Seit zwei Wochen waren Njellen und Lefkó nun unterwegs. Njellen musste darauf vertrauen, dass Lefkó wusste, wo sie lang gehen mussten. Er selber kannte sich hier nicht aus. Alles, was ihm vertraut war, hatten sie bereits hinter sich gelassen. Seit sie aufgebrochen waren, hatte die beiden kaum miteinander geredet. Lefkó blieb neben einem kleinen Bach stehen. »Hier ist ein guter Platz für eine Rast«, meinte er und stieg in den Bach um etwas zu trinken. Njellen stellte den Rucksack ab und setzte sich ins Gras. Lefkó stieg wieder aus dem Bach und legte sich Njellen gegenüber. Dieser kramte in dem Rucksack herum.
»Was beschäftigt dich?«, fragte Lefkó. »Seit wir aufgebrochen sind, sagst du kaum ein Wort.«
Njellen sah zu Lefkó auf. Er wollte etwas sagen, doch er konnte es nicht. Stattdessen rollten ihm Tränen übers Gesicht. Lefkó erhob sich und ließ sich neben Njellen nieder. Dieser vergrub das Gesicht in der Mähne des Löwen.
»Was ist los?«, fragte Lefkó mit ruhiger Stimme.
»Jeder, der länger mit mir zusammen ist, stirbt.«
»Warum sagst du so etwas?«
»Weil es stimmt«, erwiderte Njellen. »Als mein Vater starb, wurden meine Mutter und ich verstoßen. Kurz darauf ist sie dann auch gestorben. Trakner hat mich erwischt, als ich ihn bestehlen wollte. Doch anstatt mich zu melden, hat er mich angehört und bei sich aufgenommen. Und nun ist auch er und seine Familie tot. Ich habe Angst, Lefkó. Angst, dass ich auch dich verliere. Und nun habe ich alles, was ich kannte, alles vertraute hinter mir gelassen. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird. Als ich dich das erste Mal sah, da hatte ich plötzlich so ein Gefühl, als ob mir nun nichts mehr passieren könnte. So ein Gefühl von Sicherheit. Und nun? Nun sitzen wir irgendwo an einem Bach, auf einer Reise ins Unbekannte, von der wir nicht wissen, was uns erwarten wird, wenn wir am Ziel ankommen.«
Lefkó sah Njellen schweigend an. Nach einer Weile meinte er: »Ich würde dich besser verstehen, wenn du deinen Geist nicht vor mir verschließen würdest.«
Njellen sah den Löwen verwirrt an. »Was mache ich?«
»Du verschließt deinen Geist vor mir. Du lässt mich nicht an deinen Gedanken teilhaben.«
»Ich wusste gar nicht, das ich meinen Geist vor dir verschließen kann«, sagte Njellen verwirrt.
Nun sah Lefkó verwirrt drein. »Du machst das nicht absichtlich? Nicht bewusst?«
»Nein«, Njellen schüttelte den Kopf.
»Aber wer, oder was, verschließt deinen Geist vor mir?«
»Kann Brogern …?«
»Unmöglich«, unterbrach Lefkó. »Sobald die Seelen von Mensch und Tier miteinander verschmolzen sind, kann Brogern dem Menschen nichts anhaben, solange sein Seelenpartner ihm vertraut und umgekehrt. Und selbst wenn mal kleine Zweifel da sind, reichen diese nicht aus, um das Band zu zerstören, welches Brogern daran hindert in den Geist des Menschen einzudringen. Und bevor du fragst, er war auch vorher nicht in deinem Geist. Das hätte ich sofort gemerkt und dann hätte ich sofort rausgeschmissen. Und außerdem hält Brogern nicht viel von Kindern. Deswegen dringt er nicht in ihre Köpfe ein.«
»Und die Wächter?«, fragte Njellen. »Könnten die?«
Lefkó dachte einen Moment nach. Dann meinte er: »Theoretisch schon. Aber warum sollten sie das tun? Es sei denn, dass sie einen Teil deiner Vergangenheit verschließen, sodass du dich nicht daran erinnern kannst. Und deswegen kann ich sie nicht einsehen.«
»Aber warum sollten sie das tun?«
»Ich weiß es nicht. Aber eigentlich gibt es dafür nur einen Grund.«
»Und der wäre?«
»Es muss etwas in deiner Vergangenheit geben«, sagte Lefkó, »was entweder unser Vertrauen ineinander schwächen, oder zerstören würde oder es ist etwas, was für dich so schmerzhaft ist, das, sollte Brogern das merken, er es nutzen kann um, entweder dich damit in den Wahnsinn zu treiben, oder es ist etwas, dass dich töten kann.«
Njellen starrte den Löwen an. »Kannst du das verständlich erklären?«, fragte er.
Lefkó nickte. »Also«, meinte er, »Es gibt Erinnerungen, welche so schmerzhaft sind, dass sie einen wahnsinnig machen können.«
»Das habe ich noch verstanden. Aber wie kann er mich mit einer Erinnerung töten?«
Lefkó senkte den Kopf. »Wenn es eine Erinnerung, an eine geliebte Person, oder ein geliebtes Tier ist, welche unter Qualen verstorben ist, dann kann er deinen Geist mit dem Geist des Sterbenden, aus der Erinnerung austauschen und dich somit sterben lassen.«
Njellen saß eine Weile schweigend da. Dann sagte er langsam: »Solange du bei mir bist, kann er mir nichts anhaben, oder?«
»Nein. Kann er nicht. Er kann nicht in den Geist eines Seelentieres eindringen. Und da ich ja in deinen Geist kann, kann er dir also auch nichts anhaben.«
Schweigend saß Njellen da. In Gedanken versunken merkte er gar nicht, dass er mit der Hand durch Lefkós Mähne strich. Erst als dieser zusammenzuckte, merkte Njellen, dass er sich in Lefkós Mähne gekrallt hatte. Rasch ließ Njellen ihn los. »Tut mir leid. Ich …«
Lefkó wandte den Kopf und sah Njellen direkt in die Augen. »Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand etwas antut.«
Njellen nahm den Löwen fest in die Arme. »Das weiß ich doch.«
Der Löwe erhob sich langsam und Njellen ließ ihn los. »Wir sollten langsam aufbrechen.«
Njellen nickte, doch blieb er auf der Wiese sitzen. Erst als Lefkó in anstupste, erhob Njellen sich. Er verschloss den Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Lefkó stand einige Meter entfernt und wartete auf ihn. Njellen schloss zu ihm auf und die beiden machten sich auf durch den Wald. Lefkó schritt mit zügigen Schritten durch den Wald. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, hätte Njellen Schwierigkeiten gehabt ihm zu folgen. Doch er war ja zur Hälfte ein Elf. Also hatte er keine Mühen, mit dem Löwen Schritt zu halten.
»Warum hast du es denn so eilig?«
»Ich möchte heute noch die Stadt, Baram, erreichen.«
»Was ist an der Stadt so besonders?«
»Das Gasthaus soll sehr gut sein«, meinte Lefkó. »Außerdem hoffe ich dort einen alten Freund zu treffen.«
»Warum glaubst du, dass er dort ist?«
»Weil er dort war, als ich zu den Wächtern zurückgekehrt bin.« Lefkó sprach mit gelassener Stimme, doch Njellen merkte, dass die Fröhlichkeit verschwunden war. Um den Löwen auf andere Gedanken zu bringe fragte er: »Wie lange wird es dauern, bis wir den Elfenwald erreichen werden?«
»Schwer zu sagen. Selbst wenn wir den Wald erreichen, müssen wir die Elfen selbst auch noch finden.«
»Selbst wenn wir ihn erreichen? Was willst du damit sagen?«
Lefkó blieb stehen und sah Njellen an. »Es ist ein sehr weiter Weg«, sagte er. »Und nur die Götter wissen, was uns auf unserem Weg alles widerfahren wird. Je weiter wir nach Westen gehen, desto wilder und unbewohnter wird die Gegend werden. Warum sonst glaubst du, dass die Elfen nur dort leben?«
Njellen sah Lefkó an. Er wusste nicht warum, doch plötzlich stieg Wut in ihm auf. Der Löwe sah ihn mit besorgtem Blick an. »Was ist mit dir?«
Njellen fiel auf die Knie und presste die Hände gegen den Kopf. »Aahhrr! Er versucht reinzukommen. Lefkó! Hilf mir!«
Lefkó machte einen Sprung auf Njellen zu und verschwand ihn ihm. Was nun folgte war schwer zu beschreiben. Njellen sagte immer, es habe sich so angefühlt, als ob sein Kopf in drei Lager gespalten war. Eines, in dem seine Gedanken klar sortiert waren. Das Zweite hatte Lefkó übernommen und so konnte Njellen auch seine Gedanken fühlen. Das dritte Lager wurde von Brogern geführt, welcher versuchte alle schlechten und bösen Gedanken in die anderen Lager zu treiben. Njellen schloss die Augen. Der Schmerz in seinem Kopf war so stark. Er konnte nicht mehr klar denken. So viele Gefühle und Gedanken auf einmal. Seine Augen drehten sich nach innen und er fiel der Länge nach auf den Waldboden.
»Njellen! Njellen! Komm zu dir!«
Njellen öffnete langsam die Augen. Der Schmerz in seinem Kopf hatte nachgelassen. Lefkó stand neben ihm und stupste ihn mit seiner Pfote an. Langsam setzte sich Njellen auf. Er rieb sich mit der Hand über die Stirn. Mit verwirrtem Blick sah er den Löwen an. »Er ist weg, oder?«
»Ja, ist er«, Lefkó nickte. »Und so schnell wird er es auch nicht mehr versuchen.«
»Was sollte ihn davon abhalten?«
Lefkó lächelte leicht. »Ich bin sicher, dass er nicht mit einem solchen Widerstand gerechnet hatte. Er hatte seinen eigenen Geist, nicht gegen Eindringlinge verschlossen. Also bin ich in seinen Geist eingedrungen und habe dort … Sagen wir so. Er wird die nächste Zeit damit beschäftigt sein. Seine Erinnerungen zu sortieren.«
Njellen erhob sich langsam. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte er.
»Nicht lange. Wenige Minuten.«
»Was wollte er damit bezwecken?«
»Ich vermute, dass er gehofft hatte, dass er so mich kriegt. Allerdings scheint er nicht damit gerechnet zu haben, dass unser Vertrauen ineinander bereits so stark ist. Und das nach allem, was passiert ist.«
»Warum ist er so hinter dir her? Nur weil du deine Meinung geändert hast?«
Lefkó lachte auf. »Er hat sein Ansehen verloren, als ich mich gegen ihn gewandt habe. Du erinnerst dich? Es war vor einem ganzen Dorf. Ein kleines Mädchen hatte mich, eine seiner Waffen gegen die Menschen, dazu gebracht ihn zu verlassen. Dem Mädchen konnte er nichts anhaben. Jemandem mit so einem reinen Herzen kann er gar nichts. Deswegen ist er hinter mir her und macht mir meine Aufgabe, als Seelenpartner, so schwer wie möglich. Jedoch hat er meistens keine Angriffsfläche. Da die Wächter dies ja wissen, hatte ich meistens Menschen, die, ich sage mal, eine normale Kindheit hatten. Jedoch gab es auch immer wieder Halbmenschen und solche, die es sehr schwer hatten. Bei diesen Menschen musste ich immer auf der Hut sein. Musste aufpassen, was sie über mich wissen durften, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Bei meinem letzten Partner war ich unvorsichtig. Und da er von sich aus, schon etwas schwierig war, hatte Brogern fast erfolg mich zu töten. Du weißt ja, dass ich meinen Vertrag bei den Wächtern erfüllt hatte, bevor sich zu dir gekommen bin. Ich wollte eigentlich niemanden mehr in Gefahr bringen. Doch du, als Halbling, hättest mehr Schwierigkeiten ohne mich.«
Njellen stand inzwischen wieder auf den Beinen. »Du sagtest, bei den Menschen musstest du aufpassen, was sie über dich wissen. Das hört sich so an, als ob es bei Halblingen nicht so währe.«
Lefkó fuhr sich mit der Tatze über die Schnauze. »Menschen sind leichter zu Manipulieren. Uns, als Seelentiere, ist so etwas natürlich untersagt. Doch Brogern könnte sie mit falschen Versprechen beeinflussen eine Dummheit zu begehen. Deswegen muss jedes Seelentier darauf achten, dass es bestimmte Informationen über sich nicht verrät.«
»Und bei Halblingen?«, fragte Njellen.
»Traurigerweise, sind sie selbst darauf aus, möglich wenig von sich preiszugeben, um nicht angreifbar zu sein. Deswegen dachte ich ja auch, dass du etwas vor mir verbergen wolltest. Aber nach dem was ich jetzt weiß, hast du vor mir nie etwas verborgen und das könnte der Grund dafür sein, das Brogern versucht hat in deinen Kopf einzudringen.«
»Das verstehe ich jetzt nicht. Weil ich ehrlich zu dir war, versucht er mich zu Manipulieren?«
»Ich kann es dir leider auch nicht genau erklären«, sagte Lefkó. »Ich weiß nur, das Brogern jemand ist, mit dem man sich besser nicht anlegt.«
»Das hat bei dir ja gut funktioniert«, meinte Njellen mit einem Grinsen.
»Ich habe mich nie mit ihm angelegt«, erwiderte der Löwe. »Ich habe mich nur von ihm abgewandt.«
»Wenn du es sagst«, meinte der Halbelf. »Aber ich denke, wir sollten weitergehen, oder?«
»Ja sollten wir. Es ist noch ein gutes Stück. Und die Sonne geht bereits unter.«
Njellen schulterte den Rucksack und die beiden machten sich wieder auf den Weg.