Als die Sonne unterging, erreichten Lefkó und Njellen die Stadt Baram. Die Stadttore wurden gerade geschlossen, doch die beiden schlüpften noch rasch hindurch. Njellen sah sich um. Er hatte mit einer etwas reicheren Stadt gerechnet. Doch im Grunde sah es hier nicht anders aus, als in dem Dorf, aus welchem er kam. Abgesehen davon, dass Braram größer war und mehr Häuser hatte. Aber dieses sahen genau so aus, wie er sie aus seinem Dorf kannte. Doch Njellen hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Eine der Stadtwachen kam auf sie zu. An seiner Seite ein Gepard.
»Lass mich reden«, meinte Lefkó leise zu Njellen.
»Ihr beiden seit spät dran«, sagte die Wache. »Seht zu, dass ihr nächstes Mal etwas eher kommt. Warum seid ihr in Baram?«
»Fragt ihr das jeden, der herkommt?«, wollte Lefkó wissen.
»Nur die, welche uns merkwürdig erscheinen«, faucht der Gepard.
»Also? Warum seid ihr hier?«
»Wir suchen eine Unterkunft für die Nacht und reisen vermutlich morgen schon weiter«, antwortete Lefkó.
»Vermutlich?«, der Gepard sah ihn scharf an.
»Eventuell bleiben wir auch ein, zwei Tage.«
»Lass gut sein«, meinte der Wachmann, als der Gepard die Augen verengte. »Das Gasthaus befindet sich auf halbem Weg die Straße runter.«
»Habt Dank«, sagte Lefkó und machte sich mit Njellen auf den Weg.
»Warum sollte ich dich reden lassen?«, fragte Njellen, als sie außer Hörweite waren.
»Weil ich weiß, wie man mit ihnen reden muss«, antwortete der Löwe.
»Und warum bleiben wir eventuell länger?«
»Kommt darauf an, ob er hier ist oder eben nicht.«
»Verrätst du mir, wer dein Bekannter ist?«, fragte Njellen.
»Später«, meinte Lefkó und blieb vor einem Gebäude stehen.
»Ist dies das Gasthaus?«
Lefkó nickte und die beiden traten ein. Der Schankraum war groß aber gemütlich. Im Kamin prasselte, trotzt der warmen Temperaturen, ein Feuer. Im Raum verteilt standen Tische und Stühle. Von der Decke hing ein gewaltiger Kerzenleuchter. An einigen Tischen saßen Menschen mit ihren Tieren. Viele hatten Teller und Gläser vor sich stehen. Lefkó führte Njellen zu einem Tisch an einem der Fenster. Kaum hatten sie sich gesetzt, da kam ein kleines Wesen zu ihnen an den Tisch.
»Was darf ich den Herrschaften bringen?«, fragte es mit hoher, pipsiger Stimme.
»Was empfiehlst du denn?«, fragte Njellen.
»Für den Herrn. Frischen Seelachs mit Röstkartoffeln. Dazu Bohnen mit Speck und einen Gewürzmet. Und für das edle Tier Damwild und Wasser.«
»Hört sich gut an, oder?«, meinte Lefkó.
Njellen nickte. »Ja. Das nehmen wir.«
Das kleine Wesen wuselte davon.
»Was war das?«, fragte Njellen leise.
»Das ist ein Querx. Querxe sind Zwergenwesen, welche oft in Gasthäusern arbeiten. Sie mögen es anderen Essen da zu bieten. Allerdings«,Lefkó grinste, »gelegentlich stibitzten sie auch Essen.«
»Wo wir grade beim Essen sind. Du sagtest doch, dass du keine Nahrung zu die nehmen musst.«
»Stimmt. Muss ich nicht. Aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht kann.«
»Warum hast du es mir nie gesagt?«
»Mach dir drüber keine Gedanken«, meinte der Löwe. »Ich muss, und will meistens, nichts essen.«
»Und warum jetzt?«
»Besondere Umstände.«
Njellen sah Lefkó an. Doch an, dessen Blick konnte er erkennen, dass das Thema beendet war. Njellen ließ den Blick durch den Raum wandern. »Dein Bekannter ist nicht zufällig hier, oder?«, fragte er.
»Schwer zu sagen«, meinte Lefkó. »Er zeigt sich nur, wenn er es will.«
»Er kann sich unsichtbar machen?«
»Nein. Aber er ist ein Meister der Tarnung.«
»Kannst du ihn nicht am Geruch erkennen?«, wollte Njellen wissen.
»Bei den ganzen Gerüchen hier ist das nicht möglich«, erwiderte Lefkó. »Im Übrigen ist er auch in der Lage seinen Geruch zu verschleiern.«
»Welches Wesen kann denn seinen Geruch verbergen?«
»Ein Talminume.«
»So wie du schaust«, sagte eine Stimme, »hast du noch nie von uns gehört.«
Njellen und Lefkó sahen auf. Ein Mann saß bei ihnen am Tisch. Wenn Njellen ihn später beschreiben wollte, gestaltete sich dies als schwierig. Denn durchgehend veränderten sich die Frisur und die Haarfarbe. Ebenso die Gesichtsmerkmale. Njellen sagte immer, dass er aussähe wie ein menschliches Chamäleon. Und damit lag er gar nicht mal so falsch. Der Mann gehörte zum Folk der Talminumen. Diese waren dafür bekannt, dass sie durchgehend ihr äußeres Erscheinungsbild verändern und der Umgebung anpassen konnten. Einige Talminume hatten diese Gabe so perfektioniert, dass sie ganz und gar mit ihrer Umgebung verschmelzen konnten. Und so einer saß nun vor ihnen.
»Lefkó? Willst du uns nicht einander vorstellen?«
»Natürlich. Njellen, dies ist Wrico. Er ist ein Talminume. Ein menschliches Chamäleon.
Wrico. Dies ist Njellen. Mein Seelenpartner.«
»Wirklich?«, Wrico sah überrascht aus. »Nach unserem letzten Gespräch hätte ich damit nicht gerechnet.«
Lefkó brummte etwas Unmissverständliches, doch Wrico lachte. »Ich verstehe schon. Du konntest einfach nicht ›nein‹ sagen.«
Njellen musste sich dazu zwingen, dass er Wrico nicht die ganze Zeit anstarrte. Deswegen hielt er nach dem Querx Ausschau.
»Gewisse Umstände bringen einen gelegentlich dazu seine Pläne zu ändern.«
Wrico nickte leicht mit dem Kopf. »Was hat er an sich, dass du deine Pläne geändert hast?«
Lefkó wollte grade antworten, da kam der Querx mit ihrem Essen zurück. Er stellte es vor ihnen auf den Tisch und verschwand wieder. Als Njellen ihm verdutzt nachsah, kicherte Wrico. »Es kann mich nicht sehen«, meinte er.
»Generell nicht, oder wolltest du es nicht?«, fragte Njellen.
»An sich eine interessante Frage«, meinte Wrico, »aber in diesem Fall wollte ich es einfach nicht.«
»Aber … ich konnte dich die ganze Zeit sehen«, sagte Njellen langsam.
Wrico zwinkte ihm zu. Während er dies tat, änderte sich seine Augenfarbe von Blassgrau zu Braun und dann zu Graublau. Der Talminume wandte sich wieder Lefkó zu. »Erzähl«, meinte er. »Wie ist es dazu gekommen?«
Lefkó, der gerade ein Stück Fleisch im Maul hatte, sah zu ihm auf. »Ganz einfach. Ich war zu der Zeit, der Einzige, der zur Verfügung stand.«
»Dann ist er«, Wrico warf Njellen einen raschen Blick zu, »ein Halbling?«
Lefkó nickte schweigen. Wricos Augen flackerten wieder zu Njellen herüber. Langsam sagte er: »Er ist ein halber Elf, oder?«
»Hört auf über mich zu reden, als wäre ich nicht anwesend!«, sagte Njellen wütend.
Lefkó und Wrico sahen auf. Beide wirkten ein wenig überrascht.
»Entschuldige«, meinte Lefkó.
»Warum so gereizt?«, fragte Wrico.
Njellen nahm einen großen Schluck vom Gewürzmet und meinte dann: »Immer wenn die Menschen über mich gesprochen haben, so wie ihr es grade getan habt, also als ob ich gar nicht anwesend wäre, dann hatten sie nie etwas Gutes im Sinn. Und als ihr das jetzt gerade getan habt, da kamen diese Erinnerungen und diese Angst wieder in mir hoch.«
»Warum hast du mir das nie gesagt?«, fragte Lefkó.
»Ich wollte nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst, in dem du etwas Unüberlegtes tust und diejenigen angreifst, die mir so etwas angetan haben.«
»Er scheint dich besser zu verstehen, als du es ahnst«, meinte Wrico.
»Du hast also doch etwas bewusst vor mir geheimgehalten«, meinte Lefkó.
»Ich habe es dir nur nie gesagt«, erwiderte Njellen. »Aber die Erinnerungen daran, die habe ich nicht vor dir verborgen.«
»Kling so, als hätten die Wächter wieder ihre Finger im Spiel«, meinte Wrico.
»Vermutlich aus dem Grund, welchen Njellen gerade genannt hat«, sagte Lefkó langsam.
»War es dein Vater, oder eine Mutter?«, fragte Wrico.
»Wie bitte?«, Njellen sah ihn verwirrt an.
»War dein Vater ein Elf, oder deine Mutter?«
»Meine Mutter war eine Elfe«, sagte Njellen. »Mein Vater ein Mensch.«
»Da ihr so weit weg vom Elfenwald seid, gehe ich davon aus, dass du bei deinem Vater aufgewachsen bist.«
»Nein. Bin ich nicht. Er ist verschwunden, als ich sechs, oder sieben Jahre alt war. Meine Mutter und ich, sind aus dem Elfendorf verstoßen worden, da sie sich mit einem Menschen eingelassen hatte. Etwa zwei Sommer sind wir durch die Gegend gezogen. Nirgendwo waren wir willkommen. Selbst als meine Mutter krank wurde, wollte uns niemand helfen. Als ich neun war, ist sie eines Nachmittags eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Ich konnte sie nicht begraben, da ich von einer Horde Wildschweine angegriffen wurde. Ich rettete mich auf einen Baum und musste mit ansehen, wie meine Mutter gefressen wurde. Als die Wildschweine weg waren, habe ich mich alleine auf den Weg gemacht. Von meiner Mutter hatten sie nichts übriggelassen. Selbst die Knochen hatten sie zermalmt. Ich weiß nicht wie lange ich umhergewandert bin. Eines Abends sah ich, am Rande einer Stadt, ein Haus. Ich beobachtete es sehr lange. Als ich sicher war, dass niemand dort war, wollte ich aus der Küche etwas zu Essen stehlen. Dabei wurde ich vom Hausherren erwischt. Doch anstatt mich zu den Wachen zu bringen, hörte er meine Geschichte an und entschloss sich, dass ich bei ihm, seiner Frau und seiner Tochter wohnen durfte. Dies tat ich die letzten fünf Jahre.«
Wrico sah Njellen mit einem traurigen Blick an. »Da hast du ja schon einiges erlebt«, meinte er. »Und was macht ihr jetzt hier?«
»Ich möchte meinen Vater kennenlernen«, sagte Njellen. Lefkó warf ihm einen überraschten Blick zu. »Wir sind auf dem Weg zu den Elfen. Ich hoffe, dass sie mir sagen können, wo ich ihn finde, oder zumindest wer er ist.«
»Da wünsch ich dir Glück«, meinte Wrico, »Elfen können sehr sturköpfig sein.«
»Was willst du damit sagen?«
»Wenn die Elfen eine ihren verstoßen, weil sie sich mit einem Menschen eingelassen hat, dann bezweifele ich, dass sie dir helfen werden eben jenen zu finden.«
»Ich muss es einfach versuchen. Und dich habe Lefkó.«
»Noch ein Grund mehr, dass sie dir nicht helfen«, meinte Wrico. »Denn das bedeutet, dass du mehr Mensch, als Elf bist.«
»Das sehe ich anders«, warf Lefkó ein. »Gerade, weil ich bei ihm bin, werden sie uns nicht direkt wieder hinauswerfen.«
»Warum glaubst du das?«
»Weil er ein Gesandter der Wächter ist«, meinte Njellen.
»Und warum sollte das die Elfen interessieren?«
»Weil sie sehen, dass auch ein Elf von den Wächtern nicht übersehen wird, wenn es nötig ist«, meinte Lefkó.
Wrico lachte auf. »Ihr seid ja naiv. Aber ich wünsche euch, dass ihr recht behaltet.«
»Du meinst, dass wir bei den Elfen Probleme bekommen werden?«
»Nein«, Wrico sah Njellen an. »Ich meine, dass ihr mit den Elfen Probleme bekommen werdet.«
Njellen wollte gerade etwas darauf erwidern, doch Wrico war verschwunden. Verdutzt sah Njellen zu Lefkó, doch dieser meinte: »Er kommt und geht, wie es ihm passt. Nimm es also nicht persönlich.«
»Glaubst du, er hat recht?«
»Ich weiß es nicht«, Lefkó sah nachdenklich drein. »Aber ganz so einfach wird das bestimmt nicht.«
»Wir sollten uns nicht jetzt schon Gedanken darüber machen«, meinte Njellen. »Es wird ja noch etwas dauern, bis wir bei den Elfen sind.«
»Ja. Da hast du recht«, stimmte Lefkó zu. Dann winkte er den Querx heran. »Wir bleiben über Nacht und zahlen alles, wenn wir gehen.«
»Dann folgt mir bitte nach oben«, sagte der Querx und führte sie eine alte Holztreppe hinauf. »Bitte sehr, die Herrschaften«, er stieß die erste Tür auf der linken Seite auf.
»Danke«, meinte Lefkó und betrat, zusammen mit Njellen das Zimmer.
Njellen setzte sich aufs Bett und sah zu Lefkó. »Wie haben du und Wrico, wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Das«, meinte Lefkó und gähnte, »erzähle ich dir ein Andern mal.«