er wirklich bei Komplimenten auf einzelnen Formulierungen herumreiten?
„Ich habe das Gefühl, du bist gerade etwas angespannt“, sage ich mitfühlend. „Hör mal, wenn du mir kurz dieses Halsband abnimmst, dann wäre ich auch schon wieder weg und wir können später weiter über Zorn reden!“
Ich fühle mich von dem Licht entgeistert angestarrt. Vorsichtig trete ich den Rückzug an. Ganz langsam. Gaaanz langsam. Vielleicht vergisst er mich dann.
Hühner gackern zu beiden Seiten. Nehmen die etwa gerade eine Formation an? Ja, sie sortieren sich in ordentliche Reihen, wie für die Armee.
„Grauwolf!“ Die Stimme des Gottes erzittert vor Zorn. Großartig – genau dann, wenn ich es nicht will! Der Gott erhebt sich aus seinem Gartenstuhl und streckt einen mahnenden Zeigefinger aus. Auch das nicht der Daumen, den ich wollte.
„Also, das mit dem Halsband hat dann auch Zeit, jetzt, wo ich so darüber nachdenke …“
„Für deine Frechheit sollst du meine Macht erfahren! Spüre meinen Zorn!“
„Ähh, kann ich den auch zum Mitnehmen …?“
Eine Windböe ergreift mich, wirbelt mich in die Luft und fort vom Dorf. Es geht über Wäldern und Wiesen dahin, bis ich ein erstaunliches Déjà-vu erlebe,
„Whoooaaaaahh!“ Wild mit den Pfoten zappelnd stürze ich wieder nach unten.
Tja, irgendwie logisch, dass er mich hierher verbannt. Alles Leben begann bekanntlich im Ozean!