Ich erwache in einem Boot. Einem hölzernen Ruderboot aus weißgrauem Holz. Es gleitet nahezu schaukellos über den stillen, dunklen Spiegel eines ruhigen Teichs, auf dessen Oberfläche Nebel tanzen.
Ich blinzele und hebe den Kopf. Was riecht hier denn so verheißungsvoll nach fernen Apfelblüten?
„Wir sind gleich da“, sagt eine sanfte Stimme in meinem Rücken. Ich wirbele herum – worauf das Boot sacht schaukelt – und erblicke eine weiße Gestalt. Weißer Umhang über weißem Kleid und eine weiße Kapuze, die bis zum Halsansatz herabreicht. Nur ein Kinn ist zu erahnen, und lange, silberweiße Strähnen fallen über die Brust bis zum weißen Gürtel. In den weißen Handschuhen hält sie einen langen, weißen Stab, mit dem sie das Boot steuert.
Ich lege den Kopf schief. „M-muss ich dir zwei Münzen geben?“
Die verhüllte Gestalt lacht glockenhell auf. „Nein, mein Freund, die Art Fährmann bin ich nicht!“
„So, so.“ Aber sie ist ein Fährmann!
Ich trete an den Rand und sehe ins Wasser. „Das ist leider ein Missverständnis. Ich muss nochmal mit diesem Zwerg reden.“
„Ich weiß sehr wohl, was passiert ist“, widerspricht die Fährfrau. „Du hast dich mit einem Schatzwächter angelegt und verloren.“
„Ich finde, das kann man so nicht sagen …“
„Ein Zurück gibt es also nicht.“
„Kann ich eine zweite Meinung einholen?“
„Nein.“
Ich sehe auf das Wasser hinaus. Vorne zeichnen sich bläulich-graue Schatten im Nebel ab. Eine Insel mit blühenden Bäumen, wie es scheint. Aber ich will nicht dorthin! Ich will zurück. „Wenn ich mit dem Zwerg spreche und er den Mord zurücknimmt, kann ich dann vielleicht …?“
„Nein, Marvin.“
Oh, sie kennt meinen Namen. Was für ein Power Move! Gibt es im Jenseits keine Privatsphäre?
„Aber ich kann doch nicht einfach …“ Meine Stimme erstirbt, erstickt von den Nebeln und der Panik, die in mir aufsteigt. Bin ich wirklich tot? Wirklich wirklich tot?
„Falls es dich tröstet, der Zwerg ist inzwischen ebenfalls tot.“
„Was?!“ Ich war doch nur kurz tot, wie konnte ich das verpassen?
„In der echten Welt ist bereits ein Tag verstrichen“, erklärt die Fährfrau mit einem hörbaren Lächeln in der Stimme. „Und da ist nun zufällig kurz nach dir ein Held vorbeigekommen, der die Tarnkappe des Zwergs wollte.“
Jemand hat meinen Plan geklaut? Ich fasse es nicht! „Ich muss sofort zurück!“
„Ich habe dir doch gerade erklärt – HEY!“
Mit dem Stab versucht die Fährfrau noch, mich aufzuhalten, als ich über Bord springe. Aber die Stange verfehlt mich. Ich lande im eisig kalten Wasser und paddele rasch in die Richtung, aus der das Boot kam, fort von der Nebelinsel.
Brr, das ist echt kalt. Die zornigen Rufe der Fährfrau hallen über das Wasser. Doch sie werden rasch leiser. Der dichte Nebel verschluckt alle Geräusche. Wenig später bin ich allein im Wasser, nur umgeben von weißem Nichts.
„H-hallo?“ Kann man im Jenseits eigentlich nochmal ertrinken? Während ich eifrig Wasser trete, spüre ich eine gewisse Aversion gegen Bäder aufkeimen. Es reicht langsam mal mit diesen unfreiwilligen Schwimmeinlagen! Gut, in diesem Fall bin ich selbst gesprungen, aber ich habe mich nicht freiwillig auf den See begeben. Und ich kann mein hilfloses Gepaddel nur so und so oft beschreiben, ehe es langweilig wird. Fällt dem Schicksal nichts Neues mehr ein?
Jedenfalls, auch diesmal paddele ich für eine gefühlte Ewigkeit, schlucke nebst viel kaltem Wasser schließlich auch meinen Stolz und rufe um Hilfe. Im Nebel habe ich mich nämlich schon wieder hoffnungslos verirrt!
Meine Rufe werden schließlich erhört. Ein blondes Wesen steigt aus den Wellen.
„Hündchen!“
„Wolf.“ Entsetzt sehe ich die Meerjungfrau an. Seit wann ist die denn eine Teichjungfrau?!
Sie zieht mich in ihre Arme. „Keine Angst. Ich rette dich!“
„Ich kann auch gerne noch etwas wargluckgluckgluck.“
Sie zieht mich unter die Wellen. Eine merkwürdige Art, jemanden zu retten! Ich versuche, mich aus ihrem Griff zu befreien. Die Meerjungfrau hält mich umklammert und singt mir irgendein Gesäusel ins Ohr. Auf Menschen wirkt das sicher unwiderstehlich, vielleicht noch auf Hunde, aber ich finde das nicht sehr ansprechend. Eher nervig, dass mir jemand ins Ohr singt, während ich ertrinke.
Die Meer- oder Seejungfrau lässt mich auch nicht los. Ich zappele etwas stärker. Dann kommt mir eine verzweifelte Idee.
Ich hebe die Hinterpfote und schlage gegen das Halsband. Einmal, zweimal … dann treffe ich die richtige Stelle und löse einen Stromschlag aus.
Für einen Moment ist es schwarz um mich. Dann finde ich mich unter Wasser wieder – und ich bin frei!
Die Wasauchimmer-Jungfrau kreischt mir schrill ins Ohr. Eilig paddele ich zurück zur Oberfläche, die jetzt weniger weißlich-grau aussieht. Als ich sie durchbreche, stelle ich fest, dass ich in einem Fluss treibe. Zu beiden Seiten ist Ufer zu sehen.
Die Geografie in der Schimmerwelt ergibt ja selten Sinn, aber das hier ist selbst für mich neu!
Ich paddele zum Ufer und klettere ächzend über Sand und Gras. Meine Glieder zittern, aber ich werde nicht langsamer und flüchte weiter ins Gras. Das Gekreisch folgt mir nämlich und Lyssa malt Bilder von riesigen Wasserfurien, die mich verfolgen. In Wahrheit ist es nur die Meer-See-Fluss-Jungfrau, die sich hinter mir mit den Fluten erhebt.
Nein, das ist kein Tippfehler: Sie steigt nicht aus den Fluten, sondern mit ihnen. Eine Säule aus wirbelndem Wasser umfasst die junge Frau um die Hüfte und hebt sie empor. Als wäre ihr ein neuer Fischschwanz gewachsen!
Überhaupt sieht sie gar nicht mehr so schön aus. Ihre Haut ist von schwarzen, verästelten Blitznarben gezeichnet, nur das lange, blonde Haar ist geblieben. Unter wildem Heulen und Verwünschungen wirft sie sich auf die andere Uferseite, welche im Übrigen aus Steilklippen besteht.
Dort nistet sie sich auf einem hohen Stein ein und singt zukünftig vorbeifahrenden Schiffen zu, um diese an die Felsen zu locken und zu versenken. Das werde ich aber nicht mehr erfahren. Ich habe den Fluss wiedererkannt und festgestellt, dass ich nur etwas stromabwärts von dem Nie-gelungen-Schatz bin.
Und dort muss ich einen Helden finden und ihm eine Tarnkappe klauen! Es geht nicht an, dass der Held mir einfach so meinen Plan wegnimmt. Dafür wird er büßen!