Während Njellen schlief, untersuchte Lefkó das zerstörte Haus. Ein Abbild von ihm blieb bei Njellen liegen. Vorsichtig betrat Lefkó das Haus. Der Löwe suchte in den Trümmern nach Hinweisen, wieso das Haus eingestürzt war. Mit scharfem Blick untersuchte er die Trümmer. Es sah alles danach aus, als hätte es ein Erbeben gegeben. Lefkó kehrte zu Njellen zurück und sein Ebenbild verschwand. Es war bereits nach Mittag, als Njellen wieder aufwachte. Lefkó lag wieder neben ihm.
»Wie geht es dir?«, fragte der Löwe.
Langsam setzte sich Njellen auf. »Ging mir schon besser«, meinte er.
Lefkó setzte sich auf und sah Njellen an. »Ich muss dir was sagen«, sagte er zögernd.
»Ist es dass, was du mir gestern schon sagen wolltest?«
»Ja. Ich bin der Meinung, dass wir zu den Elfen gehen sollten.«
»Was?!«, Njellen sah Lefkó wütend an.
»Lass mich erklären«, meinte der Löwe. »Du bist ein halber Elf. Du benutzt Elfanmagie, aber du beherrscht sie nicht. Ich möchte, dass du lernst, wie du sie kontrolliert einsetzt, damit nicht noch ein Unglück passiert.«
»Ja. Du könntest ... Moment mal. Was meinst du mit, noch ein Unglück?«
Lefkó senkte den Kopf. Mit leiser Stimme sagte er: »Ich habe mich in den Trümmern des Hauses umgesehen. Du hattest es ja schon angesprochen. Es war eine magische Druckwelle, die es zum Einstürzen gebracht hat.«
»Ich ... bin schuld ... an ... ihrem ... Tod?«
»Du bist nicht Schuld«, meinte Lefkó. »Der Einzige der Schuld daran trägt, ist Brogern.«
Mühsam erhob sich Njellen. Er und Lefkó gingen langsam zu der Ruine des Hauses. Dort blieb Njellen stehen. Er atmete tief durch. Lefkó sah ihn von der Seite her an. »Wenn du möchtest, gehe ich alleine rein.«
»Nein. Ich muss selbst gehen.«
»Soll ich hier warten oder möchtest du, dass ich dich begleite?«
»Etwas seelische Unterstützung könnte ich gut gebrauchen«, meinte Njellen.
Lefkó nickte leicht und die beiden betraten das Haus. Njellen zitterten die Knie so sehr, dass er sich an Lefkó festhalten musste. Dieser sah ihn besorgt an. »Geht schon«, meinte Njellen. Die beiden gingen weiter hinein. Njellen bückte sich und zog einen braunen, ledernen Rucksack unter einigen Holztrümmern hervor. Lefkó wollte etwas sagen, doch als er Njellens Gesichtsausdruck sah, entschied er sich zu schweigen. Njellen öffnete den Rucksack und sah hinein. Er war leer. Njellen stellte den Rucksack auf den Boden und sah sich weiter um. Lefkó ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Als Njellen ihn ansah, versuchte Lefkó ein leichtes Lächeln. Njellen suchte nach Sachen, welche er noch gebrauchen konnte. Er fand etwas Essbares, ein wenig Geld und ein Jagdmesser.
»Was ist hiermit?«, fragte Lefkó.
Njellen wandte sich zu ihm um. Der Löwe stand vor einer Wasserblase. Njellen ging zu ihm herüber und hob sie auf. »Die gehörte Trakner«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Als ich sie damals stehlen wollte, hat er mir erzählt, dass er sie von seinem Vater bekommen hat. Als er noch ein Kind war, hat er viele Wanderungen gemacht. Und als er ... Astor .... getroffen hat ... da hat ...«, Njellen verstummte. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ist schon gut«, Lefkó legte vorsichtig eine seiner Pfoten auf Njellens Schulter.
Njellen vergrub das Gesicht in der Mähne des Löwen. Er atmete mehrmals tief durch. Dann ließ er Lefkó los. Ohne ein Wort zu wechseln, durchsuchten die beiden weiter das Haus. Als Njellen die Bruchstücke von Trakners Bogen fand, wurde sein Gesicht weiß, wie Lefkós Fell. Lefkó fing ihn grade noch auf, bevor Njellens Kopf auf einem Stein aufschlug. Die Augen des Halbelfen waren halb geschlossen. Lefkó trug ihn nach draußen und legte ihn ins Grass. Anschließend ging der Löwe noch mal ins Haus und holte den Rucksack heraus. Als er ihn neben Njellen stellte, öffnete dieser die Augen.
»Was ist passiert?«, fragte er und sah sich verwirrt um.
»Du hattest einen Schwächeanfall«, sagte Lefkó ruhig.
Njellen setzte sich auf. Er rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Als ich den Bogen sah ... so viele Erinnerungen. Und nun ... ist er ... ist er tot. Meinetwegen.«
»Du bist nicht Schuld«, erwiderte Lefkó ruhig aber mit Nachdruck.
Njellen erhob sich langsam. Schweigend ging er zu den Gräbern. Dort blieb er stehen und zog das Jagdmesser aus der Tasche. Lefkó sah ihn besorgt an. Doch der Löwe sagte kein Wort. Njellen kniete sich vor Trakners Grab.
»Du hast mich damals aufgenommen, als ich dich bestehlen wollte«, sagte er leise. »Du hast mich wie einen Sohn behandelt. Hast mir ein Zuhause und eine Familie gegeben. Und nun liegst du mit deiner Familie hier begraben. Und das nur, weil ich mich auf ein Spiel mit dem Teufel eingelassen habe. Bei meinem Blut schwöre ich, dass ich dich und deine Familie rächen werde. Ich schwöre, dass ich den Teufel vernichten werde«, Njellen schnitt sich mit dem Messer in die Handfläche. Dann ballte er die Hand zur Faust und ließ das Blut auf Trakners Grab tropfen. Als das Blut die Erde berührte, verdampfte es. Zur selben Zeit verheilte der Schnitt in Njellens Hand. Dieser trat nun vom Grab zurück und hob den Rucksack auf. Als sich Njellen wieder aufrichtete, sah er, dass Lefkó vor den Gräben saß. Der Löwe hatte den Kopf gesenkt und sprach leise. Njellen setzte sich ins Gras und wartete. Nach einigen Minuten kam Lefkó zu ihm herüber. Schweigend setzte er sich neben Njellen ins Gras.
»Wir sollten aufbrechen«, meinte Lefkó nach einigen Minuten. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf, sollten wir zunächst zum Markt gehen, um etwas für die Reise zu besorgen.«
Njellen erhob sich und setzte den Rucksack auf. Mit einem letzten Blick auf die Gräber machten sich die beiden auf den Weg zur Stadt. Als der Marktplatz in Sicht kam, blieb Njellen stehen. Er warf Lefkó einen Blick zu. Dieser nickte nur. Und so schritten sie geradewegs auf die Jungen zu, die Njellen immer verspottet hatten. Ihre Tiere warfen Lefkó einen vernichtenden Blick zu, doch er ignorierte sie einfach. Njellen rechnete damit, dass er sich wieder irgendwelche blöden Sprüche anhören musste, doch zu seiner Überraschung sagte keiner ein Wort. Njellen kaufte etwas Trockenfleisch, etwas Käse und Brot.
»Hey, Njellen! Keine Eier heute?«, rief Hjon.
Njellen wandte sich zu ihm um. »Heute nicht«, erwiderte er, ging aber dennoch zu Hjon herüber.
»Ist etwas passiert? Du siehst schrecklich aus«, meinte Hjon.
Njellen zögerte. Er wusste nicht, ob er jemanden erzählen wollte, was geschehen war. Schließlich meinte er: »Brogern hat Namidha entführt, um Lefkó und mich in eine Falle zu locken.«
»Was wollte er von euch?«, wollte Hjons Otter wissen.
»Er und ich«, sagte Lefkó. »Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.«
»Was?«, Hjon sah schockiert aus. »Du warst mal sein ...?«
»So meine ich das nicht«, meinte Lefkó rasch. »Ich weiß nicht warum, aber er hat ein besonderes Interesse an mir.«
»Was hast du ihm angetan?«, fragte jemand.
Alle sahen auf. Es waren Alina und ihre Wölfin. Die beiden standen nur wenige Schritte von ihnen entfernt. Nun kamen sie zu ihnen herüber. Die Wölfin sah Lefkó scharf an.
»Ich habe es gewagt mich ihm zu widersetzen, nach dem ich mich ihm angeschlossen hatte«, sagte Lefkó.
Die anderen starrten ihn an. »Du hast was?«
»Wusstest du davon?«, fragte Alina.
»Ja«, Njellen nickte. »Lefkó hat es mir gesagt.«
Die Wölfin sah zu Njellen. »Ich bin neugierig«, meinte sie. »Bei deiner Vergangenheit, hätte ich nicht gedacht, dass du ...«
»Das genügt!«, sagte Alina mit scharfem Ton.
»Verzeihung«, meinte die Wölfin an Njellen gerichtet.
»Wir sollten langsam zurück«, Lefkó sah Njellen von der Seite her an.
»Ja. Du hast recht.«
Die beiden machten sich auf den Weg. Alina und ihre Wölfin begleiteten sie bis zum Dorfrand. Dort sagte Alina: »Ich habe vorhin die Gräber und das zerstörte Haus gesehen.«
Njellen und Lefkó warfen sich einen Blick zu. Doch beide schwiegen.
»Es war Brogern, oder?«, meinte die Wölfin.
»Indirekt«, murmelte Njellen leise.
»Ich will nicht unhöflich sein, aber wir müssen los«, sagte Lefkó.
»Gestattet mir eine letzte Frage.«
Njellen und Lefkó sahen die Wölfin an, dann nickten sie gleichzeitig.
»Was werdet ihr zwei nun machen? Ich meine, wo geht ihr hin?«
»Das wissen wir noch nicht genau«, antwortete Njellen. »Auf jeden Fall weg von hier.«
»Wo auch immer du hingehst, ich hoffe, es wird dir besser ergehen als hier«, meinte Alina.
Njellen nickte nur und machte sich dann mit Lefkó auf den Weg. Sie gingen noch ein letztes Mal zum alten Haus, da Njellen noch einmal zu den Gräbern wollte. Anschließen machten sie sich auf nach Westen. Laut Lefkó lebten die Elfen, wo Njellen geboren ward, in den Wäldern, welche weit im Westen lagen. Njellen schulterte den Rucksack und er und Lefkó machten sich auf in ein neues Leben.