Ich bin ein Meister der Missgeschicke. Wenn ein Wolf im Rudel den verschneiten Hang hinunterrollt, dann ich. Fettnäpfchen verwechsele ich gerne mal mit dem Schwimmingpool. Aber dieses Mal … dieses Mal habe ich mich echt übernommen.
Es saß wohl noch niemand vor mir auf dem Mond fest. Bigfoot hatte mich ja gewarnt, aber ich hab mich mit dem Mondkalb verquatscht. Und nun … tja, der Wäschewagen, mit dem ich hierhergekommen bin, ist bereits weg. Der nächste kommt frühestens in einer Woche. So lange überlebt kein Wolf auf dem Mond, nicht einmal ein Grauwolf, der bereits Dracula, einen wütenden Feuerdrachen und eine Sturmflut überlebt hat. Außerdem läuft mir die Zeit davon. Der rätselhafte Clive Hanger wartet auf die Lieferung der Tränen, die das Mondkalb in meiner Pfote versenkt hat. Wenn er sie nicht bald bekommt, verliere ich meine Seele.
Verflixt! Jetzt könnte ich ein paar Krümel Geschichtsmagie ganz gut gebrauchen. Ein ‚In letzter Sekunde‘ oder vielleicht reicht auch ein ‚Glücklicher Zufall‘. Am liebsten wäre mir natürlich ein ‚Plothole‘, in dem sämtliche meiner Probleme verschwinden.
„Du wirkst bedrückt“, sagt das Mondkalb, das neben mir steht.
„Na ja … ich muss zurück zur Erde. Schnell“, gestehe ich.
„Die Erde … wie ist es da so?“
Ich sehe das weiße Kalb an. Wie kann man in dieser Situation nur plaudern wollen? Andererseits wirkt es ziemlich einsam. Also erbarme ich mich. Was macht die Erde aus, betrachtet aus der Sicht von einem, der nur den Mond kennt?
„Die Erde ist … bunt und groß. Es gibt unglaublich viele Tiere. Ehrlich gesagt wäre ich hier oben glücklicher, wo man seine Ruhe haben kann.“
„Mag ja sein“, brummt das Mondkalb. „Ich wäre lieber dort. Und würde meine Mutter fragen, warum sie mich hier ausgesetzt hat!“
„Deine … Mutter?“
Das Mondkalb nickt mit wütend funkelnden Augen. „Kennst du die Geschichte von der Kuh, die über den Mond sprang?“
„Natürlich!“ Ich knurre unwillkürlich. Für die Wölfe ist dieses Märchen absolute Blasphemie. „Das ist deine Mutter?“
„Ganz genau.“ Das Mondkalb streckt den Hals und bewegt die Hufe, als würde es sich für etwas vorbereiten. Es fixiert mich. „Ich habe sogar etwas von ihr geerbt.“
„Und was?“, frage ich wie der letzte Idiot und gebe dem Mondkalb damit genau die Vorlage, die es braucht.
„Starke Hinterbeine!“
Ein Tritt trifft mich im Rücken und schleudert mich in die Höhe, aus der Mondatmosphäre heraus ins bitterkalte All und weiter. Direkt auf die Erde zu. Ich muss nur kurz die Luft anhalten, dann kann ich auch wieder atmen. Und schreien!
Womit wir beim Kern dieses Kapitels wären: „Whoooaaaaahh!“ Mit zappelnden Beinen stürze ich in die Tiefe. Wolken brausen an mir vorbei. Der blaue Ozean kommt immer näher. Aber bei einem Sturz aus dieser Höhe würde das Wasser für mich auch keinen Unterschied machen. Wobei … Moment mal! Ich habe vor fünf Minuten noch auf dem Mond geatmet. Weder der unglaublich kraftvolle Tritt des Mondkalbs noch der Eintritt in die Erdatmosphäre oder der Spazierflug durchs All haben mir irgendwie geschadet. Normalerweise wäre jeder Grauwolf längst pulverisiert. Also, was beschützt mich?
Ich sehe mich um und bemerke einen silbrigen Schimmer um mich herum. Magie … Ich stecke vorsichtig die Zunge in den Schimmer und koste.
Aha! Das Mondkalb ist offenbar ein Wesen von beträchtlicher Macht. Aufgrund seiner Herkunft und der eigenartigen Physik, die den Mond eingehüllt hat, würde ich auf ein Zeichentrickwesen tippen. Eine Kuh, die über den Mond springt, das ist reine, übertriebene Comicbuchlogik! Der gleiche Zauber hüllt vermutlich auch den Mond ein, das Reich des weißen Kalbs. Und ein Rest klebt noch an mir!
Ich raffe den Silberschimmer zusammen. Hoffentlich hält er bis zum …
Platsch!
Während ich mit Denken beschäftigt war, hat die Schwerkraft keine Zeit verloren. Glücklicherweise hält der Mondkalbzauber, aber direkt, nachdem ich im Meer aufgeschlagen bin, löst sich die Magie in Sternenstaub auf.
Ich hebe den Blick. Die Wasseroberfläche ist ein ganzes Stück über mir. Mit allen Beinen strampelnd paddele ich nach oben.
Kurz, bevor meine Lungen platzen, durchbreche ich mit dem Kopf endlich die Oberfläche und sauge die Luft gierig ein. Eine Welle schwappt über mich drüber. Ich spucke Salzwasser aus und sehe mich mit tränenden Augen nach Land um. Leider sehe ich nur Himmel, Hochwasser und Horizont. Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Wild strampelnd drehe ich mich im Kreis. Mir tun jetzt schon alle Muskeln weh, ganz zu schweigen von den tauben Pfoten. Ich gurgele unfreiwillig mit Seewasser. Über mir steht der Mond am Himmel, man hat einen fantastischen Ausblick auf die Gestirne. Falls ich hier sterbe, überlege ich, dann immerhin mit einem Ausblick, um den mich jeder Wolf beneiden würde.
Wenn es nur das wäre! Ich riskiere ja auch meine angekratzte, vernarbte Seele, wenn ich Clive Hanger nicht bald die Tränen des Mondkalbs überreiche.
Ich drehe mich immer noch sinnlos im Kreis. Jetzt zwinge ich mich, in eine Richtung loszuschwimmen. Ich habe keine Orientierung – aber es kann ja auch wirklich niemand verlangen, dass ich während eines potenziell tödlichen Sturzes darauf achte, in welchem Ozean ich lande – und weiß deshalb nicht, welche Richtung die beste ist. Aber eines weiß ich: Alles ist klüger, als meine verbliebenen Kräfte darauf zu verschwenden, mich wie ein Hund auf der Jagd nach dem eigenen Schwanz im Kreis zu drehen! Entschlossen hefte ich den Blick auf den Horizont, der sich dank der Wellen zu heben und senken scheint.
Brrr! Ist das kalt hier! Ich habe jetzt schon kein Gefühl in den Pfoten. Unermüdlich sehe ich mich um. Vielleicht kommt ja irgendwann eine einsame Insel in Sicht. Oder ein Stück Treibholz. Oder ein Eisberg. Irgendwas, wo ich mich ausruhen und ein wenig verschnaufen kann.
Plötzlich kommen mir andere Gedanken in den Kopf, nach denen sich das Meer unendlich viel kälter anfühlt. Verflixte Lyssa, die das ausgerechnet jetzt zeichnen muss!
Seemonster. Riesenkraken. Godzilla! Die Tiefsee ist nicht verlassen und je weiter vom Festland man entfernt ist, desto größer werden die Schrecken, denen man begegnen kann. Unwillkürlich und trotz meiner Müdigkeit werde ich schneller. Da muss doch langsam mal irgendwo Land auftauchen! Ich habe schon gefühlt dreißig Liter Wasser geschluckt und mein Fell fühlt sich an, als wäre ich in graue Eiszapfen gehüllt. Lange halte ich das nicht mehr aus!
„Zeit ist um!“, quäkt es hinter mir und ich höre ein vertrautes, eigentlich verhasstes „Puff!“, über das ich mich dieses Mal unglaublich freue. Ich drehe mich um.
„Clive Hanger!“
Dann stocke ich. Da fliegt zwar eine rosa Wolke über dem Meer, doch darauf fläzt sich nicht die Gestalt von Clive Hangar, sondern eine rothaarige, blasse Menschenfrau in einem eleganten, weißen Kleid. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Ifrit besteht, wenngleich keine Äußerliche. Ifrits Haare sind dunkler, nicht so feuerrot, ihre Augen sind gelb, nicht schwarz, und vor allem ist Weiß nicht ihre Farbe. Und Rosa … dafür würde sie jemandem umbringen.
Leicht keuchend paddele ich auf der Stelle, werde von den Wellen angehoben und fallengelassen.
„Du hast mich erkannt!“, sagt die mir unbekannte Frau mit einem triumphierenden Lächeln. „Trotz der neuen Gestalt!“
Also ist es doch Clive? Aber … „Wie ist das möglich?!“
„Och, ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit einem übereifrigen Hexenmeister, da musste ich eine Weile untertauchen. Neues Gesicht, neuer Name, neue Stimme – altes Ich.“
Verdattert starre ich meinen unheilvollen Auftragsgeber an. Ein Gestaltwandler! Das … ermöglicht ein paar interessante Verdächtigungen.
„Aber kommen wir zur Sache“, fährt Clive fort. „Du hast mich nicht bezahlt. Dein Leben ist hiermit verwirkt.“
„Warte!“, rufe ich und spucke gleich darauf etwas Seewasser. „Ich hab die Tränen!“
„Und warum rufst du mich nicht?“, fragt Clive – oder Clivette? „Du wolltest mich betrügen, ganz eindeutig. Aber lass dir eines gesagt sein, Grauwolf – nicht mit mir! Für deine Unverfrorenheit wirst du bezahlen – mit unendlichen Qualen!“