Maxis Lider flatterten, als er sich aus der steifen Haltung befreite und die Vögel aus dem Garten ihr Lied trällern hörte. Jelly war nicht mehr auf seinem Schoß und Lisa nicht mehr neben ihm. Maxi streckte sich. Seine Gelenke knackten und er rieb sich gähnend den Nacken.
„Guten Morgen!“, hörte er Lisa auf sich zukommen. Ihre Stimme klang fröhlicher, wenn auch nicht ganz munter. Er nickte ihr zu, gähnte nochmal einmal kurz. Die Turmuhr weit entfernt läutete die zehnte Stunde ein.
„Es ist morgens und du bist freundlich. Was stimmt nicht mit dir?“, Maxi konnte sich diesen Kommentar nicht verkneifen. Ihre Worte vergangener Nacht hingen ihn im Gedächtnis. Auch der Albtraum ging ihm nicht aus dem Kopf. Er verfolgte ihn, doch er unterdrückte den Drang, einfach wegzurennen und sich zu verziehen. Maxi spürte die frische Luft durch die offene Terassentür. Deswegen hatte er auch die Kirchenglocken läuten hören.
„Kaffee?“, fragte Lisa stattdessen. Er runzelte die Stirn, nickte ein weiteres Mal und nahm dankend die Tasse an. Erstaunt hob er die Augenbrauen.
„Du hast Vanillesirup rein?“, fragte er, als er sich die Süße von den Lippen leckte. Er liebte diesen deutlichen Geschmack der Schote in seinem Kaffee.
„Ich war einkaufen.“, meinte sie nur und bot ihm den Stuhl neben sich an. Er setzte sich und trank von der Tasse. Genüsslich nahm er den Duft von Vanille und Kaffee in sich auf.
„Du bist früh aufgestanden und warst produktiv?“, irgendwas stimmte ganz und gar nicht. Maxi musste tatsächlich auflachen. „Und du hast dich an meine Lieblingskaffeemischung erinnert?“
Seine Schwester machte keine Anstalten, seine humorvolle Anmerkung zu erwidern. Sie seufzte.
„Ich braucht Ablenkung.“, kommentierte sie nur.
„Hast du deinen Anruf erhalten?“, fragte er nach einigen Schweigeminuten. Seine Schwester schien zu ruhig. Es war etwas passiert, dass nichts mit Luna zu tun hatte. Ansonsten hätte sie es ihm bereits mitgeteilt.
„Ja.“, sagte sie nur und seufzte wieder. Maxi stellte die leere Tasse ab.
„Ich glaube, wir beide brauchen eine Ablenkung!“, beschloss er. Maxi stand auf, richtete sich im Bad und wartete auf seine Schwester am Küchentisch. Nach geschlagenen zehn unruhigen Minuten zog er seine Schwester einfach aus dem Badezimmer und mit Protest vor die Haustür. Noch beim Einsteigen in ihren Wagen nannte er ihr das Ziel.
„Wieso fragst du nicht einfach, was mit mir los ist?“, fragte sie.
„Du wirst es mir früher oder später schon sagen.“, meinte er. Er mochte es selbst nicht, bedrängt zu werden.
Nach einer halbstündigen Fahrt kam das Auto zum Stehen. Maxi schlug direkt nach Öffnen der Wagentür ein kalter Wind entgegen, doch er zitterte nicht. Die Gerüche von Frische und Natur wehten ihm um die Nase. Er nahm einen tiefen Atemzug und genoss die augenblickliche Stille. Wie auf Kommando stellte er sich den See vor, dessen Wasser in der herbstlichen Sonne glitzerte. Die Bäume, die am Rand des Sees in prächtiger Größe wuchsen, und die rötlichen Farben der sich im Wind drehen Blätter erstaunten ihn. Das Rascheln der Natur sorgte für eine angenehme Ruhe.
Maxi bekam große Augen, als er einen Fisch aus dem Wasser springen sah. Der Fisch schaute ihn an, doch Maxi konnte nicht weg. Wie schockgefroren starrte er das Tier an, das augenblicklich wieder im Wasser verschwand.
„Alles okay?“, fragte Lisa, als sie auf ihn zuging und ihn am Arm packte. Da Maxi sich nur spärlich auskannte, war er auf die Orientierung seiner Schwester angewiesen. Lisa führte ihn an eine naheliegende Sitzbank. Er selbst konzentrierte sich auf die Schritte Lisas, damit er nicht wieder zum Wasser sehen musste. Er wirkte etwas desorientiert, doch seine Schwester würde dies mit der Blindheit in Verbindung bringen. Beide setzten sich.
„Ich bewundere dich.“, flüsterte Lisa nach einer Weile. Maxis Gedanken um den Fisch und alles Weitere drangen sofort in den Hintergrund. Das kam jetzt unerwartet.
„Wieso das denn?“, fraget er ungläubig.
„Naja, du bist so stark. Mental stark, meine ich. Der Unfall, deine Blindheit, jetzt Luna. Ich habe das Gefühl, ich würde innerlich zerreißen und augenblicklich zerfallen, wenn ich mich mit dir vergleiche. Du hast richtige Probleme und ich...“, den Rest lies sie unausgesprochen. Maxi gab ihr die Zeit, als er den weinerlichen Ton hörte.
„Und ich mache immer Fehler.“, beendete sie den satz.
Maxi wusste nicht wirklich eine direkte Antwort.
„Weißt du eigentlich, was mir immer hilft?“, fragte er sie. Sie schien den Kopf zu schütteln, doch das konnte Maxi nur vermuten. Er sprach einfach weiter, als Lisa nichts mehr sagte.
„Ich denke immer an etwas, dass ich als Sehender spannend fand. Wie hier, den See, an dem wir immer Baden waren. Weißt du noch, als du mich hier ständig unter Wasser gedrückt hast, obwohl ich nicht schwimmen konnte?“ Er lachte auf. „Ich stelle mir vor, wie ich hinabtauche und die Unterwasserwelt erlebe. Mit ihren Korallen und Fischen und anderen Lebewesen.“ Bei dem Wort Fisch zögerte er kurz, doch ließ er sich nichts anmerken. Was hatte das Tier gemeint, als es sagte, er würde den Preis zahlen müssen?
„Und mit deiner Fantasie rettest du dich aus der Realität? Ist das nicht Flüchten vor Problemen?“, fragte Lisa direkt. Ihre Frage schien ihn zu beschäftigen. Recht hatte sie, doch ihre Anmerkung war noch nicht beendet.
„Und gleichzeitig hilft es dir, mit Problemen klar zu kommen. Wahnsinn. Ein innerer Rückzugsort, an den du immer hingehen kannst!“, sie bewunderte ihn und strich ihm über den Kopf. Maxi zuckte nicht zurück. Nicht diesmal.
„Maxi, du bist einfach klasse!“, lachte Lisa. Es schien ihr besser zu gehen.
„Danke.“, sagte sie noch leise. Er grinste frech.
„Ich bin ja auch der beste Bruder!“, antwortete er aalglatt.