Im Endeffekt hätte es den Tipp der Prinzessin wohl nicht gebraucht, denn kaum, dass ich das Dornendickicht verlassen habe, kann ich auch schon einen sehr auffälligen Berg vor mir sehen, der eindeutig der Sitz eines Gottes sein muss. Er ist schneegekränzt, selbst von unten sehe ich einen uralten, riesigen Tempel mit dicken Säulen und dreieckigem Dach. Obwohl er weit oben liegt, ist er erkennbar größer als ein normales Menschenhaus. So … ungefähr fünfmal höher, mindestens. Ganz klar für Götter gebaut, Menschen übertreiben nur so, wenn sie genug göttliche Strafe fürchten, falls sie es nicht tun!
Ein breiter Pfad führt hinauf, gebaut aus breiten, flachen, inzwischen verwitterten Stufen. In regelmäßigen Abständen zeigt sich eine Delle, als hätte eine göttliche Faust den Aufstieg als Boxsack missbraucht. All das gibt mir Hoffnung, dass ich mich wirklich einem sehr zornigen Gott nähere. Ich sehe mich bereits im Besitz von Gotteszorn der höchsten Qualität und höre das überraschte Lob von Miss Fortune, die mich weder so früh noch so erfolgreich zurückerwartet hat.
Als ich schließlich unter das weiße Tempeldach trete und meine Pfotenschritte von den hohen Säulen widerhallen, läuft allerdings ein Schauer durch mein Fell. So im Schatten ist es ja doch kühl, man spürt, wie weit oben man ist. Ich unterdrücke mein Hecheln so gut wie möglich und schleiche vorsichtiger weiter.
Noch habe ich den Gotteszorn nicht. Und ich habe ja doch so ein bisschen aus meiner Erfahrung mit der Blitzwolke gelernt.
Also folge ich dem breiten Weg in den Tempel in langsamem Tempo und drücke mich geschickt im Schatten der Säulen herum. Aus der düsteren Tiefe dringt ein grimmiges Knurren.
„Ähm. Hallo?“ Ob der Gott schon zornig ist, weil ich seinen Tempel betrete? „Wenn du ein wenig Wut rüberwerfen könntest, wäre ich sofort weg!“
Das Geknurre geht weiter. Ich mache ein paar Schritte nach hinten, aber da grollt das Wesen plötzlich noch lauter.
„Oh, i-in Ordnung, dann … dann komme ich rein?“ Ein wenig ratlos gehe ich weiter. Es wird still. Dann knurrt der Gott erneut. Ich halte an, aber dadurch wird das Knurren nur lauter. Also wage ich mich schließlich vor. Stille. Bis zum nächsten Knurren.
Ich habe das Ende des Saals fast erreicht. Meine Augen beginnen, sich an die Dunkelheit anzupassen - die hellen Stufen im Sonnenschein waren schon sehr blendend - und ich erkenne einen großen Berg im hinteren Teil des Tempels. Gold, Edelsteine und mehr verteilen sich auf dem Boden. Sicher Opfergaben! Sie türmen sich in der Mitte zu einem gezackten Berg auf, der sich sogar zu bewegen scheint.
Wieder streicht ein Knurren durch die Halle. Ich rühre mich nicht. Das Knurren schwillt an und bricht ab.
Dafür höre ich ein leiseres Einatmen.
„Ähm. H-hallo?“ Ich starre den Berg an. Der wird größer. Er bewegt sich wirklich! Dann, beim nächsten Knurren, sinkt er leicht in sich zusammen.
Ich reiße die Augen auf, als ich begreife, worauf ich hier starre: Ein Drache! Ein schlafender, schnarchender Drache!
Schneller, als man „Nicht schon wieder!“ rufen könnte, habe ich meine Pfoten in die Pfoten genommen und flitze wieder aus dem Tempel heraus. Ich stolpere die Stufen hinab, purzele ein paar Mal über die Treppe und lande schließlich zwischen den letzten Dellen im Gestein. Die ich nun als Fußabdrücke erkenne.
Mit leicht gesträubtem Fell tapse ich zurück in Richtung der Dornen, da sie mir momentan das beste Versteck bieten. Dort kommen mir die Prinzessin und der inzwischen wieder wache Prinz entgegen. Die Prinzessin hilft ihrem Retter gerade an den letzten Dornen vorbei und lächelt, als sie mich sieht.
„Hallo Wolf! Na, hast du bekommen, was du gesucht hast?“
Der Prinz klappert metallisch. Er hat bei meinem Anblick zu zittern begonnen.
„Leider nicht“, gestehe ich. „Ich war zwar oben, aber … da liegt ein Drache.“
„D-drache?!“
„Ein Drache?“
„Und ganz ehrlich, mit denen lege ich mich nicht mehr an!“
„Recht hast du, Wolf. Das ist eine Aufgabe für einen Ritter.“
Besagter klappert noch etwas stärker, während die Prinzessin ihm einen auffordernden Blick zuwirft.
„A-also … n-natürlich …“
„Wir müssen verhindern, dass diese Bestie unbescholtenen Wanderern zur Gefahr wird!“ Die Prinzessin weist den Ritter zum Berg. Ich trotte einfach hinterher – warum, kann ich selbst nicht genau sagen. Klar, ich bin ein Rudeltier. Und ich schätze einen starken Anführer. Auf Menschen hat sich der Instinkt aber früher nie erstreckt. Verdammt, der Hundefluch wirkt noch immer!
Bis ich mit dieser Erkenntnis durch bin, bin ich den beiden Zweibeinern allerdings auch schon die gesamten Stufen wieder nach oben gefolgt. Dort versucht der Ritter, sich hinter der schlankeren Prinzessin zu verstecken, die mit entschlossenen Schritten vorausgeht.
„Hallo?“
Ihre Stimme übertönt das Schnarchen und hallt von den Wänden wider. Wow. Das habe ich gar nicht geschafft!
Mit einem grunzenden Schnarcher wird der Drache am Ende der Halle wach. Gold klimpert, als er seinen Kopf hebt. „Hm?“
„Guten Tag.“ Mit entschlossenen Schritten geht die Prinzessin vor. Der Ritter eilt ihr hinterher und versucht, sie festzuhalten. Er greift daneben, weil er den Drachen wie ein ängstliches Kaninchen anstarrt. „Wir kommen von der Nachbarschaftsaufsicht. Es gab einige Bedenken bezüglich der Neuzugezogenen …“
„Oh, meint ihr, weil ich ein Drache bin?“ Der Drache richtet sich auf. „Das ist ja schon etwas rassistisch. Ich bin strikter Vegetarier!“
„Nun“, die Prinzessin lächelt strahlend, „genau deshalb sind wir zu einem Gespräch gekommen! Vegetarier, das ist interessant. Wir müssen mal Rezepte austauschen.“
Etwas besänftigt atmet der Drache durch. „Ich zündel auch nicht herum. Ihr müsst wissen, ich habe eine sehr alte Sammlung mit Skatkarten, die möchte ich keinesfalls zerstören.“
Zu diesem Zeitpunkt verliert der Ritter ebenfalls alle Furcht. „Skat? Ich liebe Skat!“
„Wirklich?“ Der Drache kommt ein paar Schritte näher und mustert uns.
„Ich ebenfalls“, erwidert die Prinzessin erstaunt. „Auch wenn ich im Turm immer nur alleine spielen konnte.“
„Ein Ritter, eine Prinzessin … und du bist?“
„Kein Skatspieler“, sage ich, unter dem Blick des Drachen zusammenschrumpfend. Eine Münze ist von den Schuppen bis vor meine Füße gerollt. Ich bücke mich langsam danach. „Sag mal, so als Drache, giltst du da als Gott?“
„Je nach Kulturkreis … wieso fragst du?“
„Weil ich dich dann leider sauer machen muss.“
„HEY!“, brüllt die Feuerechse, als ich mir die Münze schnappe. Das funktioniert echt immer – Drachen hassen es, wenn man was von ihrem Hort stiehlt.
Verfolgt von empörtem Gebrüll und den Rufen von Prinzessin und Ritter flüchte ich die Treppe hinunter, die Münze im Maul. Doch der Drache gibt nach einer Weile die Verfolgung auf und die Stimmen oben, die zuerst fragend und laut waren, werden leiser. Ich verstehe nicht viel mehr als den Tonfall, aber es klingt ganz nach drei Leuten, die eine Runde Karten mischen.
Na ja, die Münze werde ich erstmal behalten. Vielleicht kann der Götterzorn ja auch kalt serviert werden oder so? Außerdem glänzt sie wirklich wunderschön golden …