Am nächsten Morgen wurde Njellen von Lefkó geweckt. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen. Am Himmel hingen graue Wolken. Noch etwas verschlafen sah Njellen den Löwen an.
»Komm, steh auf«, Lefkó wirkte nervös. Dauernd sah er sich um. »Mach schon.«
»Was ist los?«, fragte Njellen, während er sich rasch einkleidete.
»Sie mal aus dem Fenster«, meinte der Löwe.
Njellen ging zum Fenster und sah hinaus. »Ich sehe nichts«, sagte er.
»Genau das macht mir Sorgen«, Lefkó sah Njellen an. »Die Stadttore sind bereits offen, aber niemand ist auf den Straßen unterwegs.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht. Aber bestimmt nichts Gutes. Lass uns in den Schankraum gehen vielleicht erfahren wir dort mehr.«
Njellen und Lefkó verließen das Zimmer und stiegen die Treppe hinunter. Der Schankraum war überfüllt mit Menschen und Tieren. Lefkó und Njellen blieben auf der Treppe stehen. An der Tür stand eine Gruppe aus acht Soldaten. Jeder mit Schwert und Schild bewaffnet. Ihre Tiere standen im Kreis um sie herum. Njellen warf Lefkó einen fragenden Blick zu, doch dieser zuckte nur mit dem Kopf. Einer der Soldaten trat vor. Ein grauer Luchs trat neben ihn. Der Soldat wollte gerade etwas sagen, als sein Luchs in anstupste. Der Mann beugte sich zu ihm hinunter und das Tier sprach leise zu ihm. Der Soldat richtete sich wieder auf. Der Luchs gesellte sich wieder zu den anderen.
»Was geht hier eigentlich vor sich?«, rief jemand aus der Menge. »Warum darf niemand auf die Straße?«
»Meine Herrschaften, bitte beruhigt euch. Wir suchen nach einem fünffachen Mörder.«
Nach diesen Worten herrschte kurz Stille. Dann fingen die Menschen an untereinander zu tuscheln. Die Soldaten brauchten einen Moment, um sich wieder Gehör zu verschaffen. Njellen stupste Lefkó an. »Wo sind ihre Tiere?«, fragte er.
»Hinter euch«, sagte eine Stimme. »Verhalltet euch ruhig und macht keine Dummheit.«
Njellen wandte langsam den Kopf. Drei Luchse standen hinter ihnen auf der Treppe.
»Warum sollten wir?«, erwiderte Lefkó ruhig.
»Wie seit ihr da hingekommen?«, wollte Njellen wissen.
Als Antwort sah ihn der Luchs nur mit vorwurfsvollem Blick an. An Lefkó gewannt, meinte er: »Auf welchen Teil meiner Anordnung bezog sich das?«
»Auf den letzten Teil«, sagte Lefkó.
»Gut. Dann kommt mit.«
Die drei Luchse führten sie die Treppe hinauf und den Flur entlang. Sie brachten Njellen und Lefkó in ein leeres Zimmer. Einer der Luchse verschwand und die beiden anderen stellten sich links und rechts neben der Tür auf.
»Darf ich euch etwas fragen?«, fragte Njellen.
Die Luchse sahen ihn mit scharfem Blick an. Einer nickte mit dem Kopf.
»Die Wachen haben von Mord geredet. Habt ihr uns deswegen hier hergebracht? Glaubt ihr wir haben jemanden getötet?«
»Wir haben keine Befugnis darüber zu sprechen«, antworteten die Luchse wie auf Kommando.
»Also warten wir einfach, bis die Wachmänner uns holen?«, meinte Lefkó gelassen und legte sich nieder.
»Ich an eurer Stelle wäre nicht so ruhig«, sagte einer der Luchse.
»Wenn ihr nicht mit uns darüber reden dürft, dann last es doch auch«, meinte Njellen und setze sich neben Lefkó auf den Boden.
Der Luchs starrte ihn an. Es sah so aus, als ob er noch etwas sagen wollte, jedoch schwieg er. Lefkó schien sich einen Spaß daraus zu machen, die beiden immer wieder kurz anzustarren und dann wegzuschauen. Dies tat er so lange, bis dem einem Luchs der Geduldsfaden riss. Er sprang auf Lefkó zu und fauchte: »Höre auf mich immer wieder anzustarren!«
»Das genügt Naondo!«
Der Luchs wandte sich um. In der Tür standen zwei Wachleute. Der Luchs ging langsam auf ihn zu. »Er hat mich provoziert«, sagte der Luchs leise.
»Dich provoziert, Naondo? Wie hat er … Ach. Ich will es nicht wissen. Und nun zu euch beiden«, der Wachmann trat auf sie zu. Njellen und Lefkó erhoben sich langsam. »Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?«
Njellen und Lefkó sahen sich an. Dann meinte Njellen: »Ähm, es könnte hilfreich sein, zu wissen, worum es überhaupt geht.«
»Willst du behaupten, ihr wisst nicht, warum wir euch hergebracht haben?«, sagte der zweite Wachmann.
»Klärt uns doch einfach mal auf«, schlug Lefkó vor.
Naondo warf Lefkó einen bösen Blick zu. »Ihr seit Mörder!«, fauchte er. »Ihr habt drei Menschen und zwei Seelentiere auf dem Gewissen! Und ein Junge und dessen Tier wird noch vermisst!«
Lefkó starrte Naondo an. »Habt ihr dafür irgendeinen Beweis?«, sagte der Löwe mit wütendem Knurren, »Denn wenn nicht, ist das eine Verleumdung, welche, in diesem Teil des Landes, mit dem Tod bestraft wird.«
»Du kennst dich mit unseren Gesetzten aus?«, fragte der zweite Luchs.
»Ja«, antwortete Lefkó knapp.
Naondo trat auf Lefkó zu. »Du wagst es, mir zu drohen?«
»Was hast du für ein Problem?«, erwiderte Lefkó.
»Lass gut sein Naondo!«, sagte der Wachmann.
»Wen sollen wir denn getötet haben?«, fragte Njellen vorsichtig.
Der zweite Wachmann und dessen Luchs kamen etwas näher. »Weiter im Osten gibt es ein kleines Dorf«, sagte der Wachmann, »und ein klein wenig abseits des Dorfes stand ein Haus. Dort lebte ein Mann mit seiner Frau und Tochter. Sie und zwei Seelentiere sind tot. Das Mädchen hatte noch keines. Es lebte noch ein Junge bei ihnen, welche sie adoptiert hatten. Von ihm und seinem Seelentier fehlt jede Spur.«
Njellen sah Lefkó an. Dieser gab ihm gedanklich zu verstehen, dass er nicht sagen sollte, dass er der vermisste Junge ist. Njellen sah wieder zu dem Wachmann. »Und wie kommt ihr darauf, dass wir etwas damit zu tun haben?«, fragte er.
»Es gibt Augenzeugen, welche von einem Jungen berichtet, der mit einem weißen Löwen, am Tattag dort war und dann Richtung Westen verschwunden ist. Und ihr kommt aus östlicher Richtung, oder etwa nicht?«
»Darf ich fragen, was die Augenzeugen gesehen haben?«, fragte Lefkó.
Naondo schien etwas sagen zu wollen, doch der andere Luchs war schneller. »Es wird berichtet, dass das Haus eingestürzt sei und dann hat man euch zwei herauskommen sehen«, sagte der Luchs.
»Wenn das so ist«, meinte Lefkó, »dann brauchen wir ja auch nichts mehr dazu zu sagen.«
Njellen sah Lefkó an. Dieser zwinkerte ihm zu, was von den anderen niemand bemerkte.
»Heißt das, dass ihr gestehen wollt?«, fragte Naondo misstrauisch.
»Nein«, erwiderte Lefkó. »Das heißt nur, das wir nichts mehr dazu sagen werden.«
»Dann werden wir euch nun zum Gefängnis bringen«, sagte der Wachmann. »Ich rate euch, keinen Fluchtversuch zu unternehmen.«
Langsam ging Njellen Richtung Tür. Lefkó ging links neben ihm. Der eine Wachmann und Naondo gingen vor ihnen durch die Tür. Der andere Luchs und der zweite Wachmann hinter ihnen. Als der Wachmann die Tür hinter ihnen schloss, stand Lefkó plötzlich auf Njellens rechter Seite.
»Moment mal«, sagte der Luchs, welcher hinter Njellen und Lefkó ging.
»Was ist los, Meldri?«, fragte der Wachmann.
»Du! Löwe!«
Lefkó wandte sich zu ihm um.
»Standest du nicht grade noch auf seiner anderen Seite?«
»Ja. Und? Dann habe ich halt die Seite gewechselt.«
Meldri starrte ihn misstrauisch an. »Ich behalte dich im Auge«, fauchte er.
»Mach das«, meinte Lefkó und wandte den Blick wieder nach vorne.
»Dann los!«, befahl der Wachmann und führte sie zurück in den Schankraum. Dieser war nun lehr. Nur der Wirt und die Quarxe waren noch anwesend. Für einen Moment glaubte Njellen, er habe Wrico gesehen, welcher an der Bar saß und sie beobachtete. Es ging hinaus aus dem Wirtshaus und die Straße entlang. Kurz bevor sie das westliche Stadttor erreichten, bogen sie nach links in eine kleine Straße ein. Dort befand sich das Gefängnis. Der Wachmann, welcher vor ihnen herging, öffnete die Tür und führte sie hinein. Drinnen war niemand. Der Wachmann öffnete eine der Zellen und Njellen ging hinein. Lefkó wollte ihm folgen, doch der Wachmann meinte: »Du bekommst deine eigene Zelle.«
Njellen wandte sich um. Er wollte etwas sagen, doch Lefkó zwinkerte ihm wieder zu. Dann folgte er dem Wachmann und Naondo in den hinteren Teil des Gefängnisses. Meldri sah Njellen an. »Dem passiert schon nichts«, meinte er.
»Warum sperrt ihr uns nicht zusammen ein?«, fragte Njellen.
»Das dürfen wir nicht«, antwortete der Wachmann. »Damit ihr euch nicht absprechen könnt.«
»Ach so. Und was geschieht nun?«
»Wenn der Hauptmann zurück ist, wird er euch befragen. Das wird irgendwann morgen sein. Solange bleibt ihr hier.«
Njellen nickte nur und setzte sich auf das Bett. Naondo und der andere Wachmann kamen zurück und die vier verließen das Gefängnis. Njellen sah sich um. Er war ganz alleine. Niemand war sonst anwesend. Kein andere Gefangener war zu sehen und auch keine Wachen. Njellen wandte sich wieder um und zuckte erschrocken zusammen, da Lefkó vor ihm stand.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte der Löwe.
»Ja. Aber wie bist du …?«
Lefkó grinste, als er meinte: »In der Zelle sitzt nur ein Abbild von mir.«
»Wie hast du …?«, Njellen sah ihn verwirrt an.
»Als wir das Zimmer verlassen haben, habe ich ein Abbild von mir erzeugt, welches auf deiner anderen Seite aufgetaucht ist. Zur selben Zeit habe ich mich in deine Seele zurückgezogen.«
»Du hast was gemacht?«, fragte Njellen, da er glaubte sich verhört zu haben.
»Normalerweise benutzen Himmelstiere die Abbilder, wenn sie persönliche Angelegenheiten mit den Wächtern zu besprechen haben. So können sie an zwei Orten zu gleichen Zeit sein. Ich habe mich jedoch in deiner Seele aufgehalten, damit ich auch wieder zu dir zurück kann. Erinnerst du dich an dieses stechende Gefühl, als wir am Fluss waren?«, wollte Lefkó wissen.
Njellen nickte langsam. »Ja«, sagt er. »Ich erinnere mich.«
»Ich mochte dir damals noch nicht sagen, was es bedeutet, da ich mir selbst nicht so sicher war. Doch inzwischen weiß ich es. Das war ein Zeichen der Wächter. Himmelstiere können sich in der Seele ihres Partners aufhalten, wenn es nötig wird, dass sie unentdeckt bleiben. Du hast nichts gemerkt, oder?«, fragte Lefkó, welcher plötzlich besorgt drein sah.
»Nein. Habe ich nicht. Aber ich verstehe nicht genau, warum du das alles getan hast.«
»Weil wir hier sicher sind. Die Gefängnisse sind mit einer magischen Barriere umgeben. So kann kein Lebewesen hinein, oder hinaus, wenn sie es nicht dürfen. Selbst Brogern oder die Wächter können diese Barriere nicht durchdringen.«
»Vor wem willst du uns schützen?«, fragte Njellen besorgt.
»Wer glaubst du, war dieser Augenzeuge, der uns belastet hat?«, wollte Lefkó wissen.
»Ich weiß es nicht.«
»Ich auch nicht«, gab Lefkó zu, »aber ich gehe davon aus, dass uns derjenige die ganze Zeit gefolgt ist. Aber warum hat er uns erst in Baram an die Wachen verraten? Warum will er, dass wir hier festsitzen?«
»Es kommt hier keiner ohne Befugnis herein?«
»Ja. Deswegen wollte ich ja, dass sie uns einsperren. Hier können wir in Ruhe nachdenken ohne das uns jemand belauscht.«